# taz.de -- Sänger über 40 Jahre Goldene Zitronen: „Eine Band, die weiter m… | |
> Schorsch Kamerun ist Sänger der Goldenen Zitronen. Zum Bandjubiläum | |
> spricht er über mundgeblasene Sektflöten, die Kunstsammlung von Mathias | |
> Döpfner und „Bravo“-Homestories. | |
Bild: Hits und Nieten: Die Goldene Zitronen zeigen alte Arbeitskluft und deren … | |
taz: Schorsch Kamerun, Ihre Band, die Goldenen Zitronen,veröffentlicht nun | |
auch ein Best-of-Album: Ist „Inventur“ der Beweis, das Punk endgültig tot | |
ist? | |
Schorsch Kamerun: Verstehe ich nicht, die Frage. | |
taz: Ein Best-of hat etwas Abschließendes, oder nicht? | |
Kamerun: Es ist eine Inventur, alle paar Jahre macht man einen Schnitt, | |
schaut mal wieder zurück und mistet aus. | |
taz: Also kein Abschied? | |
Kamerun: Das ist nicht der Grund. Wir haben uns auf das 40-jährige | |
Bandjubiläum eingelassen und fanden, wir sollten uns wieder mal gemeinsam | |
als Goldene Zitronen zeigen. Wir sehen uns als Teil einer Szene. Deswegen | |
fahren wir jetzt auch nicht allein auf Tour, sondern als Band mit vielen | |
Gästinnen und Gästen. [1][Anlass war auch, als mit Kristof Schreuf ein | |
wichtiger Teil unseres Umfelds 2022 verstorben ist.] Da haben sich viele | |
wiedergetroffen und gemerkt, dass diese Zusammenkunft von Leuten aus einer | |
bestimmten Zeit mit ihrer spezifischen Geschichte ziemlich einzigartig in | |
den Goldenen Zitronen zusammenkommt. Und, dass man das einfach bedienen | |
muss. | |
taz: Mit welchem Ziel? | |
Kamerun: Es entsteht eine Melange aus politischem Aktivismus mit einer | |
Aussagekraft, die wir über die Goldenen Zitronen an die Öffentlichkeit | |
tragen. [2][Die Leute verbinden was mit unserer Musik.] Ich freue mich zwar | |
jetzt nicht darauf, durch die Lande zu fahren. Trotzdem lohnt es sich, die | |
Goldenen Zitronen in Betrieb zu halten, weil wir mit unserer inhaltlichen, | |
politischen, aber nicht antiquierten Haltung innerhalb von Popkultur eine | |
Einzigartigkeit haben, die es braucht. | |
taz: 40 Jahre sind Sie nun in verschiedenen Besetzungen unterwegs, das ist | |
sehr lange für eine Band. | |
Kamerun: Ja, die meisten Bands erfinden was, und stärken oder behalten es | |
dann. Die Stones müssen „Satisfaction“ spielen, wir aber nicht „Für imm… | |
Punk“. Wir haben uns extrem verändert über die Jahre. Und versucht, uns | |
immer mit Gegenwart auseinanderzusetzen. Der Nachteil ist aber, wir spielen | |
unsere alten Sachen nicht, das können wir nicht mehr, weil diese Songs für | |
uns überhaupt nicht mehr funktionieren. | |
taz: Auch nicht auf einer Jubiläumstour? | |
Kamerun: Nein, wir fassen sie zwar auf dem Best-of-Album zusammen, aber wir | |
werden jetzt nicht im „Dorfkrug“ spielen. Nichts dagegen, aber es ist nicht | |
mehr contemporary. Wir können doch nicht so tun, als wären wir immer noch | |
eine junge, ungestüme, aggressive Punkband, die darauf setzt, dass das | |
Irritation hervorruft. Wir können auch nicht an dem Punkt sein, Anfang der | |
Neunziger, wo wir ganz verdichtet, eine fast schon eindimensional politisch | |
greifende Gruppe sein mussten. | |
taz: Wer sind die Goldenen Zitronen denn jetzt dann? | |
