# taz.de -- Aktuelle Kunst und „Globaler Süden“: Eine Debatte, die keine i… | |
> Der „Globale Süden“ ist Leitlinie für Kurator Adriano Pedrosa auf der | |
> jetzigen Kunstbiennale von Venedig. Wofür steht der Begriff in der | |
> Kunstwelt? | |
Bild: Widerstand in Farbe? Fassadengestaltung von MAHKU (Movimento dos Artistas… | |
Der brasilianische Chefkurator der vor Kurzem eröffneten Kunstbiennale in | |
Venedig, Adriano Pedrosa, antwortete auf die Frage, warum er keine | |
israelischen Künstlerinnen ins Programm genommen habe, das Hauptaugenmerk | |
der diesjährigen Show liege auf dem „Globalen Süden“. Auf Nachfrage meinte | |
er, Israel sei ein wohlhabendes Erste-Welt-Land, das im Norden liege. Zum | |
Beleg verwies er auf eine einschlägige Landkarte in Wikipedia. Übertroffen | |
wurde Pedrosas schlichtes Weltbild durch eine von 18.000 Personen | |
unterzeichnete Petition, die den kompletten Ausschluss Israels von der | |
Biennale fordert. | |
Die arrogant-autoritative Einteilung der Welt in eine genehme und | |
unangenehme Welthälfte und der massenhafte Zuspruch eines Boykottaufrufs | |
gegen Israelis, der sich nun bei jeder Ausstellung zu wiederholen scheint, | |
wirft die Frage auf, warum Kunstschaffende sich vom Ideologem des Globalen | |
Südens so angezogen fühlen. Und warum sie bei einer [1][Schau unter dem | |
Motto „Foreigners Everywhere“] ausgerechnet Juden ausschließen möchten, d… | |
in der soziologischen Tradition Georg Simmels als historische Idealtypen | |
des heimat- und staatenlosen Fremden gelten können. | |
Die in den 1980er Jahren von der Weltbank zur Abgrenzung von den | |
Industrieländern eingeführte statistische Großgruppe der „südlichen“ | |
Schwellen- und Entwicklungsländer ist durch die reale Globalisierung längst | |
überholt. Manche Schwellenländer sind längst Weltmarktführer, andere sind | |
in Elend und Staatsversagen abgesackt. Eine Frühform des Terminus war die | |
„Dritte Welt“: ein Versuch der ehemaligen Kolonien, aus dem binären Schema | |
das Ost-West-Konflikts herauszukommen und zu beiden Seiten auf Distanz zu | |
gehen. | |
Die politische Form dieser Unabhängigkeitsdeklaration war die | |
Bandung-Konferenz von 1955, aus der sich eine Gemeinschaft blockfreier | |
Staaten ergab, die ihr Gewicht in den Vereinten Nationen geltend machte. Im | |
„Tiersmondismus“, einer undifferenzierten Parteinahme für | |
antiimperialistische Befreiungsbewegungen von Kuba und Algerien über | |
Vietnam und Angola bis Nicaragua, wurde diese Solidarität überhöht, und | |
schon damals war der von Mao Zedong ausgerufene „Kampf der Dörfer gegen die | |
Städte“ ein Instrument chinesischen Dominanzstrebens. | |
## Eine schreckliche Vereinfachung der Weltgesellschaft | |
Die Rede vom Global South ist eine schreckliche Vereinfachung der | |
Weltgesellschaft, die innergesellschaftliche Ungleichheiten im „Norden“ wie | |
im „Süden“ ignoriert und wichtiger noch: aktuell in der Fixierung auf | |
historische Kolonialverhältnisse die Brisanz aktueller imperialistischer | |
Aggressionen verkennt. In der heutigen Weltgesellschaft steht nicht der | |
reiche, schuldig gewordene Norden gegen den armen, unschuldig gebliebenen | |
„Süden“, es stehen rund um den Globus autokratische und diktatoriale | |
Regime. | |
Da rangieren die Staatsklassen, die sich oft aus antikolonialen | |
Befreiungsbewegungen herausgemendelt haben und deren Legitimation | |
missbrauchen und nun gegen demokratische Regierungen und Bewegungen | |
