| # taz.de -- Forscherin über Enzyklopädie des Glücks: „Menschen streben nic… | |
| > Hilke Brockmanns „Encyclopedia of Happiness“ beleuchtet die Wirkung des | |
| > Eisbadens auf mentale Krisenfestigkeit. Auch Ehrenamt macht glücklich. | |
| Bild: Stärkt die Resililenz: Eisbaden, hier in einem finnischen Fluss | |
| taz: Frau Brockmann, haben sich Art und Intensität des Glücksstrebens im | |
| Lauf der Geschichte verändert? | |
| Hilke Brockmann: Die Intensität – die Suche nach förderlichen Umgebungen | |
| und Situationen – ist ein universeller Antrieb des Menschen. Die Art | |
| verändert sich aber, weil sich die Umgebung verändert, auf die wir | |
| reagieren. | |
| taz: Ist das Glücksstreben Einzelner Ursache oder Lösung von Krisen? | |
| Brockmann: Sowohl als auch. Einerseits ist Depression eine Reaktion auf | |
| äußere Umstände, die nicht förderlich sind. Andererseits ist Glücksstreben | |
| ein Antrieb, uns aus dieser Misere herauszukatapultieren. Der Glücks- bzw. | |
| [1][Wohlbefindensforschung] wird oft vorgeworfen, dass sie nur das Positive | |
| erforscht. Dabei untersuchten wir natürlich auch das Unglück. Denn Krieg, | |
| Klimawandel und die Polykrisen sind oft die Motivation, eine Situation zu | |
| verändern. | |
| taz: Existiert eigentlich eine allgemeingültige Definition von Glück? | |
| Brockmann: Nach jahrtausendelanger Forschung geht man heute davon aus, dass | |
| [2][Glück] ein Bewertungsmechanismus ist, den jedes bewegliche Wesen | |
| vornimmt. Das können Beurteilungen der Umgebung sein, aber auch | |
| Erinnerungen oder Vorstellungen. Dabei verändert sich unsere Umwelt | |
| ständig, sodass wir das Level, ab dem wir glücklich beziehungsweise | |
| zufrieden sind, ständig neu ausrichten müssen. | |
| taz: Aber hat Glück nicht auch eine emotionale Komponente? | |
| Brockmann: Doch, in Form des schnellen Feedbacks – etwa bei der Zuführung | |
| von Zucker oder Fetten. Das gibt erst mal einen Kick und großes | |
| Glücksempfinden. Aber zwischen der emotionalen und der kognitiven | |
| Beurteilung besteht kein grundlegender Unterschied. Vielmehr ist es ein | |
| Prozess im Gehirn, der sich auf andere Bereiche auswirkt. Wir kontrollieren | |
| zum Beispiel bestimmte Emotionen wie den Drang nach Schokolade erfolgreich. | |
| Auch andere Kulturtechniken zielen darauf, Impulsen zu widerstehen, um | |
| langfristige Ziele zu erreichen. | |
| taz: Ist es wirklich dasselbe, ob ich auf Schokolade reagiere oder einen | |
| Friedensschluss? | |
| Brockmann: Ja. Allerdings ziehe ich jeweils andere Informationen heran. Bei | |
| einem Krieg, der mich nicht unmittelbar betrifft, muss ich mir erst mal | |
| vergegenwärtigen, wie andere Menschen leiden. Für diesen kognitiven Vorgang | |
| nutze ich andere Hirnareale, als wenn ich über die Frustration nachdenke, | |
| keine Schokolade zu essen. Trotzdem sind beide Bereiche im Gehirn vernetzt. | |
| Denn auch mein Mitgefühl für Kriegsopfer löst – auf einer anderen Ebene – | |
| Trauer und Unglück aus. Wobei ich ja nur als Soziologin sprechen kann. | |
| taz: Was sagen die Neurologen? | |
| Brockmann: Sie haben die Prozesse im Gehirn noch nicht ganz ergründet. Im | |
| MRT sehen sie zwar Stoffwechselprozesse. Aber es ist unklar, warum | |
| bestimmte Regionen angesprochen werden, andere nicht. Teile der | |
| Großhirnrinde sind älter als der [3][präfrontale Cortex]. Mit Letzterem | |
| haben wir Gedächtniskapazität dazugewonnen, was uns erlaubt, abstrakt zu | |
| denken. Andere, evolutionär ältere Bereiche des Gehirns teilen wir mit | |
| Lebewesen, die es schon vor uns gab. Dort finden Emotionen reflexhaft statt | |
| – wie das Zurückziehen der Hand von der Herdplatte. Aber in beiden | |
| Hirnarealen findet eine Positiv-Negativ-Entscheidung statt. Diesen | |
| Mechanismus nutzt die Glücksforschung, um zu sehen: Mögen Leute das oder | |
| nicht? | |
