# taz.de -- Gedenkstätten-Leiterin über Claudia Roth: „Man muss behutsam vo… | |
> Elke Gryglewski, Leiterin einer KZ-Gedenkstätte, kritisiert Claudia Roths | |
> Ideen zur Erinnerungspolitik. Deren Paradigmenwechsel sei | |
> kontraproduktiv. | |
Bild: Das befreite KZ Bergen-Belsen im April 1945, von einem Wachturm aus fotog… | |
Als Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) im Februar den Entwurf | |
eines „Rahmenkonzepts Erinnerungskultur“ veröffentlichte, schlugen die | |
Gedenkstätten in Deutschland Alarm. Der Entwurf leite einen | |
„geschichtspolitischen Paradigmenwechsel“ ein, hieß es in einem Brief, den | |
die Dachverbände der Gedenkstätten und Erinnerungsorte der NS- wie SED-Zeit | |
unterschrieben und ans Bundeskulturministerium (BKM) schickten. Roth hatte | |
in ihrem Entwurf die Erweiterung der Erinnerungskultur um die Felder | |
Kolonialismus, Migrations- und Demokratiegeschichte in den Raum gestellt. | |
Die Befürchtung der Gedenkstätten: Nationalsozialistische Verbrechen | |
drohten relativiert, SED-Unrecht bagatellisiert zu werden. | |
taz: Frau Gryglewski, warum reagierten die Gedenkstätten so einhellig auf | |
den Entwurf aus dem Haus der Kulturstaatsministerin? | |
Elke Gryglewski: Unsere Kritik entzündete sich vor allem daran, dass dieser | |
Entwurf kein Entwurf für eine Konzeption, ein Programm ist. Die | |
Gedenkstättenkonzeption hat bis dato immer eine Analyse der Situation der | |
Gedenkstätten beinhaltet und Herausforderungen benannt. Dieses | |
Rahmenkonzept jetzt war eher eine Wunschliste, was man normativ machen | |
wollte. Aber wir finden alle jetzt sehr produktiv, dass die Gedenkstätten | |
mit dem BKM noch mal ins Gespräch gehen. | |
Geplant war, das Gedenken an NS-Diktatur und SED-Zeit um die Säulen | |
Migrationsgeschichte, Demokratiegeschichte und Kolonialismus zu erweitern. | |
Was ist daran falsch? | |
Für meine Begriffe gehen zwei dieser Säulen bereits in den Komplexen NS- | |
und SED-Diktatur auf. Die Migrationsgeschichte ist definitiv ein | |
Querschnittthema. Demokratiegeschichte im Grunde genommen auch, da diese in | |
den Gedenkstätten behandelt wird. Was ich durchaus für sinnvoll erachte, | |
ist, dass das Thema Kolonialismus aufgenommen wird. | |
Die deutsche Kolonialgeschichte prominenter in die Erinnerungskultur | |
einzubinden, wird schon seit einigen Jahren gefordert. Im Mittelpunkt | |
[1][des sogenannten Historikerstreits 2.0] steht die Frage, ob die | |
Fokussierung auf den Holocaust die Auseinandersetzung mit den | |
Kolonialverbrechen erschwert. Wie sehen Sie das? | |
Ich halte es für sinnvoll, wenn man sich über Kontinuitätslinien unterhält. | |
Die NS-Zeit beginnt ideologisch gesehen nicht 1939. Gleichzeitig ist es | |
falsch, eine Linie ziehen zu wollen, die vom Genozid an den Herero und Nama | |
direkt nach Auschwitz führt. Gerade was rassistisches Denken angeht, gibt | |
es aber Verflechtungen. [2][Die KZ-Gedenkstätte Neuengamme] hat zum | |
Beispiel ein sehr gutes Projekt entwickelt, was das Verhältnis von | |
Kolonialrassismus, Antisemitismus und Antislawismus im Nationalsozialismus | |
in den Blick nimmt. Ohne falsche Parallelen zu ziehen oder das eine mit dem | |
anderen gleichzusetzen. Ein anderes Beispiel: In diesem Jahr soll in Berlin | |
eine Gedenkstätte am Sitz der ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft an der | |
Freien Universität eröffnen. | |
Dort wurde von 1927 bis zum Ende der NS-Zeit zu Eugenik geforscht und | |
„Rassenforschung“ betrieben. | |
Ja. Jemand wie Josef Mengele hat dort gelernt. So einen Ort halte ich für | |
sehr sinnvoll: Beziehungsgeflechte aufzeigen, ohne in historische | |
Falschheiten zu verfallen. | |
Orte mit doppelten Bedeutungen gäbe es einige, etwa [3][die Potsdamer | |
Garnisonkirche, wo 1933 der erste Reichstag der Nazis stattfand.] In der | |
Kaiserzeit riefen die Pfarrer der Kirche dazu auf, an den Kolonialkriegen | |
teilzunehmen. Wie kann es gelingen, am selben Ort an verschiedenste | |
geschichtliche Epochen zu erinnern? | |
Einfach so alle Geschichten an einem Ort zu erzählen, ist kontraproduktiv. | |
Wenn wir in Bergen-Belsen versuchen wollten, Antisemitismus in all seinen | |
Ursprüngen zu erklären, wäre das für die Besucher nur verwirrend. Das ist | |
auch nicht die Aufgabe der Gedenkstätten. Anders verhält es sich mit | |
pädagogischem Material oder Sonderausstellungen. Man muss behutsam vorgehen | |
und weitergehende Themenkomplexe nicht losgelöst vom Kern der Geschichte | |
