| # taz.de -- Grüner Al-Wazir über Hessen: „Regieren lohnt sich“ | |
| > Tarek Al-Wazir will Ministerpräsident von Hessen werden. Vom „Zirkus“ der | |
| > Berliner Ampel grenzt sich der Grüne ebenso ab wie von der Letzten | |
| > Generation. | |
| Bild: Weitere fünf Jahre Schwarz-Grün? Tarek Al-Wazir (re.) will Boris Rhein … | |
| taz: Herr Al-Wazir, die AfD liegt in Umfragen auf Rekordhöhe, die CDU macht | |
| ausgerechnet in Thüringen gemeinsame Sache mit ihr, [1][eine Studie | |
| verzeichnet einen deutlichen Anstieg rechtsextremer Einstellungen]. Wie | |
| gefährdet ist die Demokratie in Deutschland? | |
| Tarek Al-Wazir: Unsere Demokratie ist im Kern stabil. Aber sie wird | |
| angegriffen. Die Warnsignale werden immer lauter. Wenn Sprüche wie „Wir | |
| werden von Idioten regiert“ bei immer größeren Teilen der Bevölkerung auf | |
| fruchtbaren Boden fallen, dann dürfen wir das nicht achselzuckend zur | |
| Kenntnis nehmen. Wir als Bürgerinnen und Bürger müssen alle wieder lernen, | |
| dem zu widersprechen. Es geht um viel. | |
| Welchen Anteil haben die Grünen an dieser Entwicklung? Etwa durch das | |
| Heizungsgesetz, mit dem Sie viele Bürgerinnen und Bürger zunächst | |
| überfordert haben? | |
| Ordentlich regieren heißt für mich, nicht die Meinungsunterschiede – wie | |
| beim Heizungsgesetz – auf offener Bühne zu zelebrieren, sondern Lösungen zu | |
| präsentieren. Das hat die Ampel nicht immer gemacht. In Hessen haben Sie | |
| einen solchen Zirkus mit mir nie erlebt. Wir diskutieren mit dem | |
| Koalitionspartner hinter verschlossenen Türen und gehen dann mit einer | |
| gemeinsamen Lösung nach draußen. So möchte ich das auch als | |
| Ministerpräsident halten. | |
| Trotzdem: Wenn Sie über die schwierige gesellschaftliche Situation derzeit | |
| nachdenken, was könnten Sie, was könnte Ihre Partei ändern? | |
| Die Gefahr ist immer, zu viel in der eigenen Blase unterwegs zu sein. Und | |
| der geht es nie schnell genug. Wir als Grüne sind dafür da, die Energie-, | |
| Verkehrs- und Agrarwende voranzutreiben. Wir sind die Partei, die für eine | |
| offene und tolerante Gesellschaft steht. Aber wir müssen dabei Schritt für | |
| Schritt vorgehen, wenn wir unser Ziel erreichen wollen. Wenn wir auf dem | |
| Weg dahin die Menschen verlieren, haben wir in der Sache nichts gewonnen. | |
| Die gesellschaftliche Stimmung ist aufgeheizt, CDU-Chef Friedrich Merz hat | |
| die Grünen zum Hauptgegner erklärt, gerade hat jemand versucht, die grünen | |
| Spitzenkandidaten für [2][die Landtagswahl in Bayern] mit einem Stein zu | |
| bewerfen. Merken Sie diese Anfeindungen auch? | |
| Wahlkampf polarisiert, das war schon immer so. Aber das darf nie ein Grund | |
| sein, mit Steinen zu werfen. Wir hatten in der Geschichte der | |
| Bundesrepublik Deutschland immer wieder rechtsextreme Parteien, die stark | |
| waren. Die NPD war in den 60er Jahren nicht nur im hessischen Landtag | |
| vertreten. Als ich 1993 ins Offenbacher Stadtparlament gewählt worden bin, | |
| da saßen neben mir elf Republikaner mit 15 Prozent. Die haben wir beide | |
| wieder kleingekriegt. Und dasselbe Ziel müssen wir mit der AfD haben. Dafür | |
| brauchen wir die Gemeinsamkeit der Demokraten. | |
| Und wie erreichen Sie das? Wenn es für Sie schlecht läuft, landen Sie nicht | |
| mehr auf Platz 2 hinter der CDU, sondern auf Platz vier hinter der AfD. | |
