# taz.de -- Kunstfreiheit und ihre Institutionen: Tief sitzt der Argwohn | |
> Ausstellungen sind derzeit ein politisches Kampffeld, ihre öffentliche | |
> Förderung gerät seit dem 7. Oktober ins Wanken. Wie steht es dann um die | |
> Kunst? | |
Bild: Auch ein Verbot, komplett von der Kunstfreiheit gedeckt: Boris Lurie, „… | |
Es ist leider gerade so: Kunstausstellungen sind ein politisches Kampffeld. | |
Das könnte noch radikale Kräfte auf den Plan rufen. Die Künstlerin Sophia | |
Süßmilch erhielt letzte Woche Morddrohungen, nachdem ein CDU-Lokalpolitiker | |
zum Boykott ihrer Ausstellung in der Kunsthalle Osnabrück aufrief, Süßmilch | |
provoziert dort mit Motiven des Kannibalismus. Und wer weiß, was sich die | |
AfD in Sachsen noch auf eine abgesagte Schau im Dresdener Albertinum | |
einfallen lässt, weil eine Kuratorin dort mit dem Wording über den | |
Massenmord an die Ovaherero und Nama nicht einverstanden war. | |
Die Angriffe kommen aus unterschiedlichen Richtungen. In Beschuss geraten | |
die öffentlichen Ausstellungshäuser und Kunsträume. Sie müssen derzeit | |
gegen viele Seiten ihre Autonomie behaupten. CDU-Lokalpolitiker, [1][die | |
auf eine drastische Kunst mit einem verengten Moralismus reagieren], sind | |
da womöglich leicht abzuwehren. Viel prekärer ist die Situation | |
öffentlicher Kunstinstitutionen, wenn es um ihre Rolle als Mittler zwischen | |
Staat und Kunst geht. | |
Denn seit den antisemitischen Verfehlungen der Documenta 2022 und mehr | |
noch, seitdem Teile des Kunstbetriebs den Terrorangriff der Hamas auf | |
Israel für einen postkolonialen Protest umdeuten, gibt es tiefes Misstrauen | |
in einem System der öffentlichen Kulturförderung, in dem zuvor lang eine | |
„grundsätzliche Synchronizität von demokratischem Staat und | |
zeitgenössischen Künsten“ vorgeherrscht hatte, wie Mark Siemons es kürzlich | |
in der FAS beschrieb. „Beide schienen ja eine Ausrichtung auf | |
Individualismus, Liberalität, Diversität zu teilen“. Und das tun sie | |
offenbar jetzt nicht mehr. | |
[2][Für den Staat stellt sich die Frage, wie er vermeiden kann], durch die | |
Kunst auch antisemitische Positionen zu fördern. Dass die Berliner | |
Justizsenatorin Felor Badenberg von der CDU anstrebt, [3][die | |
Verfassungstreue von Künstler:innen, die Förderanträge stellen, notfalls | |
mit Hilfe des Verfassungsschutzes zu prüfen,] zeugt dafür, wie gefährlich | |
tief der Argwohn sitzt. | |
## Die Nichtdefinition der Kunst | |
Gegen dieses Misstrauen müssen die öffentlichen Ausstellungshäuser jetzt | |
anarbeiten. Das können sie auch gegenüber dem Staat tun, wenn sie auf der | |
anderen Seite ihre Autonomie gegenüber dem Kunstbetrieb verteidigen, sich | |
nicht für seinen Aktivismus instrumentalisieren lassen. Das Albertinum | |
Dresden hat genau das versucht, als es einen Instagram-Post seiner | |
Kuratorin Zoé Samudzi über die „gegenwärtige genozidale deutsche | |
Außenpolitik“ als persönliche Meinungsäußerung kennzeichnen lassen wollte. | |
Samudzi kündigte ihren Ausstellungspart auf. | |
Schwieriger wird es, wenn es um die Frage der Kunstfreiheit geht, um die | |
gerade in der Debatte um Kulturförderungen so sehr gerungen wird. Der | |
Kunstfreiheit sind die Ausstellungshäuser ihrem Selbstverständnis nach | |
verpflichtet. Aber wann ist etwas Kunst, wann persönliche Meinung? Das ist | |
nicht leicht auseinanderzuhalten, denn die Kunst ist aus gutem Grund nicht | |
definiert. Das Grundgesetz sieht zwar in Artikel 5 die unbedingte Freiheit | |
