# taz.de -- Rundgang über die Biennale von Venedig: Feiert lieber die Vermengu… | |
> Die Hauptausstellung macht die Künstler des Globalen Südens fremder, | |
> als sie tatsächlich sind. Der deutsche Pavillon ist dagegen | |
> überwältigend. | |
Bild: Ein Fackelträger im deutschen Pavillon, reingestellt von Yael Bartana | |
Eine Flut an Bildern überfällt einen, als würde sich der ganze Globus | |
während der nun eröffneten Kunstbiennale auf diese romantisch dahinrottende | |
alte Seemachtsstadt verengen. | |
An den Wänden in den Gassen kündigen Poster an, was Venedig – und die | |
vielen noch kommenden Besucher:innen – hier nun in den nächsten Monaten | |
erwartet: Die blaue postapokalyptische Wüste eines Pierre Huyghe, der in | |
der Sammlung des schwerreichen Franzosen François Pinault zu sehen ist. | |
Äthiopiens erster Biennale-Auftritt überhaupt in Venedig mit den fein | |
gezerrten, ockerfarbenen Figuren des Malers Tesfaye Urgessa. | |
Auch der im New Yorker Untergrund [1][verschwundene Boris Lurie] wird | |
angekündigt. Der Holocaust-Überlebende Lurie, dessen radikale No-Art der | |
1960er Jahre so hart Kapitalismuskritik, Pornografie und Schoah verbindet, | |
dass sie bislang in Kunstmuseen keinen Platz finden konnte. Und zwischen | |
diesen dichten Eindrücken in den Straßen prangen die knallroten Flugblätter | |
der Kunstaktivist:innen von ANGA, der Art Not Genocide Alliance. | |
„No Genocide Pavillon“ steht darauf, an den israelischen Pavillon | |
gerichtet. Dessen Künstlerin Ruth Patir hatte ihre Ausstellung jetzt | |
[2][gar nicht erst eröffnet.] Nur Patirs Video mit einem düsteren | |
Demonstrationszug knollartiger Kreaturen – vermutlich die Mütter, die sie | |
zum Thema ihres Beitrags machen wollte – lässt sich durch die Glaswand des | |
israelischen Pavillons erspähen. Die Türen bleiben zu. | |
Als dann am Mittwoch bei der Voreröffnung ein Mob [3][Demonstrant:innen | |
vor den israelischen Pavillon] in die sonnigen Giardini zog und im gut | |
eintrainierten Rhytmus „Shut it down“ skandierte, war seine Parole | |
eigentlich schon obsolet geworden. | |
## Überschattet vom Gazakrieg | |
Der Gazakrieg, er überschattet diese Biennale. So sehr, dass der andere | |
Krieg in Europa, der Angriff Russlands gegen die Ukraine, kaum mehr | |
Beachtung findet. Wenn es nicht auch unter den 88 Länderpavillons der | |
diesjährigen Ausgabe Solidaritätsbekundungen gäbe: Bei den Österreichern | |
lässt Künstlerin Anna Jermolaewa ukrainische Balletttänzerinnen schon | |
einmal den Schwanensee für den Regimewechsel in Russland proben. | |
Beeindruckend und bedrückend ist die Videoinstallation der ukrainischen | |
Open Group im polnischen Pavillon. Einzelne Geflüchtete, groß auf die | |
Rückwände projiziert, ahmen das Geräusch von russischem Kriegswerkzeug | |
nach, um dann das Publikum zu bitten, den Klang zu wiederholen: „Sch sch | |
sch sch trrrr“, „Gagagagagagakmm“ – allein der Versuch, die Wucht der | |
Kampfgeräte mit dem eigenen Stimmorgan nachzuahmen, erschüttert. | |
Man kann sagen, diese ist eine Biennale der kulturellen Behauptungen. | |
Jeffrey Gibson, der erste Indigene überhaupt, der den US-amerikanischen | |
Pavillon bespielt, knüpft mit akribischer Dichte Glocken, Perlen und Fäden | |
zu majestätischen folkloristischen Gestalten zusammen, bestickt sie mit | |
Symbolen der indigenen Bürgerrechtsbewegung in den USA, um dann im letzten | |
Raum eine Tänzerin in einem seiner farbprächtigen Gewänder in einen | |
knallharten Technobeat aufgehen zu lassen. | |
Gibson stellt nicht den Anspruch auf kulturelle Eigenheit, sondern er | |
feiert die Vermengung verschiedener Einflüsse zu etwas Neuem. Im | |
albanischen Pavillon setzt Iva Lulashi auf weibliche Selbstbestimmung, wenn | |
sie ihr Atelier nachbauen lässt. In dessen verwinkelten Kammern hängen ihre | |
schlüpfrigen Malereien, Szenen aus Erotikfilmen, doch Sex erahnt man nur. | |
In diese Gemengelage setzt sich nun die geradezu sanfte Hauptausstellung | |
der Biennale. Ihr Kurator, der Brasilianer Adriano Pedrosa, der auch in São | |
Paulo das Kunstmuseum MASP leitet, lässt einen geschmeidig durch die | |
mächtigen Hallen des Arsenals und durch den Hauptpavillon in den Giardini | |
gleiten. Man gerät bei ihm in einen sinnlichen Fluss an Farben, abstrakten | |
Formen, Miniaturmalereien, vorbei an den Hard-Edge-Malereien eines Mahmoud | |
Sabri aus dem Irak der 1960er, an den textilen Wimmelbildern der anonymen | |
Arpilleristas aus dem Chile der Pinochet-Diktatur. | |
## Neue Medien meidet Adriano Pedrosa | |
Neue Medien, gar die immersiven Großinstallationen der letzten | |
Biennalejahre meidet er. Stattdessen zeigt Pedrosa Kunst in klassischen | |
Genres aus dem 20. Jahrhundert bis heute. Man kann einiges entdecken. Die | |
