| # taz.de -- Über Rassismus reden: Die rassifizierte Linke | |
| > Antirassismus will die Frage nach Herkunft und Hautfarbe überwinden. | |
| > Identitätspolitik baut sie aber zum einzigen Bezugspunkt aus. | |
| Bild: Es geht vor allem darum: Wer darf was sagen? Und wer nicht? | |
| Vor einiger Zeit tauchte bei einem antirassistischen Camp in Bulgarien eine | |
| Gruppe auf, die sich dem Kampf gegen die „weißen Formen von Herrschaft“ | |
| verschrieben hatte. Sie war aus Berlin angereist, um auf dem Camp einen | |
| Raum zu errichten, in dem Nichtweiße unter sich sein und unbehelligt | |
| diskutieren konnten. Sie steckten einen Teil der Wiese mit Absperrband ab. | |
| In der Mitte: ein Tisch mit Büchern zu Critical Whiteness. Als ich diesen | |
| anschaute, fragte mich eine Frau, ob ich eine Person of Color sei – am | |
| Äußeren, so erfuhr ich, sei dies nicht zwingend erkennbar. Falls nein, möge | |
| ich gehen. | |
| Der Antirassismus ist dazu angetreten, zweierlei zu überwinden: die Frage | |
| nach der Hautfarbe und die nach der Staatsangehörigkeit. Erstere soll | |
| geächtet sein, weil sie diskriminiert. Und die zweite überflüssig, weil | |
| gleiche Rechte verwirklicht sein sollen. Die gesellschaftliche Identität | |
| soll sich von Hautfarbe und Nationalität lösen. Sie soll offen, plural, | |
| vielleicht gar fluid sein – das Gegenteil des völkischen Programms, dessen | |
| Renaissance gerade zu beobachten ist. Das ist die Utopie des Antirassismus. | |
| Die Form der Identitätspolitik aber lebt von der Abgrenzung. Sie steht für | |
| eine Rerassifizierung, die von vielen Linken mit Begeisterung aufgenommen | |
| wird. Das paradoxe Programm lautet: Die Unterschiede groß machen, um | |
| Rassismus zu bekämpfen. Was der weißen Mehrheitsgesellschaft als „Othering�… | |
| – sozialer Ausschluss durch die Markierung als „anders“ – vorgeworfen w… | |
| wird von Critical Whiteness als Identitätskern des nichtweißen politischen | |
| Subjekts hergenommen. | |
| ## Moralischer Autoritarismus | |
| Die Ohnmachtserfahrung vieler Nichtweißer leitet Critical Whiteness in | |
| einen ideologiestrengen moralischen Autoritarismus um. Die Antwort auf den | |
| zutreffenden Befund einer Welt ohne rassismusfreie Räume ist, einfach einem | |
| alternativen Diskursraum zu eröffnen. In dem werden die gesellschaftlichen | |
| Asymmetrien per moralischer Anrufung ausgeglichen: auf der einen Seite die | |
| weißen Täter, auf der anderen die sich selbst ermächtigenden Opfer. | |
| Die Sprecherposition wird zum entscheidenden Faktor. Recht hat hier, wer | |
| strukturell unterdrückt ist. Das weiße Täterkollektiv möge annehmen, was | |
| People of Color aus Rassismusbetroffenheit heraus äußern. Tun sie es nicht, | |
| ist es „Derailing“, Abwehr. Die Möglichkeit gemeinsamer politischer | |
| Organisation wird so verneint. Was eingerissen gehört, wird wieder | |
| aufgebaut. | |
| Gedacht ist diese Form der Identitätspolitik angeblich als Übergangsphase. | |
| „Eine Strategie, die wir nutzen können, bis wir eine postkoloniale | |
| Gesellschaft erreicht haben“, so war es kürzlich [1][in dieser Reihe] zu | |
| lesen. Aber wie soll eine solche Gesellschaft entstehen, wenn selbst dem | |
| Antirassismus die ethnischen Trennlinien wieder eingeschrieben werden? | |
| ## Aussicht auf Akzeptanz begrenzt | |
| Aussicht auf Akzeptanz hat eine solche Strategie ohnehin nur in begrenzten, | |
| meist akademischen Milieus, die für solche moralische Anrufung prinzipiell | |
| empfänglich sind. Außerhalb, wo sie „auf eine mit Wucht auftretende | |
| rechtspopulistische Bewegung treffen“, so merkte Stefan Laurin im | |
| [2][Ruhrbarone-Blog] an, werde sie „schlicht ignoriert und verlacht“. Eben | |
| weil Identitätspolitik, die auf ethnischen Kategorien und Schuldzuweisungen | |
| aufbaut, nur begrenzte Resonanzräume besetzen kann, zielt sie bevorzugt auf | |
| innerlinken Rassismus. | |
| Die damit einhergehende Verengung auf Fragen individuellen Verhaltens | |
| erzeugt einen inflationären Gewaltbegriff. Die Artikulation eigener | |
| Unterdrückungserfahrung als identitätspolitischer Akt funktioniert im | |
| Wesentlichen über die Benennung von Gewalt. Dagegen ist im Prinzip nichts | |
| einzuwenden. Nur läuft dies heute so, dass am Ende alles Mögliche als | |
| irgendwie rassistische Gewalt dasteht – das Wort „Zigeuner“ auf der | |
| Ketchupflasche genauso wie der Abschiebeknast. Und wehe, jemand wagt es, | |
