# taz.de -- Debatte Glücksforschung: Saldo des Wohlbefindens | |
> Die Zufriedenheitsforschung zeigt, wie unrecht neoliberale Ökonomen | |
> haben. Und wie dringend Therapieformen verändert werden müssen. | |
Bild: Wie zufrieden ist dieser Mann? | |
Diese Woche hat die ARD die „Glückswoche“ aufs Programm gesetzt und damit | |
die sogenannte Glücksforschung weiter berühmt gemacht. Zwei Wochen zuvor | |
hatte die Post bereits einen „Glücksatlas“ vermarktet. Jeweils standen die | |
regionalen Unterschiede des Glücklichseins im Mittelpunkt. Das ist | |
werbewirksam, aber nicht aussagekräftig. | |
Denn die regionalen Unterschiede des gemessenen „Glücks“ zwischen | |
Westdeutschland und Ostdeutschland sind gering und auch innerhalb von Ost | |
und West auf Ebene der Bundesländer nicht nennenswert. Und es ist | |
methodisch nicht haltbar, das kleine Bundesland Schleswig-Holstein als | |
glücklichsten Spitzenreiter auszurufen und dem ebenso kleinen Brandenburg | |
die rote Laterne des Schlusslichts anzuhängen. | |
Die Schlagzeilen basieren – anders geht das gar nicht – auf „Stichproben�… | |
In den kleinen Bundesländern, die sich ganz oben und unten finden, wurden | |
weniger als 2.000 Leute befragt. Der sich daraus ergebende „Zufallsfehler“ | |
fällt hier viel stärker ins Gewicht als bei großen Ländern wie Bayern und | |
Nordrhein-Westfalen. Deswegen gibt es keinen eindeutigen Tabellenführer. | |
Trotzdem ist diese Art von Forschung keineswegs überflüssig. | |
## Wie steht es mit Zufriedenheit? | |
Was mit dem publikumswirksamen Etikett „Glücksforschung“ vermarktet wird, | |
ist eigentlich Zufriedenheitsforschung. Dabei geht es nicht um flüchtiges | |
Glück am Tresen oder beim Fernsehschauen. Vielmehr werden die Menschen nach | |
dem verstandesmäßig ermittelten momentanen „Saldo“ ihres Wohlbefindens | |
„alles in allem“ im Leben befragt. Die Antworten liefern Ergebnisse, die | |
die große oder kleine Bedeutung von Lebensereignissen, die grundsätzlich | |
auch beeinflussbar oder erlernbar sind, für das Individuum und damit auch | |
für die Gesellschaft deutlich machen. Daraus lassen sich handfeste – | |
„evidenzbasierte“ – politische Schlussfolgerungen ziehen. | |
Dass der Verlust des Arbeitsplatzes unzufrieden macht, nicht selten auch | |
krank, ist weitgehend bekannt. Die Zufriedenheitsforschung zeigt darüber | |
hinaus, dass auch viele ehemalige Arbeitslose noch Jahre später in ihrer | |
Unzufriedenheit verharren. Auch dass Erwerbslosigkeit für die meisten | |
Betroffenen ein Zustand ist, in den sie unfreiwillig hineingeraten sind, | |
ist für die meisten Menschen selbstverständlich. Nur nicht für die | |
führenden neoliberalen Chicago-Ökonomen. Sie behaupten, dass | |
Arbeitslosigkeit von Menschen mit hoher „Freizeitpräferenz“ gewählt werde. | |
Die These von der „freiwilligen Arbeitslosigkeit“ war auch in der deutschen | |
Volkswirtschaftslehre lange Zeit weit verbreitet. | |
## Angriff auf Gewissheiten | |
Dass offenkundig falsche Vorstellungen erst mithilfe akribischer Forschung | |
zerstört werden können, wird gerne unterschätzt. Dabei zielt ein großer | |
Teil moderner Forschung auf allen Gebieten nur darauf, die vermeintliche | |
Gültigkeit von alten Theorien anzuzweifeln und schließlich zu widerlegen. | |
Die Medizin wimmelt von Beispielen einer durch neue Forschung gelungenen | |
Ablösung überholter Theorien. So hat man in den 1920er Jahren noch an die | |
heilende Wirkung von Ozon geglaubt. | |
Dabei sind es so gut wie nie die sensationellen Forschungsergebnisse, die | |
die Sicht auf die Welt und damit dieselbe verändern. Vielmehr konstituieren | |
meist viele unspektakuläre kleine Einzelbefunde nach und nach ein neues | |
Bild, in unserem Fall von gesellschaftlichen Zusammenhängen. | |
Die Zufriedenheitsforschung macht zum Beispiel immer deutlicher, dass eine | |
früh ansetzende gute Bildung der Schlüssel zu einem zufriedeneren Leben | |
ist: Bildung verringert das Arbeits- und Krankheitsrisiko und erlaubt – | |
auch weil sie in der Regel zu einem besseren Einkommen führt – dem | |
Einzelnen, seine Interessen zu folgen. Sie eröffnet also mehr Optionen im | |
Leben, und das wiederum erhöht die individuelle Zufriedenheit. | |
Rein monetäre Anreize führen nicht zu dauerhaft höherer Arbeitsmotivation | |
und weniger Fehltagen. Unterm Strich ist es für Arbeitgeber lohnender, ihre | |
Beschäftigten zufriedenzustellen, sie also fair zu behandeln und ihnen | |
kreative Freiräume zu ermöglichen. | |
## Mehr Geld für Psychotherapien | |
Ganz aktuell wurde von dem britischen Ökonomen Richard Layard, der kürzlich | |
auch Bundeskanzlerin Merkel beraten hat, eine interessante Studie | |
vorgelegt. Sie zeigt für Australien, Deutschland und Großbritannien, dass | |
psychische Störungen die Betroffenen im Durchschnitt deutlich unzufriedener | |
machen als körperliche Erkrankungen. Layard zieht daraus die | |
Schlussfolgerung, dass es wohlfahrtstheoretisch vernünftig ist, psychische | |
Erkrankungen viel besser, also mit deutlich mehr Geld zu behandeln. Für | |
viele Ärzte, die primär für physische Therapien Geld sehen wollen, ist das | |
eine Provokation. | |
Die Zufriedenheitsforschung ist damit längst nicht am Ende. Viele | |
wissenschaftlich wie lebensweltlich hochinteressante Fragen harren noch | |
einer wissenschaftlichen Antwort. So ist auch insbesondere die Frage nach | |
den Faktoren, die Menschen dazu bringen, eher zur Zufriedenheit oder zur | |
Unzufriedenheit zu neigen (und Letztere machen sich das Leben gerne selbst | |
zur Hölle), noch nicht beantwortet. Die Gene spielen bestimmt eine Rolle. | |
Die mutmaßlich gewichtige Rolle frühkindlicher Erfahrungen indessen ist | |
bislang nicht ausreichend erforscht. Mittlerweile zeichnen sich aber erste | |
Ergebnisse ab. | |
Ein am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) laufendes Projekt, | |
das Waisen mit Kindern vergleicht, die in ihrer Familie groß wurden, deutet | |
darauf hin, dass der frühe Verlust der Eltern lebenslang die Zufriedenheit | |
dämpft. | |
22 Nov 2013 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Schupp | |
Gert G. Wagner | |
## TAGS | |
Psychische Erkrankungen | |
Glück | |
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