# taz.de -- Midlife-Crisis als Chance: Bin das wirklich ich? | |
> Kaum hat man sich im Dasein eingerichtet, trifft einen, zack, die | |
> Midlife-Crisis. Dabei stellt diese eine nicht ganz unwesentliche Frage | |
> ans Selbst. | |
Bild: Fuck it! | |
Man kann und soll jede Lebenskrise ja als Chance begreifen – so heißt es. | |
Und einerseits ist das wohl auch tatsächlich so. | |
Aber andererseits mal im Ernst: Fuck it! Das ist doch viel zu schnell vom | |
Ergebnis her gedacht, dem möglicherweise glücklichen Ausgang. Hinterher | |
kann man sich immer Einordnendes und Tröstliches erzählen. Doch zunächst | |
ist man drin in der Krise, und so etwas kann einen ganz schön beuteln, das | |
ist echt kein Spaß, wirklich nicht. Die Wahrheit ist: Wir alle sind die | |
Leidtragenden, die Dompteure und irgendwann auch die Veteranen unserer | |
Lebenskrisen, der großen wie der kleinen, ob es einem nun gefällt oder | |
nicht. | |
In dem Ensemble der Krisen, mit dem wir unser Leben inzwischen – wenn auch | |
tief seufzend – zu beschreiben gelernt haben, ist die Midlife-Crisis dabei | |
so etwas wie eine schillernde, teilweise illegitime Verwandte, in manchem | |
aber auch die große Schwester. Sie hat etwas Fragwürdiges, aber auch | |
Unterhaltsames, sie kann einen dumm machen, aber auch klug. | |
Anders als die Pubertät oder eine Altersdepression fußt sie nicht unbedingt | |
auf körperlichen Veränderungen oder sozialem Rollenwechsel. Anders als die | |
Quarterlife-Crisis (Übergang vom Studium zum Berufsleben) oder das | |
Leere-Nest-Syndrom (Neuorientierung, wenn die Kinder ausgezogen sind) ist | |
sie nicht direkt auf konkrete Veränderungen der Lebenssituation | |
zurückführbar. Und anders als [1][beim Burn-out] gibt es nicht zwangsläufig | |
äußere Ursachen wie Stress und Überforderung, die sie getriggert haben. | |
Es ist ein etwas seltsames, auch geheimnisvolles Geschöpf, diese | |
Midlife-Crisis. Manche Menschen würden rundheraus bestreiten, dass es sie | |
überhaupt gibt. Andere – mich eingeschlossen – können bezeugen, dass sie | |
sehr wohl existiert und einem den Boden unter den Füßen wegziehen kann. | |
Mitten im Leben kann sie einen erwischen, gerade wenn man glaubt, sein | |
Leben einigermaßen auf die Reihe gekriegt zu haben. | |
## Wie eine Leuchtschrift am Himmel | |
Man hat sich halbwegs eingerichtet in seinem Dasein. Ausbildung, | |
Berufseinstieg, Familiengründung hat man hinter sich gebracht oder auch | |
nicht, auf jeden Fall könnte jetzt erst einmal alles so weitergehen (sonst | |
hätte man andere Krisen) – doch, zack, wie eine Leuchtschrift am Himmel, | |
wie eine unbezweifelbare Bassstimme aus dem Untergrund, wie eine plötzliche | |
Veränderung der Tiefenschärfe in einem Hitchcock-Film taucht plötzlich | |
dieser Rilke-Vers vor dem inneren Auge auf: „Du musst dein Leben ändern“ | |
(aus dem Gedicht „Archaïscher Torso Apollos“). Und er geht von selbst | |
nicht mehr weg. | |
Das so Interessante daran: Die Midlife-Crisis ist eine Krise für Etablierte | |
– aber das Erreichte zählt eben nicht mehr, das ganze Leben steht auf des | |
Messers Schneide. Man steckt in einer Entscheidungssituation. So wie es der | |
klassische Begriff der Krise besagt, der ursprünglich aus der Medizin | |
stammt und den Moment bezeichnet, in dem ein Krankheitsverlauf sich zum | |