des Ortes behandeln. | |
Den Gedenkstätten ist es wichtig, sich erinnerungspolitisch auf staatlich | |
verübte Verbrechen zu konzentrieren. Warum? | |
Weil dabei der Staat als Staat Verantwortung übernehmen muss. Bei von | |
Terrororganisationen verübten Morden ist die Auseinandersetzung eine völlig | |
andere. [4][Für die Hinterbliebenen der vom NSU Ermordeten etwa ist es | |
natürlich wichtig, Orte zu haben, wo sie sich erinnern oder gedenken | |
können.] Ich bin der Meinung, dass die Geschichte des Rechtsterrorismus | |
aber nicht losgelöst erzählt werden kann von den Gedenkstätten. Bei | |
Rechtsextremen ist Schuldabwehr ein wichtiges Thema, die Glorifizierung von | |
Hitler. Rechtsterrorismus fängt nicht mit dem NSU an. Beispielsweise hat | |
schon in den 70er Jahren der Neonazi Michael Kühnen versucht, in | |
Bergen-Belsen einen Anschlag zu verüben. Sich in den Gedenkstätten mit | |
Rechtsextremismus auseinanderzusetzen, ist also total sinnvoll. Nur, das | |
ist nicht gemeint, wenn von Erinnerungskultur zu Rechtsterrorismus | |
gesprochen wird. | |
Der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald Jens-Christian Wagner hat mehrfach | |
die Sorge geäußert, dass ein möglicher Wahlerfolg der AfD in Thüringen | |
seine Arbeit massiv beeinflussen würde. Wie sehen Sie das in Niedersachsen? | |
Am 20. April findet in Unterlüß der Landesparteitag der AfD Niedersachsen | |
statt. Wir als Stiftung haben offiziell zur Teilnahme an der Demo dagegen | |
aufgerufen, weil die AfD die Partei ist, die unsere Arbeit hinterfragt. Die | |
Gedenkstätten haben heute schon unter rechtsextremen Anschlägen zu leiden. | |
In den letzten Wochen haben wir in Bergen-Belsen erstaunlich viele anonyme | |
Anrufer gehabt, die den Holocaust leugneten, antisemitische Äußerungen | |
tätigten oder „Arbeit macht frei“ in den Hörer schrien. Im letzten Jahr g… | |
es einen direkten Anschlag auf den Sitz der Stiftung niedersächsische | |
Gedenkstätten. Das Thema tangiert uns, es tangiert uns natürlich auf andere | |
Art und Weise als die Angehörigen der Opfer des NSU. Aber ich halte es für | |
nicht sinnvoll, diese Geschichten losgelöst voneinander zu bearbeiten. | |
Natürlich macht es keinen Sinn, etwa den NSU direkt in unseren | |
Ausstellungen zu thematisieren, weil wir ohnehin merken, dass das Wissen um | |
die Geschichte immer lückenhafter wird. Aber wir bieten Fortbildungen an, | |
etwa zu Stammtischparolen. Das tun viele Gedenkstätten. | |
Workshops zu Stammtischparolen erreichen eine bestimmte Altersgruppe. Wie | |
bringen sie Schüler:innen den Nationalsozialismus nahe, deren Großeltern | |
die NS-Zeit schon nicht mehr miterlebt haben? | |
Die Zeit der Konzentrationslager ist für Jugendliche emotional genauso weit | |
entfernt wie die Französische Revolution oder die Nürnberger Prozesse, so | |
ist meine Erfahrung. Aber wenn sie anfangen, sich damit | |
auseinanderzusetzen, erleben wir, dass sie dann auch sehen: So weit weg ist | |
das nicht. Die Geschichte hat nicht 1945 geendet, sondern da gibt’s viele | |
Längsschnitte bis in die Gegenwart. | |
Und das alles vor dem Hintergrund, trotzdem die Singularität des Holocausts | |
herauszustellen. | |
Natürlich, das ist die Herausforderung. | |
Können und wollen Sie als Gedenkstätte auf den zunehmenden Antisemitismus | |
im Kontext des Nahostkonflikts reagieren? | |
Nach dem 7. Oktober haben wir vermehrt antisemitische Zuschriften bekommen. | |
In unserer Bildungsabteilung wurde lange diskutiert darüber, ob und wie wir | |
unsere Bildungsangebote verändern müssen. Wir sind insofern vom | |
Nahostkonflikt betroffen, als dass in Israel noch viele Überlebende und | |
ihre Nachkommen leben, mit denen wir im Kontakt stehen. Zudem besuchen uns | |
täglich Schulklassen mit Kindern, die jüdisch sind oder Angehörige im | |
Gazastreifen haben. An diesen Stellen geht es oft um Haltung. Ich kann in | |
einer Bildungsveranstaltung einem Kind, das emotional betroffen ist, | |
Empathie entgegenbringen, ohne dass ich eine Stellungnahme zum | |
Nahostkonflikt abgeben muss. Das ist nicht die Aufgabe der Gedenkstätten. | |
21 Apr 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Historikerstreit-20/!5835129 | |
[2] /KZ-Gedenkstaette-Neuengamme/!5960316 | |
[3] /Garnisonkirche-Potsdam/!5998931 | |
[4] /NSU-Dokumentationszentrum-in-Chemnitz/!6005197 | |
## AUTOREN | |
Julia Hubernagel | |
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