| # taz.de -- Neues Album von Die Goldenen Zitronen: „Euer Karma ist eh längst… | |
| > Weniger Poltern, trotzdem mehr Dringlichkeit. Wie das geht, zeigt die | |
| > Hamburger Band mit ihrem neuen Album „More Than a Feeling“. | |
| Bild: „Die Goldene Zitrone“ poltert nicht mehr so doll, hat aber noch Wumms | |
| Die Autoindustrie produziert weiter und die Raser rasen weiter in den | |
| Erzeugnissen der Autoindustrie. Wobei, der Peak Oil ist bereits erreicht, | |
| das Zeitalter der Benzinschleudern geht allmählich vorüber. Dinosaurier | |
| haben es den Goldenen Zitronen angetan. Ihr kommende Woche erscheinendes | |
| neues Album heißt „More Than a Feeling“, wie ein Song der Melodic-Rocker | |
| Boston von 1976. „Unser Reichtum ist kein Ölscheichtum“, lautet ein Reim, | |
| den sich die Zitronen in ihrem Song „In der Schleife“ darauf machen. | |
| Wie Arsch auf Eimer passt diese Sentenz zur gerade schwelenden [1][Debatte | |
| über ein Tempolimit] auf den Autobahnen, als Maßnahme, um die | |
| Luftverschmutzung einzudämmen und damit die Klimaerwärmung aufzuhalten. | |
| Wundersamerweise tauchen Pkw auf dem neuen Album auch in einem Song auf, | |
| und zwar – wie könnte es bei den Zitronen anders sein – als Fetische, mit | |
| denen Bürgerinnen ihre Distinktion unter Beweis stellen. | |
| „Besondere Autos“, wie es im Song „Mauern bauen (testweise)“ heißt, �… | |
| die sie auch unbedingt fahren wollen“. Darin malt sich Zitronen-Sänger | |
| Schorsch Kamerun, der eine Lehre zum Kfz-Mechaniker abgeschlossen hat, aus, | |
| was passiert, wenn rechtspopulistische Forderungen erfüllt werden und eine | |
| Mauer als Bollwerk dient. Auch Statussymbole – Autos – werden darin | |
| eingehegt. | |
| „Ich dachte mir, wenn ihr die Mauer unbedingt wollt, zieht sie doch einfach | |
| hoch, so als Wagenburg“, erklärt Kamerun beim Gespräch mit der taz im | |
| Berliner Café Einstein seine Idee für einen gespenstischen Text über | |
| Abschottung, der von einem nagelnden Sequenzerbeat windelweich geprügelt | |
| wird. Wie oft auf „More Than a Feeling“ wirkt das Subjekt, das „Mauern | |
| bauen (testweise)“ singt, sehr bestimmt; man merkt, es ist die repetitive | |
| Musik, die die Paranoia, wie sie aus dem Gesangsvortrag spricht, | |
| rauskitzelt. | |
| ## Mauern und Zäune | |
| Mauern und Zäune sind zentrale Gegenstände in den Songtexten auf dem Album: | |
| Hindernisse, die die Band als textliche Gegenstände auch genauso sperrig | |
| vermittelt, aber musikalisch spielend überwindet. Es wabert und pfeift in | |
| diesem cool-unbehaglichen und äußerst einprägsamen Musikbett, das die | |
| Zitronen bereiten. Mal wird nur über Zäune geraunt im Tenor der | |
| Fake-News-Verhetzung, dies dann auch umgehend zurückgewiesen: „Die Leute | |
| würden jetzt verlangen, einen Zaun zu errichten / Das wollen eigentlich | |
| alle / Eine glatte Lüge“ („Katakombe“). | |
| Mal dient, wie in dem Song „Gebt doch endlich zu, euch fällt sonst nichts | |
| mehr ein“, eine Mauer als Ultima Ratio der „edlen Erfinder der | |
| Menschenrechte“, die „in Wahrheit outgesourcte Knechte“ bräuchten, um ih… | |
| „fuckin’ Privilegien“ zu schützen. Es ist eine Art Gefährder-Ansprache … | |