| auf die Unterschiede hinzuweisen. | |
| Als „verletzend“ gilt auch, was in dem [3][Cultural-Appropriation-Text] | |
| ausgebreitet wurde, auf den diese Serie zurückgeht: Weiße, die Dreadlocks | |
| oder Indianerschmuck tragen oder Falafel verkaufen. Die Kritik an der | |
| „kulturellen Aneignung“ diene allerdings, so heißt es da, vor allem dazu, | |
| „Machtbeziehungen zu kritisieren“. Aber warum tut man das dann nicht | |
| einfach? | |
| Warum das absurde Lamento über Weiße, die sich am vermeintlichen Eigentum | |
| imaginierter marginalisierter Kollektive („die Inder“, „die Indianer“) | |
| vergreifen? Wem wird etwas weggenommen, wenn weiße Frauen sich auf | |
| Technopartys indischen Schmuck auf die Stirn kleben und weiße Männer sich | |
| Federn in die Haare stecken? Wer wäre besser dran, wenn diese Mode geächtet | |
| wäre? Die Machtbeziehungen, die mit der Kritik an Cultural Appropriation | |
| angegriffen werden sollen, haben mit solchen Dingen schlicht nichts zu tun. | |
| Die Aneignungsdebatte ist ein identitätspolitischer Fetisch. | |
| ## Critical Whiteness: eine dominierende Position | |
| Eine Eigentümlichkeit der Identitätspolitik ist es, dass sie die eigene | |
| Marginalisiertheit – gerade in der Linken – beklagt, dort aber längst eine | |
| dominierende Position eingenommen hat. Auch an dieser Stelle war kürzlich | |
| zu lesen, Critical Whiteness werde von links mit „abseitigen Anekdoten“ | |
| lächerlich gemacht, um weiße Privilegien nicht aufgeben zu müssen. Die | |
| Identitätspolitik mag gesamtgesellschaftlich in der Defensive sein, in der | |
| Linken ist sie es ganz sicher nicht. | |
| Auch an den Universitäten dominieren die postkolonialen Theorien, auf die | |
| sich die Critical Whiteness beruft, die Sozialwissenschaften. Hunderte in | |
| diesem Geiste in den letzten Jahren an der Universität ausgebildete Leute | |
| drängen heute in Zeitungsredaktionen, Antidiskriminierungsstellen und | |
| Bildungsprojekte. Die Frage nach Herkunft, Hautfarbe und Ethnie wird so | |
| immer weiter restituiert. Und ebenso die Überfrachtung an Heilserwartungen | |
| an sie. | |
| Zu beobachten war dies auch nach der US-Wahl. Da war von | |
| „eurozentrismuskritischen“ Zeitgenossinnen zu hören, das Problem an der | |
| neuen Regierung sei, dass sie im Wesentlichen aus alten, weißen Männern | |
| bestehe. Umverteilung, Klima, Handelskriege – alles sekundär; am | |
| schlimmsten sei der Mangel an Diversity. | |
| ## Frauen machen keine gerechtere Politik | |
| Nun dürften viele davon ausgehen, dass eine Regierung mit mehr Schwarzen | |
| und Frauen eine gerechtere Politik macht. Aber dafür gibt es keine Evidenz. | |
| Obama hat die Lage der Schwarzen nicht nennenswert verbessert, eine | |
| türkischstämmige Integrationsministerin in Niedersachsen hat an der | |
| Abschiebepolitik kein Jota geändert, und auch Frauen in Machtpositionen | |
| treffen nicht automatisch frauenfreundlichere Entscheidungen. | |
| Diversity, Repräsentation und Durchlässigkeit in den Institutionen haben | |
| zweifellos ihren eigenen Wert, ihre Legitimität. Dennoch bleibt Identität | |
| ein schlechter Bezugspunkt politischer Auseinandersetzungen. Der bessere | |
| heißt: Solidarität. | |
| Die historischen, kolonial hergestellten Unterschiede sind bis heute höchst | |
| wirkungsvoll, und zwar weltweit. Die gemeinsame Handlungsmacht wird aber | |
| untergraben, wenn nur dagegen sein kann, wer selbst unmittelbar betroffen | |
| ist. Dies stellt die Möglichkeit von Solidarität infrage. Solidarität, wie | |
| Weiße sie etwa in der „Underground Railroad“ in den US-Südstaaten oder im | |
| Kampf gegen die Apartheid in Südafrika geübt haben. Diese historische | |
| Erfahrung solidarischer Kämpfe zu ignorieren ist fahrlässig. | |
| Andersherum werden durch die Solidarität unterschiedliche Voraussetzungen, | |
| ungleich verteilte Privilegien und Machtressourcen nicht negiert. Sie | |
| öffnet den Raum für gemeinsame politische Kämpfe, statt ihn zu | |
| verschließen. Dies unterscheidet gemeinsames politisches Handeln unter | |
| verschiedenen Voraussetzungen von paternalistischer Wohltätigkeit. | |
| 3 Feb 2017 | |
| ## LINKS | |
| [1] /!5356157/ | |
| [2] http://www.ruhrbarone.de/its-the-end-of-the-left-as-we-know-it/135358 | |
| [3] /!5356157/ | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Jakob | |
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