Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Filmemacher Steyerl und Radynski: „Eher ein fraktaler Kolonialism…
> Hito Steyerl und Oleksiy Radynski über Verstrickungen russisch-deutscher
> Gasgeschäfte und ihr Kunstprojekt „LEAK. Das Ende der Pipeline“ in
> Leipzig.
Bild: Pipeline-Röhren um Filmcollagen: Ausstellungsansicht „LEAK. Das Ende d…
taz: Oleksiy Radynski, wieso interessieren Sie sich als Künstler aus der
Ukraine für die Gasgeschäfte zwischen Deutschland und der russischen
Föderation?
Oleksiy Radynski: Manchmal schaue ich ungläubig auf die immense Korruption
durch russische Oligarchen und Lobbyisten für fossile Brennstoffe, die
lange in Deutschland stattgefunden hat. Sie nahm unheimliche Formen an, als
2014 die ukrainische Krim von der russischen Armee besetzt wurde. Die Welt
schien beschlossen zu haben, das zu akzeptieren. Nord Stream 2
manifestierte diese Okay-Haltung. Das Pipeline-Projekt begann erst 2015,
ein Jahr nach der Krimannexion. Das wirkte wie ein Zeichen, dass Putin die
Ukraine einfach nehmen kann, solange das Gas strömt. Die historische
Gastransitinfrastruktur in der Ukraine wurde durch Nord Stream 2
überflüssig. Bei der erneuten russischen Invasion 2022 verstand man das
auch außerhalb der Ukraine.
Als zentral [1][gilt in Ihrer Installation ein Gas-Deal von 1970], der auch
die Neue Ostpolitik Willy Brandts markieren sollte: Mannesmann liefert die
Röhren für den Bau der Pipeline von Sibirien durch die Ukraine in die BRD,
die Deutsche Bank finanziert und die UdSSR liefert das Gas. Im Hintergrund
zog Wirtschaftsmann Otto Wolff von Amerongen die Fäden. Wer ist der Mann,
Hito Steyerl?
Hito Steyerl: Er war ein einflussreicher Industrieller, hatte die Firma
seines Vaters geerbt, der schon in den 1920er Jahren den Export von
Gasröhren in den Kaukasus vorantrieb. Im Auftrag des NS-Regimes handelte
Wolff von Amerongen mit Aktien und Wertgegenständen, auch jene, die
Jüd:innen enteignet worden waren, um Rohstoffe für panzerbrechende
Munition für die Wehrmacht zu kaufen. Und nach dem Krieg, als
Nazi-Geschäfte in Deutschland einfach weitergingen, wurde er zu einem
wichtigen politischen Makler. Von 1955 bis 2000 war er Vorsitzender vom
Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft. Zu seiner Zeit im NS hat er nie
Stellung bezogen.
Oleksiy Radynski: Wolff von Amerongen war ein Ideologe der Losung „Wandel
durch Handel“. Er war überzeugt, dass man mit der Sowjetunion Geschäfte
machen müsste, damit sie den Kommunismus aufgibt. Er wollte den
sowjetischen Parteibossen zeigen, wie reich sie persönlich werden können.
Mit anderen Worten: Er wollte sie korrumpieren. Als die Sowjetunion
zusammenbrach, sagten die Parteieliten sich: „Okay, klar, lasst uns all
diese enormen Ressourcen und Reichtümer privatisieren.“ So entstand der
Putinismus. 20 Jahre später hatten wir eine umgekehrte Korruption: eine
extraktivistische, russische Wirtschaft, die die deutsche Politik mit dem
Versprechen vom billigen Gas erkaufte. Das Leben von Millionen Ukrainern
war Teil des Rabatts.
Sie zeigen in Ihrer Filmcollage auch moderne Gasförderanlagen von Gazprom,
Hito Steyerl. Was sind das für Aufnahmen, wie haben Sie diese ästhetisch
verarbeitet?
Hito Steyerl: Meine Filmcollage besteht großteils aus PR-Material der Nord
Stream AG. Man konnte es von der Website runterladen und frei verwenden.
Auf fünf Bildschirmen wird dann das Filmmaterial von links nach rechts
geschoben, wie entlang einer Pipeline. Der Transport fossiler Brennstoffe
soll sich so in der Bewegung von Bild und Information spiegeln.
Die massiven Umweltschäden der Gasförderung in Sibirien tauchen in Ihrem
Film auf, Oleksiy Radynski, und der politische Druck auf die indigene
Bevölkerung dort. Warum bringen Sie dies in die Form eines Roadmovies aus
den 1980ern?
Oleksiy Radynski: Wir nennen den Film auch einen antikolonialen Roadmovie.
