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# taz.de -- Unbeliebte US-Vizepräsidentin: Politische Kosmetik
> Die Vizepräsidentschaft von Kamala Harris in den USA ist kein
> Fortschritt. Aber sie könnte helfen, Illusionen über Identitätspolitik zu
> zerstreuen.
Bild: Kamala Harris ist die unbeliebteste US-Vizepräsidentin der Geschichte
US-Vizepräsidentin Kamala Harris kann sich wirklich nicht über schlechte
Presse beklagen. Das renommierte Time-Magazin und die international
bekannteste Modezeitschrift [1][Vogue] widmeten Harris Sonderausgaben, kaum
dass sie überhaupt das Amt angetreten hatte. Mit messianischem Pathos
zelebrierten etliche Leitmedien von The New York Times bis zur deutschen
[2][Zeit sie monatelang in großen Lettern als „die Hoffnung“]. Als erste
Frau und erste nicht-weiße Vizepräsidentin soll die [3][„Top-Polizistin“],
wie sie sich selbst nennt, den historischen Fortschritt zu immer größerer
Gleichberechtigung repräsentieren. Doch inzwischen ist sie, glaubt man den
Umfragen, die unbeliebteste Vizepräsidentin, die Amerika je hatte.
Die Demokraten erklären das reflexartig mit Rassismus. Dabei wird
unterschlagen, dass Harris (bei gerade mal 27 Prozent Zustimmung) auch das
eigene demokratische Lager enttäuscht. Knapp 60 Jahre nach der rechtlichen
Gleichstellung der Schwarzen Bevölkerung lässt wirklicher Fortschritt auf
sich warten. Nach wie vor sind Schwarze überproportional arm und ringen
deshalb beispielsweise häufiger mit Suchtproblemen und sterben öfter an
Corona als andere Bevölkerungsgruppen. Während der Pandemie fiel die
Lebenserwartung unter der Demografie so stark wie zuletzt in den 1930er
Jahren, der Zeit der Großen Depression nach der Weltwirtschaftskrise von
1929.
Die Biden-Regierung thematisiert solche Realitäten nicht einmal. Schon
Obama trat in zwei Präsidentschaftswahlen mit dem Slogan „Hoffnung“ an,
lächelte fleißig und veränderte nichts. Black Lives Matter (BLM) begann
2013 als Frustration über seine Politik. Nach fünf Jahren Obama wurde
vielen aus der Unter- und Mittelschicht klar, dass sich ihre Lebensrealität
eher noch verschlechtert. Dieselben Wähler, die 2008 und 2012 noch für den
von Obama versprochenen „Change“ stimmten, wendeten sich so 2016 zum Teil
Trump zu. Diese sogenannten [4][„Obama-Trump-Wähler“], die einer Analyse
der New York Times zufolge am Ende das Zünglein an der Waage ausgemacht
haben, entschieden die Wahl für Trump. Dazu gehören auch Schwarze, unter
denen Trump mit einer Ausnahme (Dole 1996) mehr Stimmen als seine
republikanischen Vorgänger seit 1980 holte.
Harris repräsentiert die Identitätspolitik der Biden-Regierung, die außer
mehr Minderheiten in Führungspositionen und symbolischen Gesten gegen
Rassismus nichts zu bieten hat. Sie wird nicht wegen ihrer Identität
verachtet, sondern weil sie diese instrumentalisiert und vorgibt, für jene
benachteiligten „Communities“ zu sprechen, deren Belange sie in
Wirklichkeit immer wieder missachtet hat. Deshalb ist Harris noch
unbeliebter als Biden, der zumindest als weniger heuchlerisch wahrgenommen
wird.
