| # taz.de -- Nigerianische Kunst in Venedig: Die zersplitterte Utopie | |
| > Das krisengebeutelte Nigeria präsentiert sich auf der Kunstbiennale in | |
| > Venedig selbstbewusst. Welches Bild will das Land von sich vermitteln? | |
| Bild: Stimmen aus Lagos: Precious Okoyomons Installation „Pre-Sky/ Emit Light… | |
| Verträumt mischt sich der Klang Hunderter kleiner Glocken mit dem Rascheln | |
| von Gras und Blättern im Wind. Dazu kommen Stimmen aus Lautsprechern, die | |
| von Bewegungssensoren gesteuert sind. | |
| Als von Pflanzen umschlungener Sendeturm steht die Installation „Pre-Sky/ | |
| Emit Light: Yes Like That“ der nigerianisch-amerikanischen Künstlerin | |
| Precious Okoyomon im Innenhof eines Palazzos aus dem 16. Jahrhundert in | |
| Venedig. Dort präsentiert sich Nigeria noch bis Ende November [1][auf der | |
| 60. Kunstbiennale], seit 2015 das zweite Mal mit einem eigenen | |
| Länderpavillon. | |
| Den nationalen Auftritt organisiert hat das gerade erst in Benin-City | |
| entstehende Museum of West African Art (MoWAA). Man kennt vielleicht die | |
| Renderings von seinem erdfarbenen, flachen Bau, entworfen vom international | |
| gefeierten aber seit MeToo-Vorwürfen gegen ihn wieder aus dem Rampenlicht | |
| zurückgetretenen [2][ghanaisch-britischen Architekten David Adjaye.] | |
| Das neue MoWAA im Bundesstaat Edo galt in der Restitutionsdebatte länger | |
| als jenes Haus, in dem auch die an Nigeria wieder [3][zurückgegebenen | |
| sogenannten Benin-Bronzen] aufbewahrt werden könnten – bis im letzten Jahr | |
| Präsident Muhammadu Buhari verfügte, die in Sammlungen weltweit | |
| verhandelten Objekte dem Oba zu übereignen. Und der Oba, als Nachkomme des | |
| einst beraubten Königshauses von Benin, hätte für sie lieber ein eigenes | |
| Museum. | |
| ## Kein Platz für kulturpolitische Unstimmigkeiten | |
| Solch kulturpolitische Unstimmigkeiten aus Nigeria sollen aber offenbar in | |
| Venedig keine Rolle spielen. Denn Aindrea Emelife, die Kuratorin für | |
| zeitgenössische Kunst im zukünftigen MoWAA, legt mit ihrem Programm | |
| „Nigeria Imaginary“ einen selbstbewussten Auftritt des Landes hin. | |
| Acht in der Diaspora lebende Künstler*innen hat sie eingeladen. Die | |
| meisten von ihnen sind wie Okoyomon prominent im internationalen | |
| Kunstbetrieb etabliert. Sie alle vermitteln das Bild von einem Nigeria, das | |
| seit seiner Unabhängigkeit von der britischen Kolonialherrschaft 1960 | |
| politisch und wirtschaftlich zwar tief gespalten ist, aber für die | |
| Kulturwelt wichtige Stimmen hervorgebracht hat. Die Biennale, sie ist auch | |
| Politik mit den Mitteln der Kunst. | |
| Okoyomon, die 1993 in London geboren wurde und bis zu ihrem siebten | |
| Lebensjahr in Nigeria lebte, hat für die Klanginstallation im Hof des | |
| Palazzos unterschiedlichsten Menschen auf den Straßen von Lagos dieselben | |
| zehn Fragen gestellt. Etwa „Beschreiben Sie einen Morgen, an dem Sie ohne | |
| Angst aufgewacht sind“ oder „Was hat das Leiden Ihrer Mutter verursacht?“ | |
| Sachte schallen nun in Venedig die Ängste, Albträume und alltäglichen | |
