# taz.de -- Glücksforschung zur Midlife-Crisis: Es geht auch wieder bergauf | |
> In der Mitte des Lebens werden Menschen unglücklicher – über Kulturen, | |
> Länder, soziale Unterschiede hinweg. Sogar Affen betrifft die | |
> Midlife-Crisis. | |
Bild: Glücklich draußen beim Purzelbaum! | |
Die Glücksforschung vermeidet das Wort Krise. Was umgangssprachlich | |
Midlife-Crisis heißt, die Krise in der Mitte des Lebens, nennen | |
Forscher*innen auf Englisch wertfreier „[1][U-Shape]“. U-Form. Demnach | |
verläuft die Zufriedenheit über das Leben wie ein U: In jungen Jahren sind | |
wir glücklich, nach dem 18. Lebensjahr geht es langsam bergab, im mittleren | |
Alter kommt der Tiefpunkt – in [2][Deutschland] etwa bei Anfang 50. Danach | |
geht es noch mal bergauf, im höheren Alter bis 70 sind wir wieder | |
glücklicher. | |
Fakt ist: Bei der sogenannten Midlife-Crisis handelt es sich nicht nur um | |
Küchenpsychologie. Mehreren Studien zufolge lässt sich dieses Muster fast | |
universell beobachten. Über verschiedene Kulturen, Länder und soziale | |
Gruppen hinweg. Wie nähert sich Forschung einem so komplexen Phänomen, | |
dessen Ursachen biologisch, psychosozial oder beides sein könnten? | |
Der britische Glücksforscher Alan Piper beschäftigt sich mit der U-Form. Um | |
zu verdeutlichen, wie groß der Unterschied zwischen den glücklicheren | |
jungen Menschen und den mittelalten weniger glücklichen ist, hat er einen | |
Vergleich parat: „Der Unterschied zwischen der Jugend und der Lebensmitte | |
ist etwa so groß wie der Unterschied zwischen Menschen, die nur schwer eine | |
Treppe hinaufgehen können und jenen, denen dies keine Probleme bereitet.“ | |
Der Unterschied ist also spürbar, einschränkend. | |
Selbst bei Menschenaffen gibt es einer [3][Studie] zufolge diese U-Form. | |
Für die 2012 veröffentlichte Studie wurden Hunderte Schimpansen und | |
Orang-Utans aus verschiedenen Zoos weltweit hinsichtlich ihrer | |
Zufriedenheit beobachtet. Unter anderem sollten Tierpfleger*innen, die die | |
Tiere seit mindestens zwei Jahren kennen, [4][einschätzen]: „Wie viel Zeit | |
verbringt der Schimpanse glücklich, zufrieden, hat Spaß oder anderweitig | |
gute Laune?“ Und tatsächlich: Die Affen in der Mitte ihres Lebens | |
erschienen unglücklicher. | |
## Biologie spielt mit | |
Obwohl das Phänomen so gut dokumentiert ist, gibt es noch keine eindeutige | |
Erklärung dafür. Die Affenstudie deutet darauf hin, dass es zumindest | |
teilweise biologisch bedingt sein könnte. Irgendwas macht uns Primaten | |
offenbar in Richtung Mitte des Lebens unglücklicher. Die Studienautoren | |
spekulieren über altersbezogene Hirnveränderungen; vielleicht verändern | |
sich Primatengehirne übers Leben hinweg auf eine ähnliche Art und Weise, | |
die unser Wohlbefinden beeinflusst? | |
Es ist nicht überraschend, dass es Ähnlichkeiten im Verhalten von Menschen, | |
Schimpansen und Orang-Utans gibt – wir sind schließlich alle Primaten. Die | |
DNA-Sequenz von Menschen und Schimpansen ist zu rund 99 Prozent gleich. | |
Auch andere Primaten [5][lachen], führen enge [6][Beziehungen] und | |
[7][Freundschaften]. Sie benutzen Werkzeuge und ziehen bisweilen sogar in | |
eine Art [8][Krieg] mit verfeindeten Gruppen. Sie zeigen [9][Empathie], | |
führen Konkurrenzkämpfe, haben wie Menschen [10][Sex aus Spaß] und nicht | |
nur zur Fortpflanzung. | |
