| # taz.de -- Besuch in Kassel: Wir machen mal weiter | |
| > In Kassel bekommt man einen Hauch Normalität ab – und viele gute | |
| > Fleischwaren. Aber auch hier haben einige ihre persönliche Brandmauer | |
| > eingerissen. | |
| Bild: Kassel in der blauen Stunde von der Wilhelmshöhe | |
| Kassel macht einen noch stabilen Eindruck, da hat sogar mal die CDU [1][mit | |
| ihrem entsprechenden Plakatslogan] einen Punkt. Gegen einen Infostand der | |
| AfD sind an diesem Samstag Ende September gleich drei Gegendemonstrationen | |
| angemeldet. Und dann kommt auch noch Kanzler Scholz direkt von der UNO ins | |
| benachbarte Baunatal auf Wahlkampfbesuch. Die Lokalzeitung lässt es sich | |
| nicht nehmen, einen ganzseitigen Vergleich dieses Zentrums deutscher | |
| Wertarbeit mit der Metropole am Hudson River zu ziehen. | |
| Für Baunatal spricht dabei unbedingt, dass es im Ahle-Wurst-Country liegt. | |
| Ob Olaf Scholz die besonders schmackhafte Arschdarmvariante serviert | |
| bekommt oder doch nur den „Kraftriegel des Facharbeiters“, eine | |
| Original-Volkswagen-Currywurst? Baunatal mit seinem VW-Werk gewinnt | |
| jedenfalls den Vergleich mit New York und seiner Freiheitsstatue 6:3 – und | |
| so absurd, wie das [2][im Nichtnordhessischen] scheinen mag, ist die Sache | |
| gar nicht. Denn die ganze Kassler Gegend ist wunderschön, die Versorgung | |
| mit hochwertigen Lebensmitteln gesichert, das Klima noch angenehm | |
| mitteleuropäisch von Westwinden geprägt, gerade auch im | |
| menschlich-politischen Sinne. | |
| Und doch sagen die Freunde beim Hessischen Löwenbier am üppig gedeckten | |
| Tisch in der Kassler Nordstadt, die Stimmung kippe. Habe man früher bis | |
| acht zählen können, um auf einen Nazi zu kommen, zähle man heute bis sechs. | |
| Die ganz persönliche Brandmauer sei bei vielen eingestürzt, ein rational | |
| nicht zu erklärender Hass mache sich breit, abwertende menschenfeindliche | |
| Äußerungen im sozialen Nahbereich seien nicht mehr zu ignorieren. | |
| Im Bierhaus nahe der prächtigen Kassler Markthalle ist davon mittags nichts | |
| zu spüren. Hier vertreiben zwei Rentnerinnen und fünfmal so viele Rentner | |
| sich die Zeit, die Gegenwart ist in Form von ntv und Schlagerbums im Raum, | |
| trübt aber die Stimmung nicht. Die Junggebliebenen in Freizeithemden | |
| vertrinken, verquatschen und verdaddeln den Tag. Wir Jungspunde, relativ | |
| gesehen, werden gnädig geduldet, und rauchen ist selbstverständlich | |
| gestattet, obwohl die meisten längst die Finger davon lassen. | |
| ## Böse Männer | |
| Lustig und tolerant und ganz hassfern geht es hier gerade zu, und der | |
| Gedanke taucht auf, ob sich nicht genau danach all jene sehnen, die jetzt | |
| in die braune Brühe steigen: einfach ausgesorgt habend am Freitagmittag in | |
| einer Kneipe stehen können und alle Führer wo auch immer böse Männer sein | |
| lassen. | |
| „Unsere Wurst ist gut, aber vor allem die Verkäuferin ist sehr nett.“ In | |
| der Markthalle werden sogar wir angeflirtet, auch wenn die Ware teurer | |
| geworden ist im Vergleich zu früheren Besuchen und der Speckkuchen kleiner | |
| scheint. Wie es sich für ältere Herren gehört, unterhalten wir uns beim | |
| Rundgang über das Römische Reich. In Hedemünden, ein paar Kilometer über | |
| den Berg und schon im Niedersächsischen, liegt über der Werra [3][das | |
| sogenannte Römerlager,] das am weitesten nach Nordosten vorgeschobene | |
| Standlager der römischen Legionen, die Forschung ist sich nicht ganz einig. | |