| taz: Glück wird also eher als Wohlbefinden definiert? | |
| Brockmann: Inzwischen ja. In der griechischen Antike suchte man noch eine | |
| substanzielle Definition von Glück: Was ist das Höchste, das erstrebenswert | |
| ist? Davon ist man heute abgerückt, weil es schwer zu definieren ist. Was | |
| man aber sieht: dass Menschen einiges als positiver empfinden als anderes. | |
| Das macht das Glück irdischer und das beurteilende Subjekt zum eigentlichen | |
| Experten. Folglich betreibt man empirische Forschung und fragt Leute, ob | |
| sie glücklich sind. Dieser Perspektivwechsel vom „objektiv erreichbaren“ | |
| zum subjektiv empfundenen Glück ist substanziell. | |
| taz: Und wie gelingt eine „Ethik des Wohlbefindens“, die Ihre „Enzyklopä… | |
| des Glücks“ postuliert? | |
| Brockmann: Schon Aristoteles hat gefragt: Kann schlechtes Verhalten ethisch | |
| richtig sein oder muss man differenzieren? Die Glücksforschung zeigt, dass | |
| Menschen nicht nur nach individuellem Glück streben, sondern in vielen | |
| Glücksbestrebungen sozial sind und das gute Empfinden mit anderen teilen | |
| wollen. Deshalb widmen sich viele dem [4][Ehrenamt,] der gemeinsamen | |
| Religionsausübung, dem gemeinsamen Musizieren. | |
| taz: Aber driftet unsere Gesellschaft nicht eher auseinander? | |
| Vereinsmitgliedschaften, Ehrenamt, sogar Blutspenden gehen zurück. | |
| Brockmann: Schwer zu sagen. Jedenfalls ist belegt, dass Menschen, die | |
| ehrenamtlich arbeiten, sehr zufrieden sind. Wir sehen, dass Spenden | |
| glücklich macht – und Aktivitäten in nicht-hierarchischer Gemeinschaft | |
| unter Freunden: Da, wo sie nicht um Status, Anerkennung, Aufmerksamkeit | |
| buhlen müssen. | |
| taz: Aber gesamtgesellschaftlich schwindet der Altruismus eher. | |
| Brockmann: Ja, [5][Egoismus] und Ehrgeiz sind schon stark. Die neoliberale | |
| Ideologie hat das in der westlichen Kultur lange propagiert, indem es hieß: | |
| „Die Leute treibt egoistisches Interesse an.“ Westliche Kulturen haben das | |
| Kompetitive extrem herausstellt und das Kollektive abgewertet. Weil sich | |
| sonst angeblich jeder der Verantwortung entziehen und in die soziale | |
| Hängematte legen würde. Das ist eine sehr einseitige Sicht. Denn wir sind | |
| zutiefst sozial und können nur gut existieren, wenn wir Leute haben, die | |
| sich am Anfang und am Ende unseres Lebens um uns kümmern. Diese | |
| gegenseitige Großzügigkeit gehört zum Menschsein dazu. Dabei sind wir uns | |
| der eigenen Endlichkeit sehr bewusst – eine große Frustration für das Ego. | |
| Die Suche nach Sinn scheint in allen Kulturen die Rezeptur zu sein. | |
| taz: Ein Kapitel Ihres Buchs lautet „physischer Schmerz und Glück“. Wie | |
| geht das zusammen? | |
| Brockmann: Viele Menschen haben chronische Schmerzen. Die Ursache ist oft | |
| harmlos, und sie müssen lernen, sich damit zu arrangieren. Eine | |
| Relativierung – den [6][Schmerz] aus einem anderen Blickwinkel zu | |
| betrachten – funktioniert durchaus. Wichtig ist, dass man das Aufhören des | |
| Schmerzes nicht zur Voraussetzung für das Glücklichsein macht. Eine Methode | |
| ist der im Buch erwähnte Cold Comfort. | |
| taz: Das bedeutet? | |
| Brockmann: Eine finnische Forscherin beschreibt das in ihrem Land beliebte | |
| Eisbaden. Es ist eine Methode, die eigene Abwehr zu überwinden. Wenn man | |
| den Impuls, das kalte Wasser zu meiden, überwindet, bekommt man ein Gefühl | |
| von Kontrolle und Selbstwirksamkeit. Und dann kann man auch sein Kreisen um | |
| den Schmerz überwinden. Das heißt: Ich kann etwas schaffen, von dem ich | |
| dachte, ich schaffe es nicht. Ich erfahre, dass ich unter widrigen | |
| Bedingungen überleben kann und die Krise die physischen und mentalen | |
| Abwehrkräfte stärkt. | |
| 21 Sep 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
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