| # taz.de -- LehrerInnenmangel in in Hessen: Lehr- oder Leerstellen? | |
| > Im Wahlkampf setzen Parteien gerne auf Bildungsthemen. In Hessen ist das | |
| > nicht anders. Doch wer den Schulalltag kennt, fühlt sich kaum ernst | |
| > genommen. | |
| Bild: Sehen Sie, wie sehr Bildung im Vordergrund steht? Wahlplakate in Frankfur… | |
| Frankfurt am Main taz | Hessischen Wahlplakaten ist anzusehen, dass | |
| Parteien um die breite Unzufriedenheit mit Schulen wissen. „Zeit für 12.500 | |
| neue Lehrer“, findet die SPD. „Mit den Kleinen Großes bewegen“ möchten … | |
| Grünen und „Gute Bildung von Anfang an“ die Linke. Die AfD – die wie kaum | |
| eine andere Partei wissenschaftliche Erkenntnisse leugnet – plakatiert vor | |
| [1][der Landtagswahl am 8. Oktober]: „Bildung schützt vor grüner | |
| Ideologie.“ Und auch die FDP setzt auf Populismus: „Vom Gendern kommen auch | |
| keine neuen Lehrer-innen“. | |
| Die CDU, die hier seit einem Vierteljahrhundert regiert und derzeit den | |
| Kultusminister stellt, erklärt: „Die wichtigste Bank Hessens: die | |
| Schulbank.“ Ein Superlativ, der gerade in Frankfurt wie Satire wirkt. Hier | |
| beläuft sich der Sanierungsbedarf für Schulen auf 2,5 Milliarden Euro. Es | |
| gibt davon vor allem zu wenige. | |
| Wer den Schulalltag kennt, fühlt sich kaum ernst genommen. Karla | |
| Licht-Schuler sitzt in einem Frankfurter Park, der an die Grundschule | |
| grenzt, in der sie 20 Jahre unterrichtete. Still liegt er in der | |
| Mittagshitze. Das Schuljahr hat gerade begonnen, doch die Lehrerin ist nur | |
| her geradelt, um ihre Schlüssel abzugeben. Sie ist jetzt im Vorruhestand. | |
| „Ich liebe meinen Beruf“, sagt sie. Doch zuletzt fühlte sie sich zunehmend | |
| überfordert. An der Schule habe es ein Kommen und Gehen verschiedener | |
| Vertretungskräfte gegeben, die mal stundenweise einsprangen, mal für ein | |
| halbes oder ganzes Schuljahr. Sie übernahmen selbst Klassenleitungen, | |
| mussten nebenher eingearbeitet werden, seien aber – schlechter bezahlt und | |
| überlastet – oft wieder ausgestiegen. | |
| Die Brennpunktschule mit ihrer diversen SchülerInnenschaft hat sich | |
| Licht-Schuler ausgesucht. „Wir waren motiviert, wollten eine Ganztagsschule | |
| aufbauen, vom Kind aus denken, mitgestalten.“ Doch in den vergangenen | |
| Jahren sei es nur noch ums „Versorgen“ gegangen, „pädagogische Visionen | |
| fehlen“. Dabei sei die Zahl der Kinder, die mehr Zuwendung brauchen, | |
| deutlich gestiegen. „Du bist völlig durchgeschwitzt, wenn du die Klassentür | |
| zu machst, und hast das Gefühl, einzelnen Kindern nicht gerecht zu werden | |
| und nicht der ganzen Klasse.“ | |
| Im vergangenen Herbst stellten sie und Kolleginnen Überlastungsanzeigen, um | |
| dem Arbeitgeber zu signalisieren, dass ihre Gesundheit gefährdet und die | |
| Arbeitsabläufe nicht mehr gewährleistet sind. „Kleine Kinder lernen über | |
| Beziehungen, sie brauchen Konstanz.“ | |
| ## Anhaltend hohe Arbeitsbelastung | |
| Licht-Schuler spricht unter ihrem Namen. Andere Lehrkräfte mit ähnlichen | |
| Erfahrungen tun das nicht, weil sie Ärger und zusätzlichen Stress | |
| befürchten. Schon vor [2][der Pandemie] war einer [3][Umfrage der | |
| Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW)] zufolge die Arbeitsbelastung | |
| für Frankfurter LehrerInnen ausgesprochen hoch. Von etwa 1.800 öffentlichen | |
| Schulen in Hessen zeigten im vergangenen Schuljahr 29 mit formalen Eingaben | |