Kamerun: Jetzt sind wir ein bisschen ein amorphes Alles. Wir schmeißen da | |
als Kollektiv ganz viel rein, aber es bleiben eben trotzdem immer die | |
Goldenen Zitronen. Dafür werden wir auch so geschätzt, und da entsteht dann | |
so eine charakteristische Atmosphäre. Das ist keine Nostalgie! Eher so, wie | |
wenn du an den Ort gehst, der noch so funktioniert und wo nicht eben nur | |
einfach die alten Hits gespielt werden, sondern an dem noch was passiert. | |
taz: Also kein Funpunk mehr? | |
Kamerun: Definitiv nein, wir sind wie eine Kunstform, die weiter morpht. | |
Schon als wir Mitte der 80er Jahre noch Funpunk waren, waren wir skeptisch | |
und immer selbstwidersprüchlich. Wir haben unseren Markenkern nicht noch | |
mehr verstärkt, sondern weitergemacht. | |
taz: Welches Material spielen Sie auf Tour? | |
Kamerun: Wir spielen natürlich vieles aus unserem großen Oeuvre, haben aber | |
Gäste dabei, die ältere Sachen teils übernehmen. Wir graben natürlich auch | |
selbst nach hinten und gucken, was wir heute adäquat vertreten können, ohne | |
uns zur Verstärkung die Klamotten vom Leib zu reißen, was wir auch mal | |
getan haben. | |
taz: Wer ist Teil Ihrer Szene heute? | |
Kamerun: Wir sind lange in unterschiedlichsten Szenen angekommen. Bei | |
Bandgründung 1984 fand ich zum Beispiel Kunst per se scheiße, mit nur | |
Schnöseln und Bänkern in White Cubes, plus ihren mundgeblasenen Sektflöten. | |
taz: Aber die Goldenen Zitronen machen doch auch Kunst? | |
Kamerun: Schon – aber übrigens, auch Theater empfand ich als etwas | |
ausschließend Vollelitäres. Und ja, es gibt dort weiterhin bekämpfenswerte | |
Strukturen und Hierarchien, aber eben auch viel progressiven Diskurs und | |
Leute, die denken. Unsere Herkunft bleibt die solidarische Politszene, das | |
Umfeld von Hamburger Hafenstraße, Rote Flora, das ist Teil unserer | |
Geschichte. Ästhetisch waren wir dabei immer undogmatischer als andere. | |
taz: Also keine Punkklischees? | |
Kamerun: Wir wollten nicht nur Punk sein, sprich schwarze Lederjacke, | |
kleine Patches, Pyramidennietengürtel, hartmännische Slogans. Trotzdem | |
waren wir politisch verlässlich. Das ist die Melange, die ich als Szene | |
betrachte. Clubkultur ist natürlich ein weiterer wichtiger Aspekt. | |
taz: Inwieweit waren Sie politisch auf Linie? | |
Kamerun: Zum Beispiel wollten wir keine große Plattenfirma. 1990 hat uns | |
Tim Renner angeboten, fünf Majorlabel-Alben zu produzieren, bei einer | |
Laufzeit von 15 Jahren: Was für ein Wahnsinn! Man hat uns viel Kohle | |
geboten, inklusive Homestorys in der Bravo. Die Goldenen Zitronen sind am | |
Ende kein erfolgreiches ökonomisches Unternehmen. Aber damit sind wir | |
zufrieden. | |
taz: Wie haben Sie die Songs für „Inventur“ ausgewählt? | |
Kamerun: Das soll ein Überblick sein, der abbildet, wie sich die Gruppe | |
gewandelt hat. Für mich hatten wir drei „Karrieren“. Einmal die frühe: die | |
Überzeichnung von BRD-Wirtschaftswunderhorror, mit der wir zu Funpunkzeiten | |
anfingen. Wir kamen sauber an der Kante nach dem Wirtschaftswachstum, nach | |
den 68ern, wo man zu 100 Prozent alles ablehnen konnte. | |
