# taz.de -- Die Probleme der Kunstfreiheit: Die späten Gefangenen einer Ideolo… | |
> Wird Kunst für Propagandazwecke missbraucht, beruft man sich gern auf | |
> Kunstfreiheit. Wie deutsch dieses Konzept ist, untersucht Peter Jelavich. | |
Bild: Abgehängt: das umstrittene documenta-Werk vom Künsterkollektiv Taring P… | |
Berlin taz | Kunst sollte absolut frei sein.“ Beim Festakt zum 70-jährigen | |
Bestehen der Documenta in Kassel im Frühsommer holte Carolyn | |
Christov-Bakargiev zum großen Plädoyer für die Kunstfreiheit aus. Die | |
Kunsthistorikerin sieht in der Kunstfreiheit einen notwendigen „Stresstest“ | |
für demokratische Gesellschaften. Die Kritik an problematischen Inhalten, | |
argumentierte sie, sei oft überzogen – die Freiheit der Kunst müsse über | |
allem stehen. | |
Mit seinem vorzüglichen, spannend zu lesenden Buch stellt der Historiker | |
Peter Jelavich die meistgenutzte Kampfvokabel der [1][Documenta 15] – | |
Kunstfreiheit! – endlich einmal auf den analytischen Prüfstand. Er verfolgt | |
die juristische Kodifizierung dieses Konstrukts vom Kaiserreich bis zur | |
Bundesrepublik. Die [2][Kunstfreiheit], das zeigt der Wissenschaftler, der | |
an der Johns-Hopkins-Universität im US-amerikanischen Baltimore Kultur- und | |
Geistesgeschichte Europas lehrt, war nicht immer so gut geschützt wie | |
heute. In der preußischen Verfassung von 1850 stand nur das allgemeine | |
Recht, „durch Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung seine Meinung | |
frei zu äußern“. | |
Erst in der Verfassung der Weimarer Republik von 1919 fand sich mit dem | |
Artikel 142 ein Satz, der später fast wortgleich im Grundgesetz von 1949 | |
wieder auftauchte: „Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei.“ | |
Von der „Lex Heinze“ von 1900 bis zum „Schmutz- und Schundgesetz“ gab e… | |
Reich wie Republik freilich zahlreiche Versuche, „unzüchtige“, politisch | |
missliebige Schriften wie Gerhart Hauptmanns Schauspiel „Die Weber“, Filme | |
über gleichgeschlechtliche Liebe oder Groschenromane zu zensieren. Jelavich | |
erzählt die Geschichte der Kunstfreiheit auch als die ihrer Einschränkung. | |
Noch 1957 wurden in Düsseldorf Comics öffentlich verbrannt. | |
Der Quantensprung ereignete sich für den Historiker ab 1949. Aus dem | |
Paragrafen 5, Absatz 3 des Grundgesetzes – „Die Freiheit der Lehre | |
entbindet nicht von der Treue zur Verfassung“ – ergibt sich, was Jelavich | |
einen „deutschen Sonderweg“ nennt. Die explizit genannten | |
Wissenschaftler:innen müssen sich an die Verfassung halten, die nicht | |
genannten Künstler:innen nicht. | |
## Die Unmöglichkeit, Kunst generell zu definieren | |
Der „absoluten Freiheit“ Christov-Bakargievs näherte sich das | |
Bundesverfassungsgericht 1971 an, als es über Klaus Manns Roman „Mephisto“, | |
der vom Nazimitläufertum Gustaf Gründgens' handelt, urteilte, dass die | |
„engagierte Kunst von der Freiheitsgarantie nicht ausgenommen“ sei. Nimmt | |
man dessen Urteil von 1984 hinzu, dass die „Unmöglichkeit, Kunst generell | |
zu definieren, nicht von der verfassungsrechtlichen Pflicht entbindet, die | |
Freiheit des Lebensbereiches zu schützen“, wird das Dilemma deutlich, vor | |
dem die Documenta 15 in Kassel 2022 stand: [3][Ein tendenziell | |
antisemitisches Bild wie Taring Padis berüchtigtes Banner „People’s | |
Justice“ konnte zwar freiwillig abgehängt, hätte aber nicht verboten werden | |
können]. | |
Ein Vorgang, der sich 37 Jahre zuvor mit der Absetzung von Rainer Werner | |
Fassbinders antisemitisch grundiertem Theaterstück „Der Müll, die Stadt und | |
der Tod“ am Frankfurter Schauspiel schon einmal abgespielt hatte. | |
Kulturdezernent Hoffmann und Oberbürgermeister Wallmann kritisierten das | |
Theater, verhindern konnten sie die Aufführung nicht. Intendant Rühle zog | |
das Stück zurück. | |
Peter Jelavich gehörte 2022 zu der Kommission, die die Documenta | |
„fachwissenschaftlich“ begleitete. Er weist keinen Ausweg aus diesem | |
verfassungsrechtlichen Dilemma. Eine Mehrheit für eine Grundgesetzänderung | |
wäre nicht absehbar. Zuzustimmen ist seiner Forderung, dass „Tendenzkunst“ | |
à la Taring Padi, wenn sie sich schon auf die Kunstfreiheit beruft, auch | |
der Kritik an ihren politischen Aussagen stellen sollte. Eben das hatten | |
die Kurator:innen der Documenta, das Kollektiv Ruangrupa, abgelehnt. | |
Das eigentliche Paradox der Kunstfreiheit birgt aber der Untertitel von | |
Jelavichs Studie. Folgt man dem Historiker, dann ist Kuratorin | |
Christov-Bakargiev mit ihrem emphatischen Bekenntnis nämlich eine späte | |
Gefangene einer „Ideologie“. Für den Wissenschaftler entsprang das Institut | |
der „Kunstfreiheit“ nämlich einer spezifischen sozialökonomischen | |
Machtkonstellation des 19. Jahrhunderts. | |
Betrachtete das aufstrebende Bürgertum damals die Kunst mit Friedrich | |
Schiller als „Zwischenstation auf dem Weg zur politischen Freiheit“, zog es | |
sich nach dem Scheitern der bürgerlichen Revolution 1848/49 auf eine | |
Kunstfreiheit zurück, die ihre politischen Ansprüche aufgab und nur noch | |
der „Selbstkultivierung des Bürgertums“ diente. | |
Immanuel Kant lieferte mit seinem „interesselosen Wohlgefallen“ den | |
philosophischen Überbau für diesen „Machtdeal“. Wer sich heute auf die | |
Kunstfreiheit beruft, reanimiert also eigentlich einen Idealismus, der das | |
Gegenteil dessen bezweckte, was „engagierte“ Kunst eigentlich anstrebt. | |
10 Aug 2025 | |
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## AUTOREN | |
Ingo Arend | |
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