| Politiker und Wirtschaftsbosse, durchaus als Drohung: „Euer Karma ist doch | |
| eh schon längst versaut.“ Die Musik kühlt den Text runter, eine zischelnde | |
| Hi-Hat und schlangenbeschwörende Gitarrenakkorde, jeweils kurz angespielt | |
| und es flutscht. | |
| Ein weiterer Begriff, den die Zitronen abtasten wie ein Geschwür, ist | |
| „Volk“. In dem Song „Heimsuchung“ wird er zum Punching-Ball, den | |
| verschiedene Sänger zu fassen bekommen und elegant weiterboxen, dass einem | |
| ganz schwindlig wird. Zu merken ist daran auch, dass die Bandmitglieder auf | |
| dem neuen Album arbeitsteiliger als früher zu Werke gehen. Nicht mehr nur | |
| Schorsch Kamerun und Ted Gaier teilen sich das Mikrofon, sondern auch Mense | |
| Reents und Enno Palucca tragen zum Gesang bei. Als Gäste sind Sophia | |
| Kennedy und Latoya Manly-Spain dabei, auch das tut der Musik gut. „Wir | |
| haben verstanden, dass die Einfachheit von Rockmusik für uns eine | |
| langweilige Aufführungspraxis ist“, sagt Kamerun. | |
| „More Than a Feeling“, das 13. Werk der 1984 gegründeten Punkband, ist zu | |
| einem Paket komprimiert. Durch die musikalische Rahmung als züngelnder | |
| New-Wave-Elektronik-Lurch setzt das Album seine Themen präzise und spielt | |
| sie konsequent durch: Wie immer ist die Textsprache der Zitronen ein | |
| Klärwerk, das medialen Müll, Selbsthilfe-Manuals und Bonmots der | |
| politischen und ökonomischen Verlautbarungen filtert und in die | |
| Punk-Kanalisation abfließen lässt. | |
| ## Drumsound verleiht Wumms | |
| Vom Auftaktsong, dem [2][Wutbürger]-Porträt „Katakombe“, bis hin zum | |
| G20-Dokudrama-Finale „Die alte Kaufmannsstadt, Juli 2017“ entsteht eine | |
| rasant tönende und scheppernde Chronik der letzten Jahre. In der | |
| Vergangenheit geriet die Stringenz der Goldies-Argumentation durch die | |
| eigene lustvolle textliche Zerstörungswut und das musikalische Torpedieren | |
| von Flow gelegentlich unter die Räder. Diesmal ist das anders. | |
| Wenn „More Than a Feeling“ wie aus einem Guss klingt, liegt das an der | |
| funktionalen elektronischen (Nach-)Bearbeitung. Songs wurden nicht live | |
| als Band eingespielt, sondern in Einzelteilen aufgenommen, gesampelt und im | |
| Mix als Arrangement am Mischpult wieder zusammengesetzt. Keyboarder Reents | |
| hat sie produziert. Auch der Drumsound wird von elektronischen | |
| Schlagzeugen erzeugt, was dem Wumms der Zitronen klinische Kälte verleiht | |
| und den Texten viel mehr Nachdruck. | |
| In den Arbeitsabläufen mögen die Zitronen nun routinierter vorgehen, aber | |
| deswegen klingen die Songs noch lange nicht ausrechenbar. Für „More Than a | |
| Feeling“ hat diese besondere Konstellation von Charakteren großartige Songs | |
| ersonnen. „Das Projekt Goldene Zitronen ist künstlerisch ein sehr | |
| elementares Ding, weil, das haben wir gelernt, das ist eine sehr eigene | |
| Kombination“, erklärt Ted Gaier. | |
| ## Manchmal kafkaesk | |
| Wie Alfred Hitchcock in seinen Filmen taucht die Band auch mal selbst in | |
| ihren Songs auf. „Bleib bei mir“, zusammen mit Sophia Kennedy, ist sogar | |
| eine Art Liebeslied mit dem Gesang von Kamerun und Kennedy. Und „Die alte | |
| Kaufmannsstadt, Juli 2017“ ist ein Song über die Riots beim | |