| Überlastung an. | |
| Eine Ursache dafür ist der bundesweite Mangel an LehrerInnen. Er hat unter | |
| anderem demografische Gründe. Hessen hat zudem lange unter Bedarf | |
| ausgebildet und ist von Besoldung und Pflichtstunden her ein | |
| vergleichsweise unattraktiver Arbeitgeber. Der Auf- und Ausbau von | |
| Ganztagsangeboten braucht Personal. Schlecht gemanagte Inklusion und | |
| fehlende Investitionen in Schulinfrastruktur tragen zum Mangelerlebnis bei. | |
| In der zweiten Legislaturperiode der schwarz-grünen Koalition trafen | |
| Pandemie und viele minderjährige Kriegsflüchtlinge auch hier auf ein kaum | |
| stabiles System. | |
| Versorgungslücken im Schulbetrieb werden in Hessen vor allem mit | |
| Vertretungskräften überbrückt. So genannte TV-H-lerInnen – bezahlt nach dem | |
| Hessischem Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst – werden nur befristet | |
| eingestellt und kaum fortgebildet. Kultusminister Alexander Lorz (CDU) | |
| weist gern darauf hin, wie gut Hessen „stellentechnisch“ dastehe – oder | |
| -stünde, gäbe es weder Zuwanderung, Ganztagsangebote oder Förderbedarf. | |
| Dabei haben GrundschülerInnen schon ab 2026 einen Rechtsanspruch auf | |
| Ganztagsbetreuung und auf Inklusion bereits seit einem Jahrzehnt. | |
| Lorz ist seit 10 Jahren für das Kultusministerium verantwortlich, in dem er | |
| zuvor Staatssekretär war. Zu Beginn eines jeden Schuljahres lobt er seine | |
| Arbeit. „Dank 3.300 neuer Lehrerstellen“ gäbe es in diesem Jahr „so viele | |
| Lehrkräfte wie noch nie“. Wie viele dieser Stellen tatsächlich besetzt sind | |
| und wie viele Lehrkräfte dafür ordentlich ausgebildet, macht sein | |
| Ministerium nicht transparent. Von 59.000 Stellen seien im laufenden | |
| Schuljahr 5.000 „befristet“. | |
| Lorz selbst hat schon als „sinnlos“ bezeichnet, hier „mit einer Zahl | |
| arbeiten zu wollen“. Statt vom Lehrkräftemangel spricht sein Ministerium | |
| lieber vom „Lehrkräftebedarf“: „Herausfordernd“ sei die Situation an G… | |
| und Förderschulen oder in Fächern wie Physik, Informatik oder Kunst. Zu | |
| „Einschränkungen“ käme es nur regional und lediglich bei „Zusatzangebot… | |
| wie Ganztagsangeboten oder Deutschförderung. | |
| ## Diskrepanz zum eigenem Erleben | |
| Hessische SchülerInnen spüren die Diskrepanz zwischen der Erfolgsbilanz und | |
| eigenem Erleben. Unterrichtsausfall gäbe es „in einem Ausmaß, dass man sich | |
| fragt, ob man noch von Bildung reden kann“, sagt | |
| LandesschülerInnensprecherin Louise Terhorst. In der Oberstufe mache sich | |
| Lehrkräftemangel durch ständiges Umdisponieren und dem Verlegen von Stunden | |
| in den späten Nachmittag bemerkbar. LehrerInnen wirkten „gehetzt“, | |
| Klausuren würden auch geschrieben, wenn kaum unterrichtet wurde. Viele | |
| SchülerInnen würden so zurückgelassen. | |
| Erfasst wird Unterrichtsausfall bisher nicht. Aber auch | |
| Landeselternsprecher Volkmar Heitmann nennt ihn „deutlich“. Die GEW weist | |
| auf „verdeckten Unterrichtsausfall“ hin: Stunden, in denen vertreten, aber | |
| nicht unterrichtet wird. So genannte „Vertretungskräfte Verlässliche | |
| Schule“ springen spontan ein, auch ohne jede Qualifikation und zu | |
| Stundenhonoraren im untersten zweistelligen Bereich. | |
| In welchem Umfang ist nicht bekannt, weil Schulen das selbst organisieren. | |
| Besonders schwierig sei, wenn im laufenden Schulhalbjahr Personal ausfalle, | |