| Sachliche Politik machen, gut regieren, erklären, was man tut und tun, was | |
| man sagt. Das gelingt uns in Hessen auch ziemlich gut. Wir liegen in den | |
| Umfragen an die 20 Prozent, deutlich über dem Bundestrend. Und ich freue | |
| ich mich natürlich darüber, dass ich unter allen drei | |
| Ministerpräsidenten-Kandidaten die höchsten Zufriedenheitswerte habe. Dazu | |
| zählt dann auch, dass man Probleme, die es gibt, klar benennt. | |
| Was meinen Sie da? | |
| Die Betreuungssituation zum Beispiel. Es kann nicht sein, dass immer noch | |
| insbesondere Frauen nach der Geburt zu Hause bleiben müssen, weil sie | |
| keinen Kita-Platz finden. Deshalb möchte ich mindestens 20.000 neue | |
| Kitaplätze schaffen. Und ich will mit unseren Wohnungsbauprogrammen | |
| weitermachen. Hessen ist eines von vier Ländern, das den Negativtrend bei | |
| den Sozialwohnungen gedreht hat. | |
| Auf sehr niedrigem Niveau. | |
| Entschuldigung, aber wenn es 25 Jahre lang bundesweit jedes Jahr weniger | |
| wurden und dann schafft man es, dass es im vergangenen Jahr 1.600 | |
| Sozialwohnungen dazukommen und wir damit mehr Familien eine bezahlbare | |
| Wohnung ermöglichen, dann ist das ein Erfolg. Klar, das müssen noch mehr | |
| werden. Aber wenn man Erfolge nicht mehr benennen kann, dann darf man sich | |
| nicht wundern, wenn die Leute denken, dass alles den Bach runtergeht. | |
| Ihr Koalitionspartner hätte bei der Frage nach Problemen sicher das | |
| Migrationsthema angeführt. Wie wollen Sie verhindern, dass die CDU die | |
| Grünen als Bremser von vermeintlich notwendigen Verschärfungen brandmarkt? | |
| Wir sind ohne Frage in einer schwierigen Situation. Viele Kommunen, Schulen | |
| und Kitas sind an der Belastungsgrenze und teilweise darüber. Ich finde, | |
| wir können als Land stolz darauf sein, dass wir so vielen Menschen, die auf | |
| der Flucht vor Krieg oder Verfolgung sind, individuellen Schutz bieten. | |
| Daran dürfen wir nicht rütteln. Gleichzeitig gilt: Wer dieses Asylrecht | |
| schützen will, muss auch dafür sorgen, dass Menschen, die kein Bleiberecht | |
| haben, das Land wieder verlassen. Beides gehört zusammen. | |
| Sie regieren seit zehn Jahren mit der CDU und einiges spricht dafür, dass | |
| es nach der Wahl damit weitergeht. Sagen Sie mal drei Gründe, warum sich | |
| Schwarz-Grün lohnt. | |
| Das Regieren lohnt sich, das hat erstmal nichts mit Schwarz-Grün zu tun. | |
| Das ist nun mal die Koalition, Ihr Ministerpräsident ist Christdemokrat. | |
| Ich sage Ihnen drei Gründe, warum es sich gelohnt hat, dass wir hessischen | |
| Grünen in der Regierung sind. Wir haben als erste gezeigt, dass Bus- und | |
| Bahnfahren mit günstigen Flatrate-Tickets möglich ist. Unser Schülerticket, | |
| das ich 2017 für einen Euro am Tag eingeführt habe, war die Blaupause für | |
| das Deutschlandticket. Und mit dem HessenPass mobil haben wir als einziges | |
| Flächenland das Deutschlandticket für Menschen mit geringem Einkommen | |
| nochmals vergünstigt. Wir haben die Energiewende vorangebracht. Mehr als | |
| die Hälfte der Stromerzeugung in Hessen ist erneuerbar. Auch damit sind wir | |
| – trotz schwieriger Bedingungen – besser als der Bund. Und wir Grüne haben | |
| den damaligen Kahlschlag der CDU bei Frauenhäusern und | |
| Schuldnerberatungsstellen mehr als rückgängig gemacht. Unser Sozialbudget | |