Ein kleiner Auszug aus ihrem Lebenslauf hilft das zu verstehen: Als
Generalstaatsanwältin von Kalifornien versuchte Harris ein Urteil des
Obersten Gerichtshofs abzuwehren, das die frühzeitige Freilassung von
40.000 – überwiegend Schwarzen – Gefängnisinsassen wegen „grausamer und
ungewöhnlich harter Haftbedingungen“ einforderte. 2012 hielt sie
wissentliche Beweise zurück, die einen unschuldigen Mann aus dem Todestrakt
befreit hätten (bis ein Gericht sie dazu zwang), und 2015 klagte sie
erfolgreich die Wiedereinführung der Todesstrafe in Kalifornien ein. Wer
Harris kennt, traute weder ihrer progressiven Selbstinszenierung im
Wahlkampf 2020 noch ihrem Versprechen, sich für die Rechte von Immigranten
und die Reform des Justizsystems einzusetzen – ganz zu schweigen von ihrer
ebenso dreisten wie kurzlebigen Begeisterung für den Slogan der
[5][BLM-Proteste] 2020 „Defund the Police“. Wenig überraschend hat die
insgesamt unbeliebte Biden-Regierung nach dem Sieg das genaue Gegenteil all
jener Reformvorhaben forciert: Das Budget der Polizei wurde erhöht. In
Richtung der Immigranten verkündete Harris „Kommt nicht … wir werden euch
abschieben“, während die von den Demokraten unter Trump noch lautstark
skandalisierten Kinder-Abschiebekäfige weiter betrieben werden.
Rassismus erklärt nicht alle Probleme von Minderheiten in den USA, wie
Harris und die Demokraten glauben machen wollen. Der Schwarze [6][Sozialist
Bayard Rustin] verwies schon in den 1960er Jahren darauf, dass Schwarze
nicht an schlechten Ansichten, sondern schlechten sozialen Bedingungen
leiden. Rustin war einer der Hauptorganisator hinter dem Marsch auf
Washington 1963, auf dem sein enger Weggefährte Martin Luther King seine
berühmte Rede „I have a dream“ hielt. Für Rustin war der in den 1970er
Jahren neu aufkommende „Antirassismus“ eine Abwendung von Politik
insgesamt.
Der Marsch auf Washington damals forderte „Jobs und Freiheit“, stellte
konkrete Forderungen und war in eine größere strategische Ausrichtung der
sozialistischen Linken eingebettet, die in den 1960er Jahren den –
letztendlich gescheiterten – Versuch machte, die Bürgerrechtsbewegung und
die Arbeiterbewegung in den USA im Rahmen des Aufbaus einer dritten,
Sozialistischen Partei zusammenzuführen. Die antirassistische
Identitätspolitik, ohne Forderungen und ohne Strategie, trat an die Stelle
dieses Versuchs. Obwohl sie das Erbe der Bürgerrechtsbewegung Mitte des
letzten Jahrhunderts zu Werbezwecken immer wieder bemüht, steht sie
keineswegs in deren Tradition. Die identitätspolitische Performance von
Politik ist – wie der Schwarze Sozialtheoretiker [7][Adolph Reed Junior]
bemerkte – genauso ineffektiv wie Mahnwachen für den Weltfrieden. Das macht
sie vollends kompatibel mit der auf Big Business fokussierte Agenda der
Demokraten.
Mit Kamala Harris erreicht das identitätspolitische Fortschrittsversprechen
jedoch ein Limit. Die Unzufriedenheit mit ihr im Besonderen und der
Biden-Regierung insgesamt drückt das Verlangen nach einer neuen Form von
Politik aus, die soziale Verhältnisse direkt in den Blick nimmt.
28 Mar 2022
## LINKS
[1] https://www.vogue.de/lifestyle/artikel/kamala-harris-vogue-cover-us-vizepra…
[2] https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-08/kamala-harris-usa-demokraten-pa…
[3] https://www.distractify.com/p/was-kamala-harris-a-cop
[4] https://www.nytimes.com/2017/08/15/upshot/the-obama-trump-voters-are-real-h…
[5] /Black-Lives-Matter-Demo-in-Frankreich/!5692487
[6] https://platypus1917.org/2020/11/01/bayard-rustin-black-liberation-and-soci…
[7] https://platypus1917.org/2015/08/30/political-party-left-3/
## AUTOREN
Jan Schroeder
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Kamala Harris
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Antisemitismus
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