Guten (der Gesundung) oder zum Schlechten (dem Tod) entwickeln kann. | |
Eine Midlife-Crisis schafft also Drama, wo Kontinuität, sie generiert | |
Aufregung, wo Ruhe hätte sein können. Aus der Ferne sieht sie manchmal | |
einfach lösbar und sogar lächerlich aus. Von innen heraus fühlt sie sich | |
aber mächtig und unhintergehbar an. | |
Schriftsteller, Psychoanalytiker und andere Lebensdeuter brauchten lange, | |
um ein geschlossenes Bild von ihr zu vermitteln. Lebenskrisen, die einem in | |
der Mitte des Lebens aus heiterem Himmel ereilen können, wurden in früheren | |
Zeiten als Glaubenskrisen beschrieben (ein großartiges spätes Zeugnis davon | |
ist der Roman „Gott und die Wilmots“ von John Updike), als Erkenntniskrisen | |
(Kleist, später Stichwort Transzendentale Obdachlosigkeit) oder als | |
Ausdruck eines genialischen Künstlerringens (der zergrübelte Beethoven). | |
Sinn- und Schaffenskrisen wurden besonderen Menschen zugestanden, | |
Ausnahmepersönlichkeiten, während der sogenannten breiten Masse ein | |
ruhiges, stabiles Erwachsenenleben versprochen und anempfohlen wurde: | |
Schuster, bleib bei deinen Leisten und du wirst ein geregeltes Auskommen | |
haben – das Mittelklasse-Versprechen der sozialen Marktwirtschaft. | |
Dass so ein Erwachsenenleben aber auch dann, wenn äußerlich alles | |
einigermaßen glückt – oder vielleicht sogar gerade dann –, so stabil gar | |
nicht ist, ist eine noch gar nicht so alte Erkenntnis. Der inzwischen | |
wieder etwas vergessene Psychoanalytiker Erik Erikson hat sie mit seiner | |
Theorie von den Lebensphasen und den prinzipiell krisenhaften Übergängen | |
zwischen ihnen ab den fünfziger Jahren in die Welt getragen. Durch die | |
Erfindung der Pubertät als Mischung aus Jugendlichkeit, Rock ’n’ Roll und | |
Protesthaltung gegen die Erwachsenenwelt bekam diese Lehre Evidenz. | |
## Die Angst, das mühsam Erreichte zu verlieren | |
Popularisiert wurde die Midlife-Crisis in den siebziger Jahren durch Bücher | |
wie „In der Mitte des Lebens“ von Gail Sheehy, ein Weltbestseller damals. | |
Der Zeitpunkt ist interessant: Achtundsechzig [2][war vorbei, Bob Dylans | |
„The Times They Are a-Changin'“ verhallt], zugleich diffundierten die in | |
den Gesellschaftsprotesten erkämpften Freiheits- und | |
Liberalisierungsgewinne in die Breite der Gesellschaft. | |
In den Vororten und experimentierfreudigen Milieus der Unistädte begann man | |
vom eigenen Leben nicht nur zu träumen, sondern es tatsächlich umzusetzen. | |
Emanzipation, Selbstbestimmung, das Hinterfragen von Rollenmustern, das | |
alles wurde zu Projekten. Man wollte intensiv leben. Gleichzeitig gab es | |
aber auch die Angst, das mühsam Erreichte – ganz konkret zum Beispiel das | |
Eigenheim im Vorort – wieder zu verlieren. | |
Das Leben wurde also kompliziert, Ambivalenzen kamen auf, und die | |
Popularisierung der Midlife-Crisis zu diesem Zeitpunkt lässt sich verstehen | |
als Ausdruck dieser zum Wohlstand kommenden und sich zugleich von | |
traditionellen, etwa religiös fundierten Rollenbildern verabschiedenden und | |
sich einer beispiellosen „Fundamentalliberalisierung“ (Habermas) | |
verschreibenden Gesellschaft. | |
„Die meisten Menschen führen ein Leben in stiller Verzweiflung“, lautet ein | |
berühmtes klassisches Zitat von Henry David Thoreau. Das war nun aber nicht | |