| mit 134 Millionen Euro ist bundesweit einmalig. | |
| Pro Bahn ist nicht so begeistert von Ihrer Politik, der Verband hat Ihnen | |
| den Negativpreis „Hessischer Hemmschuh“ verliehen. Und mit 13 neuen | |
| Windrädern im vergangenen Jahr wollen Sie sich wirklich schmücken? | |
| Nennen Sie mir mal einen einzigen Verkehrsminister, den Pro Bahn lobt. Das | |
| ist auch ok für eine Lobbyorganisation. Mir geht ja auch vieles zu langsam: | |
| Aber Projekte, über die jahrzehntelang nur geredet wurde, werden jetzt | |
| endlich gebaut. Das dritte und vierte Gleis der S-Bahn von Frankfurt nach | |
| Bad Vilbel etwa, die Nordmainische S-Bahn, die Regionaltangente West. Auch | |
| bei der Windkraft geht es voran: Wir haben die Genehmigungszeiten gerade | |
| halbiert. Und genauso wichtig: Wir sind eines von zwei Ländern, das | |
| ausreichend Flächen für Windkraft ausgewiesen hat. | |
| Wie groß ist Ihr Brass auf die Ampel und Vizekanzler Habeck, weil die Ihre | |
| Chance auf das Ministerpräsidentenamt zunichte gemacht hat? | |
| Das ist doch Quatsch. Bei der Landtagswahl ist weiter alles drin. Und ich | |
| bin auch weiterhin froh, dass Robert Habeck in dieser Krisenzeit unser | |
| Wirtschafts- und Energieminister ist. Er hat viel für die Energiewende und | |
| Versorgungssicherheit getan. | |
| In der Klimapolitik, das haben wir beim Heizungsgesetz gesehen, steckt ein | |
| enormes Verhetzungspotential. Wie kann die sozial-ökologische Wende | |
| überhaupt gelingen? | |
| Wir müssen zwei Dinge berücksichtigen: Wenn ein Teil der Menschen das | |
| Gefühl bekommt, dass Politik ihnen einen Lebensstil vorschreiben will, | |
| werden sie grantig. Und: Ein großer Teil der Gesellschaft ist durch all die | |
| Krisen veränderungsmüde. Beides kann ich verstehen. Aber die Klimakrise | |
| verlangt Veränderung. Nichts zu tun – wie es die CDU suggeriert – wird die | |
| Probleme vergrößern. Deshalb: Wir müssen verändern, damit es bleiben kann, | |
| wie es ist. Das werde ich mit Augenmaß und mit ruhiger Hand tun. Wer wie | |
| die Letzte Generation alles von heute auf morgen fordert, wird das | |
| Gegenteil erreichen. Wir werden noch langsamer vorankommen, wenn wir die | |
| Menschen auf dem Weg verlieren. | |
| So verlieren Sie einen Teil der [3][Klimabewegung]. | |
| Wir als Grüne haben ja auch Erfahrung mit zivilem Ungehorsam. Es ist aber | |
| ein Unterschied, ob ich einen Castor-Transport blockiere oder den | |
| Arbeitsweg der ganz normalen Bevölkerung. Ein Teil dieses | |
| Stimmungsumschwungs geht auch aufs Konto von Leuten, die einfach nicht | |
| verstehen, dass man in einer Demokratie Mehrheiten braucht, wenn man etwas | |
| verändern will. | |
| Nichts überstürzen, Schritt für Schritt, geräuschlos mit der CDU regieren �… | |
| das ist Ihr Rezept. Bleibt dabei nicht die Sichtbarkeit der Grünen auf der | |
| Strecke und eine mutige Klimapolitik, die notwendig ist? | |
| Nein, die Grünen sind ja sehr sichtbar und zwar in den Ergebnissen der | |
| Politik. Wir können an ganz vielen Punkten in der Landespolitik erklären, | |
| was unser Anteil daran ist, dass Hessen grüner, stärker und gerechter | |
| geworden ist. Mir kommt es immer schon mehr darauf an, wie es ist, und | |
| nicht, wie es scheint. | |
| 24 Sep 2023 | |
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