# taz.de -- Essay über die Linke und die Shoah: Neue Verdammte gesucht | |
> Alain Finkielkraut untersuchte vor 40 Jahren, warum die antitotalitäre | |
> Linke die Shoah relativierte. Heute liest sich sein Essay bestürzend | |
> aktuell. | |
Bild: Hat die Linke systematische Probleme mit dem schwierigen Eingedenken an d… | |
Im Dezember 1980 löste die Veröffentlichung eines Buchs des bis dato kaum | |
über seinen Fachbereich hinaus bekannten Literaturwissenschaftlers Robert | |
Faurisson eine anhaltende Kontroverse in der französischen Öffentlichkeit | |
aus. Denn in seiner „Verteidigungsschrift gegen diejenigen, die mich der | |
Geschichtsfälschung beschuldigen“ stellte Faurisson mit einigem Getöse die | |
Behauptung auf, die Gaskammern von Auschwitz seien eine Erfindung der Juden | |
gewesen, deren Vernichtung Adolf Hitler zudem niemals beabsichtigt habe. | |
Doch es war nicht allein die ebenso zynische wie plumpe Leugnung der | |
Vernichtung des europäischen Judentums, die Aufsehen erregte. Irritierend | |
war noch etwas anderes. So war das Buch mit La Vieille Taupe nicht nur in | |
einem Verlag erschienen, dessen Gründer dem unorthodoxen Marxismus der | |
1960er Jahre nahegestanden hatten. | |
Auch ein als Vorwort beigefügter Aufsatz über Meinungsfreiheit, der die | |
Publikation implizit rechtfertigte, stand weit weniger in der Tradition der | |
Nouvelle Droite als vielmehr von dessen vorgeblichen Antipoden. | |
Genaugenommen war sein Verfasser einer der wohl einflussreichsten | |
internationalen Intellektuellen der damaligen Linken: [1][Noam Chomsky.] | |
Diese Konstellation nahm der französische Philosoph [2][Alain Finkielkraut] | |
zum Anlass, um im Rahmen eines längeren Essays über die schrittweise | |
„Auslöschung“ von historischem Bewusstsein nachzudenken. Im Zentrum seines | |
1982 veröffentlichten Texts stand allerdings nicht Faurisson, dessen | |
Geschichtsrevisionismus ebenso offensichtlich wie haltlos war. Was | |
Finkielkraut weit mehr interessierte, war ein allgemeineres Zerbrechen des | |
Erkenntnisvermögens, das er „hinter dem Schwachsinn des Einzelfalls“ | |
ausmachte. | |
Und zu seiner Bestürzung schien die Wahrnehmung des Holocaust gerade dort | |
zu erodieren, wo man sich wie Chomsky auf der Seite von Aufklärung und | |
Fortschritt wähnte, nämlich der politischen Linken. | |
## Zugespitzte Form des Klassenkampfs | |
Die Gründe dafür erkannte Finkielkraut in einem spezifischen, mit den | |
geistesgeschichtlichen Traditionslinien der Linken verbundenen Ressentiment | |
gegen die Juden. Dessen kontinuierliche Transformationen skizziert der | |
Essay in einer [3][weiten historischen Ausholbewegung] von der | |
Dreyfus-Affäre am Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Dekaden der | |
Nachkriegszeit. Dabei führt Finkielkraut aus, dass bereits im universellen | |
Anspruch des nach Marx und Engels entwickelten Historischen Marxismus der | |
Blick auf jüdische Partikularität verstellt blieb. | |
Im dualistischen Schema des Klassenkampfs galten neben dem Antisemitismus | |
auch die Juden selbst als Ausdruck historischer Ungleichzeitigkeit, der | |
sich mit der Revolution zwangsläufig aufzulösen hat. Doch anstelle der | |
Revolution mündete der Gang der Geschichte in den Zweiten Weltkrieg und den | |
Holocaust, der jeden Fortschrittsoptimismus dementierte. | |
Um dennoch an der traditionsmarxistischen Deutung der Geschichte festhalten | |
und zugleich den Nationalsozialismus als lediglich zugespitzte Form eines | |
kapitalistischen Regimes im Sinne des Klassenkampfs deuten zu können, | |
mussten die mit der Chiffre Auschwitz verbundenen Ereignisse zwangsläufig | |
relativiert werden. | |
In ihrer verdichteten Schärfe ist Finkielkrauts historische Herleitung | |
durchaus erhellend. Weit beeindruckender ist hingegen sein Blick auf die | |
Umbrüche der damaligen Gegenwart. Vier Jahre bevor sich auch in Deutschland | |
mit dem sogenannten Historikerstreit die Rede von der Singularität des | |
Holocaust verbreiten sollte, charakterisierte Finkielkraut die Ermordung | |
der europäischen Juden bereits als in der Geschichte „beispielloses | |
Verbrechen“. Zugleich erkannte er, dass diese Wahrnehmung, noch bevor sie | |
überhaupt in Gänze durchgedrungen war, sich schon längst wieder in der | |
Auflösung befand, stand doch die gesamte Epoche vor einer – wie er schreibt | |
– Zeitenwende. | |
## Das Eingedenken ist komplex | |
Unter dem Eindruck postmoderner Theorie war ab den 1970er Jahren eine | |
antitotalitäre Linke entstanden, die die Spezifik des Holocaust nicht | |
länger im Sinne der Metaphysik des Klassenkampfs ignorierte, sondern dessen | |
Differenz zu anderen Verbrechen im Namen der Äquivalenz einebnete. In den | |
Augen dieser Linken hatten die Juden zwar lange Zeit das größtmögliche | |
Opfer symbolisiert. Doch mit der Gründung eines wehrhaften Israels hätten | |
sich die vormals Gepeinigten nun selbst in Peiniger verwandelt. Weshalb es | |
an der Zeit sei, dass nun „neue Verdammte an ihre Stelle“ träten. | |
Fast so, als habe er die weitere Zuspitzung bis hin zu Dirk Moses’ | |
unsäglichem Katechismus der Deutschen bereits vorweggenommen, | |
diagnostizierte Finkielkraut, dass sich jene linken Revisionisten bereits | |
damals als „Märtyrer der Aufklärung“ und Ikonoklasten eines von ihnen | |
selbst zur Religion erklärten Gedenkens an den Holocaust verstanden. Ihnen, | |
die „mit einer Vulgarität, die wehtut, von Priestern des Holocaust“ | |
sprächen, hielt er entgegen, dass das Eingedenken in dessen Eigenheiten | |
weitaus komplexer sei als jede Karikatur. | |
Übersetzt von Christoph Hesse und von Niklaas Machunsky mit einem Nachwort | |
versehen, ist Finkielkrauts Essay nun unter dem Titel „Revisionismus von | |
links“ im Freiburger ça ira Verlag erstmals auf Deutsch erschienen. Über | |
vierzig Jahre nach der ursprünglichen Veröffentlichung ist die von | |
Finkielkraut beschriebene „Zukunft einer Negation“, so der weit treffendere | |
Originaltitel, längst zur Gegenwart geworden. | |
Dass sich der Text noch immer liest wie ein Kommentar zur Zeit, ist nicht | |
nur Ausweis der bemerkenswerten Hellsicht seines Autors, sondern kommt | |
insbesondere nach den Ereignissen des 7. Oktober 2023 auch einem | |
Offenbarungseid für letzte Überreste der Linken gleich. | |
1 Dec 2024 | |
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## AUTOREN | |
Lukas Böckmann | |
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