Er besteht aus Filmmaterial der 1980er Jahre, das ich im Kyjiwer
Wissenschaftsfilm-Archiv gefunden habe. Ukrainische Filmemacher:innen
hatten damals Reisen nach Sibirien und in die Arktis unternommen. Für mich
ist es wie Rohmaterial für einen Roadmovie, der noch fertigzustellen ist.
Aber es birgt eine komplexe Kolonialdynamik. Es wurde in der Sowjetukraine
produziert, die damals eine Kolonie Sowjetrusslands war. Und die
Filmemacher:innen aus der Ukraine wurden in eine andere Kolonie der
Sowjetunion geschickt, um Propagandafilme zu produzieren.
Ukrainer:innen waren also auch Kolonisator:innen in Sibirien.
Manchmal wurden sie gezwungen dort hinzugehen, manchmal gingen sie
freiwillig. Ein Teil der Rohstoffindustrie auf der Jamal-Halbinsel ist ein
Produkt ukrainischer Ingenieur:innen, sie haben zu den Umweltzerstörungen
dort beigetragen und damit vielen Indigenen die Lebensgrundlage geraubt.
Auch das spiegelt das historische Filmmaterial wider.
Will man die Energiegeschäfte zwischen Deutschland und der russischen
Föderation begreifen, muss man dann an einem anderen Begriff von
Kolonialismus arbeiten?
Hito Steyerl: Wenn wir über diese Situation sprechen, unterscheidet sie
sich stark von den Standarddefinitionen von Kolonialismus, in der es eine
Kolonialmacht und eine unterworfene Entität gibt. Wir haben es mit vielen
verschachtelten Ungleichheitsbeziehungen zu tun. Ich spreche lieber von
einem „fraktalen Kolonialismus“. Da gibt es Kolonisierte und die sind eine
Ebene tiefer selbst Kolonisatoren mit anderen Kolonisierten, und diese
unterdrücken wiederum andere usw.
Oleksiy Radynski: Wir sollten uns eher Gedanken darüber machen, wie wir
über russisches Gas sprechen. Dieses Gas ist keineswegs russisch, und wir
machen uns zu Komplizen des russischen Kolonialismus, wenn wir es als
solches bezeichnen. Das Gas, das nach Deutschland kommt, stammt aus von
Russland besetzten Territorien indigener Völker. Diese Gebiete wurden durch
brutale Völkermorde besetzt, die über Jahrhunderte hinweg stattgefunden
haben. Davon wissen im Westen nur wenige. Ich schlage also vor, über „von
Russland besetzte Gebiete Sibiriens“ zu sprechen.
Hito Steyerl: Ich arbeite nicht mehr mit der von Walter D. Mignolo
geprägten Schablone des Dekolonialen. Sie wird zu leicht von neuen
imperialen Mächten in einer neuen multipolaren Welt übernommen. Denken wir
an die Kunstbiennale in Venedig, [2][wo jetzt Russland in seinem Pavillon
eine vollständig „dekoloniale“ Ausstellung von Bolivien präsentieren
lässt]. Oder an den Begriff des Siedlerkolonialismus. Er bietet sicherlich
eine passende Vorlage für die Situation in den USA, [3][angelsächsischen
und auch anderen Ex-Kolonien, aber nun wird er universalisiert und als
Schablone auf jede beliebige Situation] in der Welt angewandt. „LEAK“ ist
insofern auch der Versuch, ein differenzierteres Vokabular zu entwickeln.
Energiegeschäfte werden in der zeitgenössischen Kunst gern kritisch
kommentiert, etwa wenn es um [4][die USA und irakisches Öl geht]. Warum
interessierte sie sich so wenig für die Gasgeschäfte Russlands?
Oleksiy Radynski: Ich bin kein Fan des Konzepts der Korruption, aber ich
muss dieses Wort hier wieder verwenden. Das rechtsextreme Regime in
Russland hat die Kunstwelt korrumpiert.
Hito Steyerl: Nehmen wir das Beispiel Walter Smerling aus Bonn, der mit
seiner Stiftung Kunst und Kultur in Deutschland [5][kolossale Ausstellungen
organisierte], deren Schirmherr unter anderem Wladimir Putin war. Und diese
Ausstellungen waren in ein Netzwerk von Mäzenen und Sponsoren aus der
Energiewirtschaft, der Stahlindustrie, einer teils nordrhein-westfälischen
Industriellen-Kabale, eingebettet. Sie haben jahrzehntelang von billiger
Energie aus der sibirischen Region profitiert.