| Gewalterfahrungen in Nigeria hin zu den Biennalebesucher:innen, aber auch | |
| Träume und Wünsche. | |
| Viele hätten geantwortet, sich nicht zu erinnern, wann sie das letzte Mal | |
| ohne Angst aufgewacht seien, erzählt Okoyomon im taz-Gespräch während der | |
| Ausstellungseröffnung. „Das ist eine Reibung von Energie, die sich durch | |
| die Städte zieht. Wie eine ständige Vibration, eine Urangst.“ Sie selbst | |
| trage ein „zersplittertes Nigeria“ in sich, da sie mit ihrer Mutter in den | |
| USA aufwuchs, aber jeden Sommer bei ihrem Vater in Lagos verbrachte. | |
| Die Glocken habe sie in Benin-City herstellen lassen, dem Gebiet des | |
| schillernden vorkolonialen Königreichs Benin, dessen Reichtum sich | |
| zeitweilig selbst aus dem Sklavenhandel mit den Europäern speiste: „Der | |
| Klang trägt Erinnerung.“ | |
| ## Erinnerungen an den Biafra-Krieg | |
| Wie persönliche Erinnerungen mit der Trauer über die Geschichte des Landes | |
| verbunden sind, zeigt auch die Installation „Ilé Oriaku (House of | |
| Abundance) von [4][Toyin Ojih Odutola]. Die Künstlerin, 1985 im | |
| nigerianischen Ilé-Ifè geboren, in Kalifornien und Alabama aufgewachsen und | |
| heute in New York lebend, wurde bekannt durch ihre mehrschichtig mit | |
| schwarzem Kugelschreiber gezeichneten Figuren. Den Hintergrund lässt sie | |
| dabei häufig weiß, so wird die Haut zum Ort, an dem die Bildzusammenhänge | |
| entstehen. | |
| Im Palazzo hat Odutola ihre Malereien in hinterleuchtete Glaskästen | |
| geheftet. Durch das Glas etwas verschwommen, fällt der Blick auf die | |
| persönliche Erinnerung der Künstlerin an ihre kürzlich verstorbene | |
| Großmutter. Die alte Frau, eine Igbo, jene Bevölkerungsgruppe Nigerias, um | |
| die sich auch 1967 der nigerianische Bürgerkrieg entfesselte, stellt sie in | |
| einem Mbari-Haus dar. | |
| Die Tradition dieser nach einem Versöhnungsritual in der Landschaft | |
| zerfallenden, [5][offenen Bauten ist während der britischen | |
| Kolonialherrschaft und den Folgen des Biafra-Kriegs] verloren gegangen. Auf | |
| ihren Bildern macht Odutola das Mbari Haus nun zu einer Utopie. „Ich | |
| schaffe mir meine Heimat in meiner Arbeit. Das ist das Nigeria, in dem ich | |
| leben möchte“, sagt die Künstlerin. | |
| Über die aktuelle Situation von Frauen oder der drastischen | |
| Anti-LGBTQ-Gesetzgebung in Nigeria möchte sich die offen queer lebende | |
| Künstlerin nicht äußern. Während der Arbeit an den Bildern hörte sie viel | |
| nigerianische Highlife-Musik aus der Zeit, als ihre Großmutter eine junge | |
| Frau war, in der Zeit der Post-Unabhängkeit der 1960er Jahre, als im Land | |
| kurz Aufbruchstimmung herrschte. | |
| ## Restitution der Benin-Bronzen | |
| Mit seinem „Monument to the Restitution of the Mind and Soul“ (Denkmal zur | |
| Wiedergutmachung von Verstand und Seele) greift der 1962 in London | |
| geborene, nigerianisch-britische Künstler Yinka Shonibare erneut die | |
| Diskussion um die Restitution der vielen Tausend 1897 von den Briten | |
| geraubten Benin-Bronzen auf. | |
