# taz.de -- NS-Dokuzentrum München: Ein paar Zentimeter Holz | |
> Im NS-Dokuzentrum München folgt eine Ausstellung rechten Gewalttaten seit | |
> 1945. Angehörige von Ermordeten gerieten dabei oft ins Visier der | |
> Ermittler. | |
Bild: Nach dem rechten Terroranschlag am 26.9.1980 auf dem Oktoberfest München… | |
„Das bisschen Totschlag bringt uns nicht gleich um“, texteten die Goldenen | |
Zitronen im Jahr 1994, infolge der rechtsextremen Mordanschläge von | |
Hoyerswerda, Rostock und Mölln und prangerten darin eine bundesdeutsche | |
Kultur des Wegsehens, Verschweigens und systematischen Kleinredens rechten | |
Terrors an. Der Song der [1][Hamburger Punkgruppe] ist nun als Teil der | |
Münchner Sonderausstellung „Rechtsterrorismus – Verschwörung und | |
Selbstermächtigung 1945 bis heute“ im [2][NS-Dokumentationszentrum München] | |
zu hören. | |
Wie die Statistik zur politisch motivierten Gewalt ausweist, könnte der | |
Anlass der Schau aktueller und dringlicher nicht sein. Laut vorläufiger | |
Zahlen des Bundesinnenministeriums zählte die Polizei im vergangenen Jahr | |
bundesweit 28.945 rechtsextreme Delikte. 2022 waren es noch 23.493 solcher | |
Taten. Eingegraben in das Münchner Stadtgedächtnis haben sich besonders die | |
rechtsterroristischen Anschläge von 1980 auf dem Oktoberfest und 2016 am | |
und im Olympia-Einkaufszentrum. | |
Die Landeshauptstadt war aber ebenso Schauplatz zweier Tötungsdelikte | |
[3][der Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrund (NSU).] | |
Lebensmittel-Geschäftsinhaber Habil Kılıç und der Gewerbetreibende | |
Theodoros Boulgarides waren in den Jahren 2001 und 2005 Opfer der | |
heimtückischen Mörderbande. | |
Ihr Andenken – sowie das vieler bundesweiter Anschlagsopfer – stellt die | |
vom Memorium Nürnberger Prozesse entwickelte Ausstellung, die bis Ende Juli | |
in den Räumlichkeiten des NS-Dokumentationszentrums zu sehen sein wird, in | |
den Vordergrund. „Perspektivwechsel“ heißt der | |
[4][Dokumentationszentrumsdirektorin Mirjam Zadoff] zufolge ein leitender | |
Gesichtspunkt der Schau. | |
## Opferfamilien zu Täterverdächtigen gemacht | |
Die Sicht Betroffener soll nach Jahren gesellschaftlicher Versäumnisse, | |
Gleichgültigkeit und – besonders perfide – der falschen behördlichen | |
Verdächtigung, Geltung erlangen. Viele der Opferfamilien wurden in der | |
Folge der rassistisch motivierten NSU-Taten selbst zu Tatverdächtigen. | |
Medienberichte und Behördenkommunikation insinuierten eine | |
„Milieu-Kriminalität“, wo es keine gab. | |
In welcher historischen Kontinuität solche Taten wie die des NSU und der | |
jüngsten Zeit, wie des Attentats von Hanau, stehen, zeigt die von den | |
Kuratoren Steffen Liebscher und Rebecca Weiß ersonnene multimediale | |
Ausstellung höchst eindrücklich. „Anerkennen, Aufklären, Verändern“ lau… | |
der dreiteilige Imperativ, der als Schriftzug der Ausstellung vorangestellt | |
ist. | |
In vier Kapiteln und mehr als 20 nationalen wie internationalen Fällen | |
behandelt die Dokumentation rechtsterroristische Gewalttaten zwischen 1945 | |
und heute. Die ungebrochene Kontinuität des rechten Terrors weisen die | |
Ausstellungsmacher unter anderem anhand des Sprengstoffattentats der | |
terroristischen Vereinigung „Odessa“ auf die Nürnberger Prozesse 1946, des | |
Doppelmordes von Erlangen an dem deutschen Rabbiner Shlomo Lewin und seiner | |
Lebensgefährtin Frida Poeschke im Jahr 1980 sowie der Tat von Hanau mit | |
ihren neun Mordopfern im Jahr 2020 nach. | |
Zahlreiche Bild- und Schriftdokumente belegen die Tathergänge, beleuchten | |
aber auch mediale Darstellung und öffentliche Rezeption der Fälle. | |
## Die Tür der Synagoge von Halle | |
Der Türrahmen des Synagogen-Eingangs von Halle hielt im Jahr 2019 dem | |
Sprengsatz und dem Beschuss des Attentäters stand und verhinderte den | |
geplanten Massenmord in der Synagoge. Für die Rechtsterror-Schau wurde der | |
originale Türrahmen an den Münchner Ausstellungsort verbracht. Wie ein paar | |
Zentimeter Holz allein einem noch weit schlimmeren Tatausgang im Wege | |
standen, davon lässt das NS-Dokuzentrum so ein eindrückliches Bild | |
entstehen. | |
Auch das Massaker von Utøya und der Mordanschlag auf zwei Moscheen im | |
neuseeländischen Christchurch finden Eingang in die thematisch überaus | |
dichte Zusammenstellung. In den kommenden Wochen wird die Sonderausstellung | |
von einem Diskursprogramm am Haus begleitet, das mit dem Vortrag und der | |
Diskussion der Forschungsergebnisse von Historikerin Barbara Manthe letzte | |
Woche seinen Anfang nahm. | |
Die Forscherin der Uni Bielefeld konzentriert sich auf die Nachkriegsjahre | |
bis 1990. Laut der ehemaligen Referentin für den Parlamentarischen | |
Untersuchungsausschuss zum NSU ist die rechtsradikale Gewalt im | |
gesellschaftlichen Maßstab bis heute nicht bewältigt sowie als | |
geschichtswissenschaftlicher Gegenstand unterforscht. Ihr Befund, im | |
Hinblick auf die Kriminalisierung von Angehörigen des NSU-Terrors: ein „in | |
negativer Weise außergewöhnlicher“ Vorgang, dessen Debatte über angebliche | |
Verstrickungen Jahre anhielt. | |
Manthe zeigte in ihrem Vortrag mitunter auch, wie zivilgesellschaftliche | |
Gruppen Marginalisierter zunehmend um gesellschaftliche Teilnahme rangen, | |
mit dem Ergebnis, dass „die Stimmen der Angehörigen heute viel präsenter | |
sind“. | |
3 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Chris Schinke | |
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