Die Biologie bietet also eine mögliche Erklärung für das Phänomen der | |
Midlife-Crisis, aber bei den Detailfragen hilft sie nicht weiter: Die | |
U-Form fühlt sich längst nicht für alle Menschen gleich an. Zum Beispiel | |
erleben Singles die Midlife-Crisis stärker als Menschen in Partnerschaften. | |
Auch verweist Piper auf eine [11][Untersuchung], wonach Menschen, die schon | |
lange in ihrer Nachbarschaft leben, in der Mitte ihres Lebens zufriedener | |
sind. | |
Woran das liegt? „Wenn wir uns zugehörig fühlen, in unserem Zuhause, in | |
unseren Jobs, unserer Gesellschaft – ich denke, das schützt uns teilweise | |
vor dem Tief im mittleren Alter“, ist die Theorie von Piper. | |
## Die sozialen Konstanten | |
Grundsätzlich entsprechen Ergebnisse der empirischen Forschung zur Frage, | |
was Menschen glücklich macht, den intuitivsten Antworten: eine schöne | |
[12][Beziehung], ein erfüllender und sicherer Job, [13][ausreichend Geld | |
zum Leben]. Was eher unglücklich macht: Armut und schwere Krankheit, | |
[14][Arbeitslosigkeit]. Wobei Menschen sich auch an erstaunlich viele | |
Lebensumstände [15][gewöhnen] können, selbst wenn es sich zunächst nicht so | |
anfühlen mag. | |
Auf die Midlife-Crisis übersetzt heißt das: Menschen mittleren Altern in | |
einer glücklichen Partnerschaft, mit festem Job, in konstant gebliebener | |
Nachbarschaft – diesen Menschen geht es in dieser Lebensphase besser. Das | |
spricht dagegen, dass allein die Biologie die Midlife-Crisis vorbestimmt. | |
Das U lässt sich vielleicht verhindern oder zumindest abschwächen. | |
Neben den Daten über Lebenszufriedenheit sprechen weitere Daten für die | |
Theorie dieser U-Form: Ein dazu passendes Muster kann für andere | |
Entwicklungen beobachtet werden, die zum Verlauf der Lebenszufriedenheit | |
passen. Zum Beispiel nehmen Menschen tendenziell in einem umgekehrten | |
Muster [16][Antidepressiva] ein: bis zur Lebensmitte in einer Art Berg-Form | |
immer mehr und danach wieder weniger. [17][Suizide] nehmen in Richtung | |
Lebensmitte zu und danach wieder ab. | |
Zur Theorie der U-Form wurden zwar bereits zahlreiche Untersuchungen | |
veröffentlicht, aber es gibt auch Kritik. Ein Kritikpunkt stellt die | |
Universalität des Musters in Frage. Es geht um eine statistische Frage: Es | |
ist in vielen Forschungsgebieten und auch der Glücksforschung üblich, | |
mithilfe von Kontrollvariablen bestimmte Lebensumstände aus dem Ergebnis | |
„herauszurechnen“. Wenn es beispielsweise darum geht, wie glücklich Köche | |
versus Journalistinnen sind, sollte es keine Rolle spielen, wer verheiratet | |
ist. Zumindest, wenn sich das Ergebnis auf die Berufe der Gruppen beziehen | |
soll. Also wird mithilfe der Kontrollvariablen der Unterschied, der daher | |
kommt, ob jemand verheiratet ist oder nicht, herausgerechnet. | |
## Kritische Zone 70+ | |
Der britische Soziologie-Professor David Bartram findet das beim U-Muster | |
falsch: Das verzerre die Ergebnisse, weil Kontrollvariablen nur dann | |
sinnvoll seien, wenn beide Variablen – hier also Alter sowie Zufriedenheit | |
– davon beeinflusst würden. Aber, wie Bartram betont: Nichts verändert das | |
Alter. Menschen altern, ob sie verheiratet sind oder nicht. „Wenn es | |
Kontrollen für den Familienstand gibt, reflektiert das Ergebnis nur die | |
Erfahrung von Menschen, die ihren Partner nicht verlieren“, sagt er als | |