| erklären zwei Frankfurter Schulleiterinnen, die anonym bleiben möchten. | |
| Dann fänden sich oft nicht einmal mehr Vertretungskräfte. | |
| Über kleine Anfragen presst der bildungspolitische Sprecher der SPD, | |
| Christoph Degen, regelmäßig Statistik aus dem Kultusminister heraus und | |
| rechnet selbst: Im vergangenen Oktober waren demnach von rund 56.000 | |
| Stellen an allgemeinbildenden Schulen über 1.300 nicht besetzt. 10.000 | |
| Lehrkräfte hatten keine Lehrbefähigung, waren also nicht ausgebildet. | |
| ## Ministerium setzt auf Entspannung in ein paar Jahren | |
| Das Ministerium geht davon aus, dass sich die Lage in zwei, drei Jahren | |
| entspannen wird. Die hessische GEW tut das nicht. Ihr Fachmann Kai | |
| Eicker-Wolf hat gerade den Bedarf der Zukunft errechnet. Seiner | |
| vorsichtigen Schätzung zufolge würde Hessen 2030 mit laufendem | |
| Ganztagsprogramm an die 12.000 zusätzliche Lehrkräfte benötigen. | |
| Der Bedarf würde sich fast verdoppeln, wollte man auch Inklusion und die | |
| Arbeits- und Lernbedingungen verbessern, vor allem in den Schulen in sozial | |
| herausfordernden Lagen. Länderspezifische Vorhersagen seien zwar mit | |
| Vorsicht zu genießen, meint Eicker-Wolf. Doch auch seine gesamtdeutsche | |
| Simulation zeigt keine Entspannung. Drastischer Lehrkräftemangel drohe | |
| künftig nicht-gymnasialen Mittelstufen. | |
| Neue Lehrkräfte will die hessische SPD gewinnen, indem fähige TV-H-Kräfte | |
| ohne Lehrbefähigung nicht nach maximal fünf Jahren vor die Tür gesetzt | |
| werden, sondern berufsbegleitend qualifiziert und entfristet. Auch die | |
| Linkspartei will deren prekäre Beschäftigung beenden, die Grünen setzen auf | |
| berufsbegleitende Nachqualifizierung. Im Wahlkampf adressieren Linke und | |
| SPD das größte Problem der deutschen Bildungspolitik: dass der | |
| Bildungserfolg von Kindern hierzulande stark von ihrer Herkunft abhängt. | |
| Im Prinzip favorisieren auch die hessischen Grünen ein chancengerechteres | |
| „skandinavisches“ Modell mit langem gemeinsamen Lernen. Doch die Partei | |
| fällt mit bildungspolitischen Vorstößen kaum auf. Weil gesellschaftlicher | |
| Konsens fehle, setzte sie schon 2013 auf „Schulfrieden“ und Kompromisse. | |
| Die sind vor allem mit dem derzeitigen Koalitionspartner nötig. | |
| Die CDU bezeichnet gemeinsames Lernen weiter als „Einheitsschule“ (früher | |
| mit Verweis auf die DDR-Diktatur) und „Gleichmacherei“. Am gegliederten | |
| Schulsystem, das sie nun entgegen aller Evidenz „Chancenschulsystem“ nennt, | |
| hält sie fest. Auch die FDP will „weltbeste Bildung für alle“ – geglied… | |
| und mit Leistungsanreizen für Lehrkräfte und Schulen: Ein Viertel ihrer | |
| SchülerInnen sollten diese „nach Eignung“ auswählen dürfen. | |
| Eine erste Hortgruppe durchbricht die Mittagsruhe, der kleine Park füllt | |
| sich mit Leben. Mit Kindern entdecke man ständig neu und lerne immer dazu, | |
| sagt Karla Licht-Schuler. Eigentlich ein schöner Beruf, für den der | |
| Kultusminister auch Heranwachsende gewinnen möchte. | |
| „Das dürften sich viele zweimal überlegen“, sagt Louise Terhorst. Denn den | |
| Arbeitsplatz kennen OberschülerInnen wie sie bereits gut. Schule ist | |
| wichtig. Die Bänke darin auch in Hessen oft zu unattraktiv. | |
| 4 Oct 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Anne Böhme | |
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