mehr so. Ab den siebziger Jahren konnte man in einer bis dahin für die | |
Breite der Bevölkerung unbekannten Weise ein eigenes Leben führen. Nur | |
tauchte damit die Frage auf, ob man auch wirklich will, was man bekommen | |
hat. Und da konnte einem niemand – keine Autorität, keine Tradition – mehr | |
helfen; das musste man ganz mit sich selbst ausmachen. | |
Genau das ist die Frage, die die Midlife-Crisis an einen stellt. Mit der | |
Möglichkeit, ein eigenes Leben zu führen, ist eben auch verbunden, dass man | |
falsche Entscheidungen trifft. Außerdem muss man auch erst einmal selbst | |
für sich herausfinden, was das nun genau für einen ist: ein eigenes Leben. | |
Diese Suchbewegung und Selbsthinterfragung machen die Midlife-Crisis so | |
schillernd. | |
## Ohne Selbstreflexion ist ein eigenes Leben nicht zu haben | |
Nun ist seit den siebziger Jahren inzwischen wieder viel Zeit vergangen, | |
vieles hat sich dabei verändert. Manches zum Vorteil. So ist man heute | |
längst nicht mehr auf eine dermaßen festgelegte Art und Weise erwachsen, | |
wie man es damals noch sein musste; bohemistische Lebensweisen sind längst | |
in den Alltag eingedrungen, man kann sich ganz anders ausprobieren, auch | |
mal neu erfinden – oder wie die gängigen Formeln gerade lauten. Manche | |
herausfordernde Entwicklung gab es aber auch: An die Stelle der Sicherheit | |
der alten Bundesrepublik ist die flexibilisierte Arbeitswelt der Gegenwart | |
getreten, mit neuen Möglichkeiten, neuen Gefahren und vielfältigen | |
Verteilungskämpfen. | |
Auch die Midlife-Crisis hat sich geändert. Sie ist normaler geworden. Es | |
gibt vielfältigere [3][Möglichkeiten, ihr zu begegnen]. Yoga, Malkurs, | |
Sport: Dass solche Sachen helfen, ein innerlich reicheres Leben zu führen, | |
weiß man inzwischen. Außerdem kann man inzwischen auch einfach so aus dem | |
Alltagstrott und den karrieristischen Arbeitsprozessen aussteigen, ohne | |
gleich nach Indien auszuwandern oder sein gesamtes soziales Umfeld in die | |
Tonne zu treten. | |
Doch das fundamentale Muster der Midlife-Crisis ist geblieben. Es besagt, | |
dass ein eigenes Leben ohne Selbstreflexion nicht zu haben ist – was immer | |
man mit diesem Reflexionsprozess anfängt, ob er einen in eine narzisstische | |
Selbstverwirklichung führt oder in die Übernahme von Verantwortung sich | |
selbst und anderen gegenüber. | |
Vielleicht ist es also irgendwo einfach eine falsche Frage, ob es die | |
Midlife-Crisis tatsächlich nun gibt oder nicht. Vielleicht wäre es | |
sinnvoller, sich zu fragen, wie wir uns sie erzählen wollen und was wir mit | |
ihrem Muster anfangen. Die Frage, ob man wirklich will, was man zu wollen | |
meint, sollte man sich in der Mitte des Lebens durchaus stellen. | |
Kann ja sein, dass man sich bis dahin nur an gesellschaftlichen oder auch | |
elterlichen Aufträgen abgearbeitet hat oder an vordergründigen | |
Erfolgsmodellen. Die Midlife-Crisis sagt einem (und hier kommt eben der | |
Vergleich mit der großen Schwester zum Tragen), dass man diese Frage nicht | |
an andere delegieren, sondern sich nur selbst beantworten kann. | |
16 Apr 2024 | |
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## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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