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# taz.de -- Buch über Judentum: Eine Wunde, die nicht heilt
> Der deutsch-israelische Soziologe Natan Sznaider untersucht die Spannung
> zwischen religiöser und säkularer Identität im Judentum und im Staat
> Israel.
Bild: Der von Hamas-Mördern zerstörte Zaun zwischen Gaza und Israel: Natan Sz…
Auf dem Cover einer Sonderausgabe von Spiegel Geschichte“ waren vor einigen
Jahren zwei ältere Herren zu sehen. In ein Gespräch vertieft, sitzen die
beiden vor einem Hauseingang. Sie tragen schwarze, abgewetzte Kleidung,
Hüte und lange Bärte.
Aufgenommen wurde das Foto 1929 im Berliner Scheunenviertel, wo sich um die
Jahrhundertwende viele osteuropäische Juden auf der Flucht aus Litauen,
Polen und der Ukraine niedergelassen hatten. Thema des Spiegel-Heftes waren
„jüdische Lebenswelten in Deutschland“ – eine, so der Untertitel,
„unbekannte Welt von Nebenan“.
[1][Natan Sznaider] hat das umstrittene Spiegel-Cover als visuellen
Ausgangspunkt für sein neues Buch gewählt. Mit „Die jüdische Wunde“ füh…
der Soziologe thematisch und konzeptuell sein Buch „Fluchtpunkte der
Erinnerung“ (2022) weiter. Ging es darin um die Frage, wie sich Holocaust
und Kolonialismus analysieren lassen, ohne die verschiedenen partikularen
Gewalterfahrungen zu relativieren, legt Sznaider seinen Fokus nun auf
partikulare jüdische Lebenswelten im Ringen um Anpassung an die
Mehrheitsgesellschaften und dem Streben nach Autonomie.
Sznaider schreibt aus einer jüdisch-israelischen Perspektive, die den
Zionismus als nationale Befreiungsbewegung begreift, die jüdische
Lebenswelten nicht nur radikal transformiert hat, sondern diese unter dem
Vorzeichen der politischen Souveränität fortsetzt. Mit seinem Buch richtet
sich der Soziologe dezidiert an ein nichtjüdisches Publikum. Ihm geht es
darum, die Komplexität jüdischer Partikularitäten aufzuzeigen, gerade auch
um die Leerstellen in den hiesigen Debatten sichtbarer zu machen.
## Emanzipation und Assimilation
„Die jüdische Wunde“ beginnt mit den öffentlichen Debatten zur jüdischen
Emanzipation und Assimilation im Deutschland ab Ende des 18. Jahrhunderts.
Analysiert werden unter anderem Gotthold Ephraim Lessings Drama „Nathan der
Weise“ (1779) oder Hannah Arendts Auseinandersetzung mit dem Leben der
Schriftsellerin und Salonnière Rahel Varnhagen (1771–1833).
Schon damals ging es laut Sznaider um den komplexen Widerstreit zwischen
Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit; zwischen jüdischer agency und der
Diskriminierung durch Andere; sowie um den Widerstreit zwischen
partikularen Erfahrungen als Gruppe und den Versprechungen und Verlockungen
des Universalismus.
In seinem neuen Buch richtet sich Sznaider noch deutlicher gegen die
Ignoranz und das laute Schweigen auch in progressiven, vermeintlich
weltoffenen Milieus. „Fluchtpunkte der Erinnerung“ war kurz vor dem
Documenta-15-Skandal erschienen und wurde zu einem viel beachteten
Debattenbeitrag. Über einen wissenssoziologischen Blickwinkel versuchte
Sznaider darin, sich in die Perspektive der anderen hineinzuversetzen und
über diesen Weg auch die trennenden Unterschiede der Gewaltgeschichten
hervorzuheben.
Begonnen zum Auftakt der Bürger:innen-Proteste gegen die antiliberale
Justizreform und fertiggestellt kurz [2][nach dem 7. Oktober], wurde „Die
jüdische Wunde“ in einer gänzlich anderen Zeit verfasst. An vielen Stellen
thematisiert – und reflektiert – der Essay die existenzielle
Verunsicherung, die der Terrorangriff der Hamas bei Juden und Israelis
ausgelöst hat; Sznaider insistiert, dass eine ambiguitätstolerante
Erzählung der jüdischen Wunde sich der traumatischen und tragischen
Vergangenheiten mitsamt ihrer Unversöhnlichkeit stets bewusst sein muss.
Zu dieser Unversöhnlichkeit könnte man auch Sznaiders Polemik gegen
antiisraelische Agitprop-Exponate und kuratorisches Scheitern auf der
Documenta 15 zählen. Insgesamt fällt auf, wie sehr seinem Essay eine
hoffnungsvolle Zukunftsperspektive fehlt. Es wird deutlich, dass „Die
jüdische Wunde“ in einer neuen, aufwühlenden Zeit enstanden ist, in der
bestehende Hoffnungen und Gewissheiten schmerzvoll in Frage gestellt
wurden.
17 Sep 2024
## LINKS
[1] /Soziologe-ueber-Israels-neue-Regierung/!5915492
[2] /Nach-dem-Massaker-in-Israel/!5963661
## AUTOREN
Till Schmidt
## TAGS
Israel
Juden
europäische Juden
Emanzipation
Judenverfolgung
Social-Auswahl
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
Partisanen
Gaza
Israel
Antisemitismus
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