Oleksiy Radynski: In Russland hat sich ein oligarchisches Modell der
Kunstproduktion entwickelt. Es gibt viele superfinanzierte Art Spaces, die
bis zu den Wirtschaftssanktionen 2022 von internationalem Einfluss waren.
Das Moskauer Garage-Museum etwa, gegründet von Roman Abramowitsch, oder das
erst 2021 eröffnete Privatmuseum GES-2 vom Gasmagnaten Leonid Michelson.
Zeitgenössische Kunst ist für das Putin-Regime auch ein Werkzeug der
Postfaktizität. Wo sonst kann man sagen „Weiß ist Schwarz und Schwarz ist
Weiß“ und kommt damit sogar davon?
Was hat es mit der „Kultur-Pipeline“ auf sich, die in Ihrem Film auftaucht?
Hito Steyerl: Die „Kultur-Pipeline“ ist eine Art Dekoration des Gas-Deals
zwischen der BRD und der UdSSR in den 1980ern durch groß angelegte
Kunstausstellungen. Faszinierend, Unternehmen wie Mannesmann oder die
Deutsche Bank arbeiteten dafür mit dem sowjetischen Kulturministerium
zusammen, sie waren besties. Wertvolle Objekte und Kunstwerke aus der UdSSR
waren dann in Deutschland zu sehen.
Wieso ersetzten Sie Fernsehmaterial des WDR von 1986 mit einer
KI-generierten Szene, Hito Steyerl?
Hito Steyerl: Der originale Clip zeigt einen bizarren Dialog zwischen zwei
deutschen Journalisten, die zu erklären versuchen, woher das Gas kommt, und
dabei rassistische Anspielungen auf die Indigenen Sibiriens machen. Wir
konnten ihn nicht verwenden, die Rechte dafür liegen auch bei einem
sowjetischen Fernsehunternehmen, das nicht mehr existiert. Also habe ich
ihn mit KI rekonstruiert. Das sieht sehr hässlich aus. KI-Bildgenerierung
macht derzeit alles hässlich und dumm. Aber die Ästhetik passt hier
bestens.
Oleksiy Radinsky: Die Episode zeigt die Fehldarstellungen der Tschuktschen
aus Sibirien auch in der deutschen Öffentlichkeit. Wie viele andere
indigene Gruppen sind die Tschuktschen in Russland immer schon und immer
noch Rassismus ausgesetzt. Diese Menschen werden gerade überproportional in
die russische Armee eingezogen und dienen als Kanonenfutter in der Ukraine
– mit der unerwarteten Rückwirkung, dass einige von ihnen sich jetzt den
ukrainischen Streitkräften anschließen, als eine Form des eigenen
Befreiungskampfes. Es gibt dort offiziell das Sibirische Bataillon.
Hito Steyerl: Und bei den russischen Streitkräften gibt es sogar Einheiten
von Gazprom, wie Oleksiy mal erwähnte. Die Zusammenhänge sind sehr komplex,
auch was die Rolle der Kunst betrifft. Man muss einen angemessenen
theoretischen Rahmen entwickeln, um das alles zu verstehen.
13 Jun 2024
## LINKS
[1] /Energiegeschaefte-mit-Russland/!5842959
[2] /Russland-bei-der-Biennale-in-Venedig/!6005355
[3] /Antisemitismus-an-US-Eliteunis/!5977408
[4] /Kunstschau-Berlin-Biennale-eroeffnet/!5857783
[5] /Eroeffnung-Ausstellung-60-Jahre-60-Werke/!5163743
## AUTOREN
Sophie Jung
## TAGS
Bildende Kunst
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Erdgas
Sibirien
Ausstellung
Medienkunst
Kolonialismus
Schwerpunkt Kunst und Kolonialismus
GNS
taz Plan
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Kunst der Woche: Im Rausch der Lektüre
Kameelah Janan Rasheed erklärt die Galerie zum begehbaren Textfeld. Ein
lustvoller, bilgewordener Ausdruck der Reflexion, der uns bis ans Meer
führt.
Kunst nach dem 7. Oktober: Im Notfall Trial and Error
Der Kulturbetrieb in Deutschland ist an einem Tiefpunkt. Es wird aggressiv
gestritten, verbal aufgerüstet, zum Boykott aufgerufen. Was tut not?
Russland und Deutschland: Moskaus fossiler Faschismus
Die autokratischen Tendenzen in Russland sind auch ein Produkt des
westlichen Hungers nach Öl und Gas. Deutschland hat da einen blinden Fleck.
Energiegeschäfte mit Russland: Die Gas-Connection
Was 1970 mit dem Erdgas-Röhren-Geschäft mit der Sowjetunion begann, könnte
jetzt mit dem barbarischen Krieg in der Ukraine enden.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.