| Ein schöner Spaziergang ist es dort auch für Imperiumsverächter; wie auch | |
| sehr viel richtig macht, wer weiterfährt nach Hann. Münden oder zurück ins | |
| Hessische nach Bad Karlshafen, nach Fritzlar und auf die Burg Heiligenberg, | |
| bezaubernde und geschichtsträchtige Orte, wo es überall guten Eiskaffee | |
| gibt. | |
| Aber haben wir nicht genug mit der Gegenwart zu tun? Wer als Besucher durch | |
| Kassel läuft, denkt schon mal: Eigentlich ja nicht. Klar, es gibt Ecken, wo | |
| ein bisschen aufhübschen guttäte und wahrscheinlich gar nicht so viel | |
| kosten würde, wenn kein innovativer Stadtplaner eingebunden wird; und ein | |
| wenig Rückbau für die Autos wäre auch nicht schlecht, auf den überbreiten, | |
| krawalllauten Kassler Schneisen kann man sich ja praktisch gar nicht an | |
| eine Geschwindigkeitsbegrenzung halten. | |
| ## 110 | |
| Dafür ist der Unistadtteil Nord-Holland altbaubestanden und relativ | |
| ungentrifiziert, das Auebad vorbildlich sauber und freundlich. Nur, wenn | |
| sie dann doch mal gebraucht wird, die Polizei, dann sollte sie vielleicht | |
| nicht mit der Aussage: „Ich schau mal, ob ich den Wagen bekomme“, auf einen | |
| Notruf reagieren; wie meinen Freunden geschehen, als im Nachbarhaus ein | |
| Pulverfreund seine Mitbewohnerin attackierte. Das klingt natürlich ländlich | |
| sympathisch, aber, na ja, niemand wählt zum Spaß 110. Und wir denken an den | |
| vom NSU unter [4][staatlichem (mindestens) Gewährenlassen ermordeten Halit | |
| Yozgat] auf dem ihm [5][gewidmeten Platz.] | |
| Dennoch, ein langes Wochenende in Kassel führt nicht nur dazu, dass sehr | |
| viel und sehr gut gegessen und getrunken und gelacht wird, sondern auch die | |
| Frage aufkommt: Worüber regen sich zu viele eigentlich so schrecklich auf? | |
| Deutschland ist weder ein volles Boot noch ein sinkendes Schiff, und im | |
| Café Sardegna im sogenannten Kriminalitätsschwerpunkt Untere Königsstraße | |
| gibt es einen ganz hervorragenden Espresso in herzlicher Atmosphäre. | |
| Selbst mitten im Wahlkampf mit Ex-Ministerpräsident Bouffier in der Stadt, | |
| mit einer Grünen-Kandidatin, die Herz heißt, mit einer Linken namens Bock | |
| und mit einer Partei für schulmedizinische Verjüngungsforschung – meine | |
| ganz persönliche Kassel-Lektion war mal wieder, dass sich alle etwas | |
| abregen und erst mal ein Zwiebelfleisch essen oder in eins der wunderbaren | |
| Kassler Museen gehen sollten. Oder eben gleich höher hinaus, ins | |
| Unesco-Welterbe Wilhelmshöher Bergpark mit seiner Herkulesstatue. | |
| Die wird wie auch der zum Kulturbahnhof upgedatete ehemalige Hauptbahnhof | |
| regelmäßig punktgenau zur documenta generalüberholt und blickdicht | |
| eingerüstet. Wie eben überhaupt Kassel dem Publikum von draußen zu sagen | |
| scheint: Schön, dass du da bist, aber wir machen mal weiter. Davon könnten | |
| sich als Maxime doch alle mal eine dicke Portion Weckewerk abschneiden, | |
| auch und gerade jenseits der Wahlen am 8. Oktober. | |
| 7 Oct 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.fuldaerzeitung.de/hessen/landtagswahl-in-hessen-parteien-nutzen… | |
| [2] /Serie-Unbekanntes-Hessen/!5543011 | |
| [3] /Streit-um-Ausgrabungsstelle/!5374521 | |
| [4] /Geplantes-Archiv-zu-Rechtsterrorismus/!5816129 | |
| [5] /Kolumne-Mittelalter/!5336125 | |
| ## AUTOREN | |
| Ambros Waibel | |
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| Janine Wissler | |
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