voluminösen kubistischen Figuren der argentinischen Malerin Juana Elena Diz | |
aus den 1960er Jahren. | |
Oder Fred Graham, ein Maori aus Neuseeland. In den frühen 1970er Jahren | |
schnitzte er mythische Sprüche in industriell vorgefertigte Holzstücke und | |
legte dabei eigensinnige Reliefkollagen an, die mit ihren | |
geometrisch-repetitiven Konturen auch an den Bildhauer Constantin Brancusi | |
erinnern können. | |
Sein Sohn Brett Graham bricht absolut ins Dreidimensionale aus: Ein | |
hölzerner Karren steht mitten im Arsenal. Die Seitenbalken zu zwei riesigen | |
Händen geformt, als würden sie gleich nach den Besucher:innen langen | |
und sie in seinen mit Schlangenornamentik überzogenen Bauch ziehen. Fred | |
und Brett Graham sind in Neuseeland prominent, hier kennt sie kaum einer. | |
„Foreigners Everywhere“ betitelt Adriano Pedrosa seine Schau, „Fremde | |
überall“ auf Deutsch. Entlehnt hat Pedrosa diesen schönen Titel von der | |
fiktiven Künstlerin Claire Fontaine, einer Konzeptkunstfigur des | |
italienisch-britischen Duos Fulvia Carnevale und James Thornhill. Der | |
Spruch prangt als rosafarbene Neonlichtskulptur über dem Eingang der | |
Arsenale, hängt auch später noch einmal in vielen Sprachen und Farben von | |
der mächtigen Werfthalle wie ein bunter Wortregen überm Gewässer. | |
Doch das gewitzte Sprachspiel von Claire Fontaine, das eigentlich alle zu | |
Fremden macht, wird von Pedrosa in dieser Ausstellung wieder zurückgedreht. | |
Er will Künstler:innen aus dem „Globalen Süden“ in Venedig zeigen, will | |
den Fokus auf diejenigen legen, die über Dekaden von der westlichen | |
Kunstwelt nicht beachtet wurden. Das ist ein gutes Anliegen. | |
## Die Marginalisierten identifizieren | |
Doch Pedrosa muss die von der Kunstgeschichte Marginalisierten erst einmal | |
identifizieren, sie vielleicht mehr zu Fremden machen, als sie es sind. Die | |
vielen hundert Künstler:innen seiner Schau benennt er als queer, | |
migrantisch oder als solche, die einer Geografie entstammen, die sich von | |
Lateinamerika über Afrika – unter Aussparung Israels – bis nach Südostasi… | |
zum sogenannten Globalen Süden subsumiert. | |
Dabei scheint Pedrosa sich mit der Identität als künstlerischer Kategorie | |
keinen Gefallen getan zu haben, visuell schön angeordnet, hängt die Kunst | |
hier häufig in einem luftleeren Raum. Hätte Pedrosa die Übersehenen der | |
jüngeren Kunstgeschichte nicht ganz selbstverständlich als Teil einer | |
globalen Kunst positionieren können, ohne diese soziogeografische | |
Trennlinien ziehen zu müssen? | |
Der deutsche Beitrag ist womöglich der aufwändigste auf dieser ganzen | |
Biennale, und er ist der K[4][uratorin Cağla Ilk] gelungen. Den Nazibau in | |
den Giardini mit seiner braunen Vergangenheit hat Ilk noch brauner werden | |
lassen, erdbraun, asbeststaubbraun, teerbraun. Theaterregisseur Ersan | |
Mondtag hat das gesamte Innere in aschbraunen Staub getränkt. Staub aus | |
Anatolien, wo sein Großvater geboren wurde, Asbeststaub aus einer Berliner | |
Fabrik, in der sein Großvater als Gastarbeiter bis zur Erkrankung | |
schuftete. | |
## Vielleicht klappt ein Zusammenkommen | |
In der Apsis des nunmehr stickigen Tempels lässt die israelische Künstlerin | |
Yael Bartana auf einer monumentalen Projektionsfläche ein mythisches | |
Zeremoniell ablaufen. Priesterinnen und Fackelläufer beschwören in der | |
heroischen Ästhetik von Leni Riefenstahls Olympiafilmen etwas Göttliches | |
herauf. Das taucht auch tatsächlich auf: ein Raumschiff, ein | |
dystopisch-utopisches Gefährt für eine Zivilisation im All nach der | |
Apokalypse. | |
In diese überwältigende Szenerie rammt Ersan Mondtag schließlich einen | |
vierstöckigen kleinen Bau. Darin befindet sich das Archiv über das harte | |
Gastarbeiterleben seines Großvaters und eine Wohnung, eingerichtet im Mief | |
der DDR. Es läuft anatolische Musik, fällt Geschirr auf den Boden, knarzt, | |
während von Bartanas Raumschiff ein steter tiefer Bass die Halle | |
erschüttert. | |
Eine Kakofonie, doch schwingt sie immer wieder in einen Einklang. Der | |
Sound, er setzt eine warme Message in den braunen Staub: Womöglich klappt | |
das doch mit dem Zusammenkommen, zunächst auf dieser Biennale, vielleicht | |
auch in unseren Gesellschaften. | |
Anmerkung der Redaktion: In einer vorherigen Version dieses Texts wurde im | |
Zusammenhang mit dem Beitrag der Künstlerin Anna Jermolaewa | |
fälschlicherweise von einem spekulativen Sieg der Ukraine über Russland im | |
jetzigen Ukrainekrieg gesprochen, gemeint war jedoch ein Regimewechsel in | |
Russland. | |
19 Apr 2024 | |
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## AUTOREN | |
Sophie Jung | |
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