der Kunst vor, doch liefert der Gesetzgeber keine Definition darüber, was | |
Kunst eigentlich ist. | |
Wenn etwa [4][Adorno in der Minima Moralia] schrieb: „Aufgabe von Kunst | |
heute ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen“, und ganz gegenteilig der | |
neue Direktor des ZKM in Karlsruhe, Alistair Hudson, eine „usefulness“, | |
eine gesellschaftliche Nützlichkeit von Kunst, einfordert, so handelt es | |
sich jeweils nur um einen Kunstbegriff. Und der kann selbst innerhalb eines | |
Kunstwerks variieren. | |
Das zeigt sich derzeit in den Hamburger Deichtorhallen, wo das | |
US-amerikanische Kollektiv New Red Order ein autonomes Kunstwerk in | |
künstlerischen Aktivismus umkippen ließ. Seiner politisch-humoristischen | |
Installation, in der sich ein animierter Baumstamm und ein Biber comichaft | |
über die Ressourcenausbeutung in den USA austauschen, fügte New Red Order | |
kurzerhand noch ein alarmrotes Protestplakat hinzu. Der pamphletartige Text | |
darauf zieht eine krude Verbindungslinie von der Kolonisierung Amerikas | |
über den Holocaust zum Krieg in Gaza. Das Plakat deklarierte New Red Order | |
als Teil des Kunstwerks. Es zu entfernen hätte bedeutet, die Kunstfreiheit | |
zu missachten. | |
## Kein gesitteter Debattierclub | |
Die Deichtorhallen nutzen nun ein institutionelles Werkzeug, das den | |
öffentlichen Kunsträumen seit der Documenta-Debatte in die Hand gelegt | |
wurde: Auf einem Infozettel neben der Installation von New Red Order | |
distanzieren sie sich „ausdrücklich von den Inhalten und Ausdrücken der | |
Künstler im Textteil der präsentierten Arbeit“. Das ist formal korrekt, | |
aber ziemlich schmallippig. | |
Kontextualisierung von schwieriger Kunst ist ein häufiges Schlagwort: Warum | |
ist das Protestplakat ein Problem? Hat New Red Order die Kunstfreiheit für | |
seine Parolen ausgehöhlt? Mit solch Diskussionsmaterial ausgestattet, | |
können die Ausstellungshäuser auch ein anderes Ideal verteidigen, das sie | |
als autonomer Mittler zwischen demokratischem Staat (so lang er | |
demokratisch ist) und Kunst anstreben: der Kunstraum als Ort des Streits. | |
Doch leider sind Kunstausstellungen derzeit kein gesitteter Debattierclub. | |
Sie sind ein Kampffeld. Hier geht es um Parolen, um Boykott, um Dogmen. | |
Was nun den Kunstbegriff und die dazugehörige Frage nach der Kunstfreiheit | |
angeht, so kann man beobachten, dass dieser Kampf vor allem in den | |
öffentlichen Ausstellungshäusern stattfindet. Kürzlich [5][war auf der | |
Messe art basel zwar viel politische Kunst] zu sehen – Faith Ringgolds | |
Schwarzer Trauermarsch „The Wake and Resurrection of the Bicentennial | |
Negro“ las sich dort als Anklage an den US-amerikanischen Rassismus – aber | |
von roten Protestplakaten und Boykottaufrufen war auf einer Schau des | |
privaten Kunstmarkts keine Spur. | |
## Spiel mit dem Staat? | |
Man könnte dann glatt denken, es ginge einigen Künstler:innen in den | |
öffentlichen Ausstellungen nicht mehr um die Kunst selbst, sondern um ein | |
Spiel mit dem deutschen Staat, dessen Grundfesten der Kulturförderung | |
gerade ins Wanken geraten. Für die öffentlichen Ausstellungshäuser bedeutet | |
das viel Arbeit. | |
30 Jun 2024 | |
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[4] /Renommierter-Adorno-Preis-an-Benhabib/!6013060 | |
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## AUTOREN | |
Sophie Jung | |
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