| Weltwirtschaftsgipfel in Hamburg, die in der direkten Nachbarschaft der | |
| Band derbe Verwüstungen angerichtet haben. | |
| Selbstkritisch besingen die Zitronen darin die Streitigkeiten innerhalb der | |
| linken Szene und ihre eigene Involviertheit als Vorband bei der Demo | |
| „Welcome to Hell“ sowie das [3][verheerende Bild der Gewaltexzesse], das | |
| medial genüsslich ausgeschlachtet wurde. „Wir urteilen auch im Namen | |
| unseres Zweifels, selbstreflektierend und ausprobierend. Texte müssen erst | |
| mal durch Instanzen, wir diskutieren sie zuerst, dadurch werden sie | |
| besser“, schildert Kamerun die Mühsal, mit der sich die Goldenen Zitronen | |
| beim Komponieren konfrontiert sehen. | |
| Obwohl die Hamburger weniger poltern und draufhauen als früher, klingen die | |
| neuen Songs deshalb nicht weniger dringlich. Manchmal schalten sie aber um | |
| auf Kafkaesk. „Du sieht aus wie Katakombe / Dein Look ist nicht gerade | |
| Bombe“ als Refrain zu einem Song, der dokumentarisch montiert, wie sich der | |
| irrational verängstigte Zorn im | |
| Das-wird-man-ja-wohl-noch-sagen-dürfen-Modus Bahn bricht, geht nur, weil | |
| ihn die Zitronen auch so hysterisch durchgeknallt singen. | |
| ## Bundesdeutsche Befindlichkeiten | |
| Auch das Lokalkolorit wird sehr bewusst gepflegt. Ihr stomping ground St. | |
| Pauli hat sich von einem der ärmsten Viertel Europas Anfang der Achtziger | |
| zu einem poshen Hipsterort gewandelt. „Wir sind da Protagonisten und haben | |
| mit den Orten zu tun, über die wir singen. Und wissen, dass Gentrifizierung | |
| auch ambivalent ist, das haben wir reflektiert. Wir sind gute Beispiele für | |
| etwas. Auch was unsere Biografien anbelangt, mit den Inhalten, in den | |
| Themen, mit denen wir umgehen, die sich teilweise gedreht haben“, erklärt | |
| Kamerun. | |
| „More Than a Feeling“ verhandelt mit Fake News, Xenophobie und bigotter | |
| bürgerlicher Empörung Themen, die eigentlich schon reichlich diskutiert | |
| sind. Besonders wird die Verarbeitung aber durch das dialektische | |
| Pingpong-Spiel, wie es die Zitronen diesmal an den Tag legen. | |
| Bundesdeutsche Befindlichkeiten haben die Band schon immer elektrisiert. | |
| Wahrscheinlich sind das Unversöhntsein mit den herrschenden Verhältnissen | |
| und die Wut über das Spießertum Raison d’Être der Zitronen. | |
| Dass sie es sich in ihrem Zorn nicht zu gemütlich machen, beweist der | |
| selbstironische Song „Das war unsere BRD“, darin werden Allgemeinplätze, | |
| Farbabstufungen und Gesellschaftsmodelle nach altem Brauch des Punk | |
| beerdigt. „Als jemand, der sich für Irritationen interessiert, für | |
| Anwendungen davon, in der Kunst und auch darüber hinaus, finde ich Punk | |
| wunderbar und es lässt sich auch als eine Methode begreifen.“ Eine Bürde | |
| ist Punk für die Zitronen natürlich auch, aber es gibt weit schlimmere | |
| Bürden. Raser zum Beispiel. | |
| 1 Feb 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Kommentar-Tempolimit-in-Deutschland/!5565175 | |
| [2] /Kolumne-German-Angst/!5554301 | |
| [3] /Ein-Jahr-nach-dem-G20-Protest/!5516415 | |
| ## AUTOREN | |
| Julian Weber | |
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