Beispiel. Aber: Manche Lebensumstände gehen eben mit dem Alter einher, wie | |
zum Beispiel schlechtere Gesundheit oder eben der Verlust des Partners. | |
„Je älter Menschen werden, desto eher passieren ihnen negative Dinge“, sagt | |
Bartram. Und wenn wir diese Dinge rausrechnen, würden wir seiner Ansicht | |
nach so tun, als gäbe es sie nicht. Dadurch werde die Kurve dahingehend | |
verzerrt, dass es fälschlicherweise so aussieht, als ginge die | |
Zufriedenheit im Alter wieder hoch. Stattdessen ist seine Theorie, dass | |
die Zufriedenheit zwar durchaus zur Lebensmitte hin sinkt, aber niedrig | |
bleibt und nicht wieder steigt. | |
Ein weiterer Kritikpunkt: In den Studien geht es zumeist um Menschen bis | |
70, weil das Todesalter in den zu vergleichenden Ländern sehr | |
unterschiedlich ist. Die Kritik: Dieses Beschränken auf Menschen bis 70 | |
lässt außer Acht, dass es danach zu einem recht deutlichen Abfall an | |
Lebenszufriedenheit kommt. Nachvollziehbar: Immer mehr Menschen im eigenen | |
Umfeld sterben, möglicherweise gar der*die Partner*in. Die eigene | |
Gesundheit wird schlechter. Das bildet das U nicht ab. | |
Wissenschaftler*innen wie Alan Piper sehen durchaus, dass die U-Form | |
vor allem das Arbeitsleben abbildet, also die Zeit bis 70. Piper verneint | |
nicht, dass die Zufriedenheit danach durchaus wieder abnimmt. Aber er | |
verteidigt das Phänomen: Das Muster sei auch in Studien ohne Kontrollen | |
beobachtet worden. Es gebe Hunderte Studien, die das Phänomen zeigen. | |
Alan Piper schlussfolgert aus seinen Beobachtungen, dass dieses Midlife Low | |
tief verwurzelt ist in unserem Dasein. Wie lässt es sich abschwächen? | |
„Meine scherzhafte Antwort wäre: Habt glückliche Ehen!“, sagt Piper. „A… | |
ernsthaft: Wahrscheinlich helfen hier die gleichen Maßnahmen wie bei der | |
Bekämpfung von Einsamkeit.“ Dagegen wirke es, wenn man Menschen dabei | |
helfe, sich in ihrer Gemeinschaft zu engagieren. Also das Gefühl von | |
Zugehörigkeit zu befördern. | |
15 Jun 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/18316146/ | |
[2] https://bpb-us-e1.wpmucdn.com/sites.dartmouth.edu/dist/5/2216/files/2022/04… | |
[3] https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.1212592109 | |
[4] https://drive.google.com/file/d/1Ni_twpWJlDFC3uM03IpuOvBLvBgoJKj8/view?usp=… | |
[5] https://www.cell.com/current-biology/fulltext/S0960-9822(09)01129-4?_return… | |
[6] https://www.nature.com/scitable/knowledge/library/primate-sociality-and-soc… | |
[7] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3592481/ | |
[8] https://en.wikipedia.org/wiki/Gombe_Chimpanzee_War | |
[9] https://royalsociety.org/news/2014/chimpanzees-empathy/#:~:text='Chimpanzee… | |
[10] https://link.springer.com/article/10.1023/A:1026395829818 | |
[11] https://www.researchgate.net/publication/335805972_Happiness_at_Different_… | |
[12] https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/1066480720977517 | |
[13] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/23231724/ | |
[14] https://www.ceps.eu/ceps-publications/impact-unemployment-individual-well-… | |
[15] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3289759/ | |
[16] https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0167268116300506?vi… | |
[17] https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/ecca.12452 | |
## AUTOREN | |
Sarah Emminghaus | |
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