taz: Inwiefern? | |
Kamerun: Man hat sich als Punk nihilistisch gegeben, und war trotzdem sehr | |
politisch. Dann noch Schlager persiflieren, das war zunächst radikal. | |
Anfang der 1990er mussten wir uns dann eindeutig definieren. Haben | |
angefangen, längere Songtexte zu machen, sind HipHop-Kollaborationen | |
eingegangen oder haben uns Liedermacher angeschaut, um wegzukommen von der | |
Strophe-Refrain-Verkürzung und schlichten Parolen. Um uns dann Ende der | |
90er Jahre erneut zu öffnen und uns weiter auszuprobieren, mit Freejazz, | |
Krautrock Elektronik und E-Musik. | |
taz: Wo bleibt die Gegenwart? | |
Kamerun: Heute können wir uns bei allem bedienen. Weiter Punk spielen wie | |
1984, das wäre jedoch albern. Inzwischen irritiert vielleicht was ganz | |
anderes, Texte zu Musik ohne Beats etwa. | |
taz: In einem Interview meinten Sie, dass die kritischste Kunst am | |
schnellsten im Museum landet. | |
Kamerun: Ja, das ist so. Das Cover von unserem Album „Lenin“, eines unserer | |
besten Werke, finde ich – stammt vom Maler Daniel Richter. Sein Bild heißt | |
„Lonely Old Slogan“, er hat einen Punker in Nietenlederjacke abgebildet. | |
Das ist ein großes Kunstwerk, das teuer verkauft wurde und jetzt auf einer | |
Ausstellung von Bild-Chef Döpfner in der Potsdamer Villa Schöningen hängt. | |
Wir sind nicht im Mainstream gelandet, weil wir es auch verhindert haben, | |
was auch immer Mainstream ist. | |
taz: Mainstream ist ein komisches Wort, oder? | |
Kamerun: Vielleicht ist ja auch Mainstream, wenn wir vor 1.000 Leuten live | |
spielen oder im Radio laufen. [3][Aber wir sind schon eine Zeitinsel. Oder | |
vielleicht lebendige Erinnerungskultur.] Womöglich sind wir auch ein | |
fahrendes Anti-Museum. Wir vertreten dieses Offensein und DiY-artige aus | |
einer bestimmten Zeit. | |
taz: Was für eine Zeit war das? | |
Kamerun: Als wir in den frühen 1980ern in St. Pauli ankamen, fanden wir | |
erst mal eine Umgebung vor, die keiner wollte. Man hat einfach den | |
Schlüssel gekriegt und gesagt bekommen: [4][Macht irgendwas mit dem Laden, | |
den braucht keiner. Daraus wurde dann der Pudel Club.] Und man konnte eben | |
mit 150 D-Mark zu sechst am Fischmarkt in einer WG wohnen. Also das | |
Gegenteil von heute. Das Wichtige ist, dass es sich ausprobieren ließ, ohne | |
Businessplan und ohne Druck, liefern zu müssen. Wir hatten auch jahrelang | |
Zeit, bevor sich irgendjemand interessiert hat. Das war unsere große | |
Chance. Wir waren Bohème auf der untersten Etage. | |
taz: Wäre das heute noch möglich? | |
Kamerun: Eher nicht. Wir brauchten kein Geld. Aber das „Waste your | |
time“-Prinzip ist längst vorbei. Experimentieren ist durch die | |
Gentrifizierung schwerer geworden. Heute wird zudem viel schneller | |
ausprobiert, eingepackt und weggeschmissen. Wir konnten in Ruhe testen, | |
ohne Scheinwerfer drauf. Die ersten vier, fünf Jahre trafen sich immer | |
dieselben Leute auf Konzerten in der BRD, es stand in keiner Zeitung, es | |
gab kein Tiktok. | |
28 Nov 2024 | |
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## AUTOREN | |
Ruth Lang Fuentes | |
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