vorgehen. Aus vielen Befreiungsbewegungen wurden Unterdrückungsregime. | |
Die Formel vom Globalen Süden legitimiert somit ein von Russland und China | |
angeführtes neoimperialistisches Bündnis, das die eigene Bevölkerung | |
unterdrückt und Nachbarstaaten bedroht. Und das im Übrigen derzeit | |
Kunstwerke in der Ukraine der Zerstörung preisgibt und Kunstschaffende zum | |
Schweigen bringen will. Die einmal emanzipatorisch gedachte | |
Vergemeinschaftung der „Dritten Welt“ und der „Blockfreien“ hat sich | |
pervertiert. | |
Warum aber halten gerade Kunstschaffende so leidenschaftlich an dem | |
verrotteten Ideologem fest? Die Gründe sind vielfältig. Zum einen fühlen | |
sich Kunstschaffende immer schon und zumal bei Großereignissen wie | |
Biennalen zu politischen Stellung- und Parteinahmen berufen. Sich provokant | |
in aktuelle Streitfälle einzumischen, ist ein legitimes Merkmal engagierter | |
oder politischer Kunst, doch geht diese Einmischung oft leider einher mit | |
einer stupenden Ahnungslosigkeit über geschichtliche Zusammenhänge, | |
gesellschaftliche Komplexität und kulturelle Ambiguität und motiviert eine | |
vorlaute Parteinahme, die in krassen Fällen den reaktionären Spruch ins | |
Gedächtnis rufen könnte, Künstler sollten bilden und nicht reden. | |
## Streitgespräch anstelle Kunstwerk | |
„Debatte“, „Podium“, „Streitgespräch“ und so weiter treten vielfac… | |
Stelle des Kunstwerks selbst. Dabei pocht die Kunst (mit Recht!) auf eine | |
Freiheit, die sie andersdenkenden Kunstschaffenden, die sie wegen ihrer | |
Herkunft oder ihres Passes ablehnen, leichtfertig zu beschneiden bereit | |
ist. | |
Zum anderen melden sich zunehmend Kunstschaffende aus ehemals kolonisierten | |
Regionen zu Wort, deren Positionen lange überhört wurden, deren (wiederum | |
berechtigte!) postkoloniale Agenda aber wenig Rücksicht nimmt auf eine zum | |
Beispiel in Deutschland ebenfalls zu Recht verteidigte Sensibilität | |
gegenüber der Schoah. Deren Singularität wird vehement bestritten und als | |
Ausdruck deutschen Schuldkultus gegeißelt. Die eigene koloniale oder | |
sonstige Diskriminierungserfahrung wird zum einzigen Maßstab erhoben, auf | |
die von nicht-betroffener Seite Bezug zu nehmen im Übrigen als unzulässige | |
„Appropriation“ gilt. | |
Die eklatante Einäugigkeit dieser Identitätspolitik wird nur beim „weißen | |
Suprematismus“ erkannt, nicht im eigenen Lager. Der Verdacht liegt nahe, | |
[2][dass sich Kunstschaffende aus dem „Globalen Süden“, deren Wirkungskreis | |
oftmals ebenso oberhalb des geopolitischen Äquators angesiedelt ist, von | |
„nördlichen“ Propagandisten wie der BDS-Bewegung instrumentalisieren | |
lassen]. | |
Die „Debatte“, die keine ist, muss dringend inklusiver werden und darf sich | |
nicht länger auf selbstreferentielle Dispute eingefleischter Parteigänger | |
beschränken. Und sie darf in ihrem schrägen Nord-Süd-Zuschnitt nicht Täter | |
und Opfer verwechseln. Stellvertretergefechte auf Kunstbiennalen und in | |
Hörsälen haben weder die verbliebenen jüdischen Geiseln erlöst noch das | |
Leid der Palästinenser im Gazastreifen gemildert. Wenn Kunst politisch | |
wirken will, müsste sie sich vor allem über Prinzipien und Wege eines | |
gerechten Friedens streiten. Das wäre Solidarität mit den palästinensischen | |
Gegnern und Opfern der Hamas genau wie mit der israelischen Opposition | |
gegen die Regierung Netanjahu. | |
14 May 2024 | |
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Claus Leggewie | |
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