# taz.de -- „Kolonialismus erinnern“ im Berliner HKW: Erkämpfte Räume ver… | |
> Im Haus der Kulturen der Welt wurde das Berliner Konzept „Kolonialismus | |
> erinnern“ vorgestellt. Propalästinensische Aktivisten versuchten zu | |
> kapern. | |
Bild: Dr. Ibou Diop: Projektleiter der Veranstaltung „Kolonialismus erinnern�… | |
Die Opfer des deutschen Kolonialismus aus dem Schatten der Geschichte zu | |
befreien, das hat sich das gesamtstädtische Erinnerungskonzept | |
„Kolonialismus erinnern“ zum Anliegen gemacht. Unter der Projektleitung des | |
Literaturwissenschaftlers Ibou Diop wurde das Grundsatzprogramm für den | |
Berliner Senat fünf Jahre lang ausgearbeitet. | |
Am Prozess beteiligt waren eine Vielzahl zivilgesellschaftlicher | |
Initiativen, darunter Decolonize Berlin e. V., Dekoloniale | |
Erinnerungskultur in der Stadt, Adefra e. V. und das Stadtmuseum Berlin. | |
Nun wurde das Ergebnis im Berliner Haus der Kulturen der Welt (HKW) | |
präsentiert – doch nicht ohne Störung. | |
Wie bedeutungsvoll der sich anschließende zweitägige Kongress sein werde, | |
signalisierte Moderatorin Miriam Camara schon zu Beginn des | |
Begrüßungsprogramms: für sie ein „historischer Moment für Berlin, | |
Deutschland und auch darüber hinaus“. Worauf dieser Moment fußt, daran ließ | |
keiner der Redner einen Zweifel: auf den Errungenschaften derer, deren | |
Namen bewusst dem Vergessen preisgegeben wurden, um die Spuren kolonialer | |
Gewalt zu verwischen. | |
„Kolonialismus erinnern“ heißt für Projektleiter Diop deshalb, in Anlehnu… | |
an [1][den afrokaribischen Autor und Politiker Aimé Césaire,] aus dem Zwang | |
auszubrechen, die Gewalt der Vergangenheit zu wiederholen. | |
## Stärkung der pluralen Gesellschaft | |
Kultursenator Joe Chialo (CDU) sieht im geschichtsphilosophischen Projekt | |
vor allem ein „solidarisches Erinnern“, das auf die Stärkung der pluralen | |
Gesellschaft zielt. Folgt man aber den Worten von [2][HKW-Intendant | |
Bonaventure Soh Bejeng Ndikung], klingt das noch nach Zukunftsmusik. „Die | |
Kolonialgeschichte hat ihren Weg noch immer nicht in die Schulbücher | |
gefunden“, sagte er – das historische Moment schreie nach wirklichem | |
Wandel. | |
Zunächst schrien am Donnerstagnachmittag aber propalästinensische | |
Aktivisten: Als „Genozidleugner“ bezeichneten sie Claudia Roth und Joe | |
Chialo. Mit Palästinafahnen und Protestplakaten stürmte eine Handvoll von | |
ihnen auf die Bühne. Aufgeregt verlasen sie ein Pamphlet und riefen „Viva | |
Palestina“. | |
Während Roth sich stillschweigend in den Schatten der Bühne zurückzog, | |
griff Moderatorin Miriam Camara ruhig, aber entschlossen durch. Nach | |
einigen vergeblichen Versuchen, in den Dialog mit den monologisierenden | |
Protestlern zu treten, erhob sie ihre Stimme: „Das ist ein Raum Schwarzer | |
Menschen in Deutschland. Den haben wir uns erkämpft. Hier geht es um | |
Kolonialismus, nicht um euch.“ | |
Zur Unterstützung eilten das Awarenessteam und Projektleiter Ibou Diop. Die | |
Situation löste sich zunächst auf, es sollten noch vier weitere | |
Störversuche folgen. Das Publikum wirkte zunehmend übersättigt, viele | |
buhten, einige applaudierten. | |
## Herzstück von Roths Kulturpolitik | |
Als Claudia Roth aus dem Schatten trat, lächelte sie und sagte | |
abschließend: „Zur Demokratie gehören Kontroversen.“ Ihre Aufmerksamkeit | |
galt nur dem Berliner Erinnerungsprojekt. Das reklamierte sie als Herzstück | |
ihrer Kulturpolitik und betonte die Notwendigkeit der verantwortungsvollen | |
Aufklärung deutscher Kolonialgeschichte. | |
Ihr Ziel: „Versöhnung und Verständnis.“ Dafür lobte sie auch die | |
parteiübergreifende Initiative des Berliner Senats. Wenig Wohlwollen schlug | |
Roths Kulturpolitik letztens von den Unterzeichnern eines an sie | |
gerichteten Protestbriefs entgegen. [3][Gedenkstättenleiter und | |
Dachverbände üben darin Kritik an Roths kürzlich veröffentlichtem | |
„Rahmenkonzept Erinnerungskultur“.] Die Befürchtung: NS-Verbrechen drohten | |
so relativiert zu werden. | |
Kritik wie diese versuchte man auf der Bühne zu verhindern, bevor sie | |
aufkam: Nachdem die Störer gescheitert waren und Claudia Roth noch vor | |
einem sie adressierenden Beitrag [4][der Autorin Sharon Dodua Otoo] | |
gegangen war, suchten Ibou Diop und der Autor Max Czollek in einem | |
vorgetragenen Briefwechsel nach Gemeinsamkeiten im Verschiedensein zweier | |
Erinnerungskulturen. Die fanden sie im Gefühl der Trauer um die Opfer, aber | |
auch im Gefühl der Liebe, der Solidarität zwischen Betroffenen, das dem | |
falschen Denken in „Opferkonkurrenzen“ entgegenstehe. | |
## Lernort zum Kolonialismus | |
Im Spektakel aus Protest, Musik, Utopie und geschichtsgroßen Gefühlen | |
drohte schließlich unterzugehen, dass es konkrete Forderungen an die | |
Politik gibt. Unter anderem: die Schaffung eines zentralen Lern- und | |
Gedenkortes Kolonialismus, der Ausbau der Forschung zur | |
Kolonialgeschichte, die Umbenennung von Straßen und die Etablierung einer | |
Stiftung zur Förderung der Erinnerungsarbeit. | |
In Berlin solle konkret etwas in der Wilhelmstraße 92 geschehen, gab | |
Kultursenator Chialo bekannt. Er könne sich dort einen Lernort zum | |
Kolonialismus vorstellen. Momentan betreibt das Stadtmuseum dort den | |
Projektraum „Dekoloniale“. Die Adresse ist reichlich vorbelastet: Otto von | |
Bismarck hatte hier seine Reichskanzlei. 1884/85 wurde in den Räumen die | |
sogenannte Kongokonferenz abgehalten, wo die Aufteilung des afrikanischen | |
Kontinents in Kolonien beschlossen wurde. | |
26 Apr 2024 | |
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## AUTOREN | |
Jonathan Guggenberger | |
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