| Wie so häufig wendet Shonibare dafür den Kunstgriff der Entfremdung an: | |
| Eine Reihe von historischen Bronzen ließ er durch Ton nachbilden. Den | |
| Kopien setzte er die Büste des damals für die „Strafexpedition“ in Benin | |
| leitenden Offiziers Sir Harry Rawson entgegen. In einer Vitrine, „analog zu | |
| den Artefakten, die aus ihren rituellen Kontexten herausgenommen wurden“, | |
| so der Künstler im Gespräch. | |
| Rawsons Büste ist, [6][wie es Shonibares Skulpturen häufig sind,] mit dem | |
| Muster vermeintlich traditioneller westafrikanischer Textilien bemalt. Die | |
| Waxprints sind jedoch in der Kolonialzeit nach dem Vorbild indonesischer | |
| Stoffe in Holland gefertigt worden (heute werden die bedruckten Textilien | |
| viel in China produziert) und fanden in Westafrika einen sehr guten Absatz. | |
| „Viele Menschen verstehen nicht, dass die aktuellen Probleme Nigerias aus | |
| der Erfahrung kolonialer Unterdrückung kommen“, so Shonibare. „Sie haben | |
| sich bis heute in die Psyche eingeschrieben.“ | |
| 26 Aug 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Rundgang-ueber-die-Biennale-von-Venedig/!6003127 | |
| [2] /Architekturbiennale-Venedig/!5932988 | |
| [3] /Restituierte-Benin-Bronzen/!5907410 | |
| [4] /Kunstmesse-Art-Basel/!6014466 | |
| [5] /Goldener-Loewe-fuer-nigerianischen-Kuenstler/!5935960 | |
| [6] /Diversitaet-von-Kunst/!5008548 | |
| ## AUTOREN | |
| Maxi Broecking | |
| ## TAGS | |
| Biennale Venedig | |
| Postkolonialismus | |
| Nigeria | |
| zeitgenössische Kunst | |
| Nigeria | |
| Nigeria | |
| Fotografie | |
| Biennale Venedig | |
| Biennale Venedig | |
| Biennale Venedig | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Terror in Nigeria: 130.000 Boko-Haram-Mitglieder entwaffnet | |
| Immer wieder verübt die Terrorgruppe Boko Haram Anschläge im Nordosten von | |
| Nigeria. Viele Mitglieder haben zuletzt ihre Waffen niedergelegt. Warum? | |
| Bewusstlos vor Gericht: Die jungen „Landesverräter“ von Nigeria | |
| Nach den Protesten im August wurden auch Minderjährige wegen „Landesverrat“ | |
| verhaftet. Beim Prozess zeigt sich, wie sie im Gefängnis behandelt wurden. | |
| Der Fotograf Samuel Fosso im Kindl: Endlich ein Schwarzer Papst | |
| In seiner Kunst schlüpft der in Kamerun geborene Fotograf Samuel Fosso in | |
| immer neue Rollen. Derzeit ist diese in einer Ausstellung in Berlin zu | |
| sehen. | |
| Aktuelle Kunst und „Globaler Süden“: Eine Debatte, die keine ist | |
| Der „Globale Süden“ ist Leitlinie für Kurator Adriano Pedrosa auf der | |
| jetzigen Kunstbiennale von Venedig. Wofür steht der Begriff in der | |
| Kunstwelt? | |
| Artwashing bei der Kunstbiennale Venedig: Kritisch im Auftrag der Autokratie | |
| Usbekistan und Saudi-Arabien sind repressive Autokratien. Auf der | |
| Kunstbiennale in Venedig machen sie mit scheinbar betörenden Kunstwerken | |
| Politik. | |
| Propalästinensische Kunst in Venedig: Das Accessoire der Stunde | |
| Auf der Biennale in Venedig kreist propalästinensische Kunst um ein | |
| Narrativ von Scholle und Wurzel. Was hat das bitte mit Kurt Cobain zu tun? |