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# taz.de -- Über Rassismus reden: Wer weiß ist, bestimme ich
> Der Protest gegen kulturelle Aneignung macht Menschen zu Opfern und
> beleidigten Exoten. Selten geht es um Rassismus, viel öfter um
> Respektlosigkeit.
Bild: Sollten die Tartaren das Copyright auf Hackfleisch haben?
Den Mohawks in Montreal dürfte es schnurzpiepegal sein, ob der Autor und
Internetexperte Sascha Lobo mit rotem Irokesenschnitt im Berghain oder auf
Ibiza tanzt, im deutschen Fernsehen das Internet erklärt oder auf dem
Alexanderplatz für die Selbstbestimmungsrechte der Sioux demonstriert.
Schnurzpiepegal ist es den Sioux und den Mohawks aber nicht, wenn man ihnen
Erdöl-Pipelines durch ihre Reservate baut, den Zugang zu Arbeit und
Gesellschaft erschwert, sie in Alkohol, Drogen und Kriminalität versinken
lässt. Wäre den Mohawks und ihrem Kampf gegen die Pipeline in North Dakota
geholfen, wenn sich der hellhäutige Sascha Lobo den Iro abrasiert und
stattdessen Seitenscheitel trägt?
Blöde rhetorische Frage, ist aber die einzige, die mir einfällt, wenn Leute
in Deutschland ernsthaft darüber diskutieren wollen, dass Menschen, die
sich mit fremden Federn, also mit anderen „Kulturen“ schmücken, in der
Tradition kolonialistischer Ausbeutung stehen.
Haben Leute, die glauben, ein Indianer, eine Inderin, ein Ägypterin, ein
Kongolese könne sich von europäischer Faschingskostümierung beleidigt
fühlen, nicht viel eher ein ziemlich seltsames Bild von diesen Menschen?
Ist das Bild vom beleidigten Exoten, der heute in der Regel so rumläuft wie
alle anderen auch, nämlich in Jeans und T-Shirt, ein Bild, das aus den
Museen stammt, die mit Wigwams, Kanus und Squawröcken vollgestopft sind und
das Bild vom vorzivilisatorischen Wilden zementieren, der auf Leute, die
seine Kultur beleidigen, mit Pfeilen schießt? Ist es nicht völlig wurscht,
ob Sascha Lobo Iro trägt oder Schottenrock, solange er nicht die Mohawks
oder die Schotten dafür verantwortlich macht, dass das Internet kaputt
gegangen ist?
Den Vertretern der Bewegung von Critical Whiteness ist das nicht wurscht.
Ihre richtige, wenn auch nicht ganz neue Erkenntnis lautet, dass in einer
gleichberechtigten Gesellschaft noch lange keine Chancengleichheit besteht.
Für ihre Analyse legt diese Bewegung aber keine Kriterien, sondern nur
Kategorien zugrunde: Und da gibt es nur zwei. Die einen sind People of
Colour und Opfer. Die anderen sind weiß und Täter oder zumindest
verdächtig.
## Man muss nicht über alles reden
Mit dem Begriff „Rassismus“ operieren die Vertreter dieser politischen
Kritik selten. Das, was sie thematisieren wollen, nennen sie
Respektlosigkeit. Über Respektlosigkeit lässt sich allerdings schwer
streiten. Schließlich kann man niemandem das Gefühl absprechen, betroffen
zu sein, sich scheiße und unfair behandelt oder diskriminiert zu fühlen. Es
ist schon richtig, das Einzige, was da hilft, ist reden. Aber man muss auch
nicht über alles reden können müssen, was von sich behauptet, total
relevant zu sein.
Wo die Debatte um Critical Whiteness entstanden ist und wo sie gegenwärtig
vor allem geführt wird, ist der US-amerikanische Campus. Ein Ort, an dem
über Kolonialismus, Segregation, Schwarz und Weiß noch mal anders geredet
werden muss als in Deutschland. In diesem Jahr der rechten weißen
US-Konterrevolution, in dem rassistische Polizistenmorde, die Rückkehr der
Gilmore Girls, der Literaturnobelpreis für Bob Dylan und der Aufstieg von
Donald Trump für einen Splatterfilm mit dem Titel „2016: Die Rückkehr der
weißen Zombies“ sorgen könnte, sorgten Vertreter der Critical Whiteness an
anderer Stelle für Aufregung.
Hätten nicht die größten Zeitungen des Landes wie die New York Times und
der New Yorker Reporter losgeschickt, um nachzugucken, was da los ist, man
hätte die Episoden an den Unis für eine Erfindung der Serie „South Park“
gehalten: Es gab Proteste gegen weiße Studenten, die sich an Halloween als
Indianer verkleidet, sich auf Tequilapartys Sombrerohüte aufgesetzt hatten,
und gegen einen Mensakoch, der Sushi und die Bánh mì nicht nach
Originalrezept zubereitet hatte. Weltweit sorgte nur der Fall des Bánh mì
am Oberlin-College für kurze Aufmerksamkeit. Wegen Lena Dunham. Die – weiß,
berühmt, Absolventin des Oberlin – hatte die vermeintlich falsche
Zubereitung des Gerichts als Respektlosigkeit gegenüber der Herkunftsküche
bezeichnet, als kulturelle Aneignung und damit also Diskriminierung und
Rassismus gedeutet.
## Aufregung um ein Baguette
In keinem der Texte wurde erklärt, was Bánh mì überhaupt ist. Mal kurz
googelnd, wird die Erwartung von irgendwas mit frittierten Heuschrecken bis
geliertem Eukalyptusblatt derbe enttäuscht. Bánh mì ist nichts anderes als
ein belegtes Baguette. Aber mit lustiger Pointe: Es waren die Franzosen,
die das Baguette während ihrer Kolonisierung Indochinas eingeführt hatten
und also die Vietnamesen, die es ursprünglich von den Kolonialherren
übernahmen.
Vom Original unterscheidet sich das vietnamesische Baguette zwar darin,
dass es etwas luftiger ist und weniger Kruste hat. Das Bánh mì also könnte
als astreine kulturelle Aneignung des französischen Baguette gelten. Würde
aber nun jemand ernsthaft den Vietnamesen unterstellen wollen, die Kultur
Frankreichs respektlos behandelt zu haben, weil sie das Brot viel zu
labberig backen? Und wäre es nicht alles andere als legitim, wenn ein
vietnamesischer Baguetteproduzent auf die Idee käme, Lena Dunham als
Werbegesicht einzukaufen?
Die einen werden jetzt behaupten, dass der Fall ja nun zeigt, dass es erst
ein weißes Promigesicht braucht, um auf Rassismus, Respektlosigkeit oder
das Originalrezept von Bánh mì aufmerksam zu machen. Aber mit Verlaub:
Handelt es sich hier wirklich um Rassismus oder Respektlosigkeit? Ist es
nicht einfach eine Geschmacksfrage? Oder möchte jemand ernsthaft die
Debatte führen, ob die Bulette die kulturelle Aneignung der Cevapcici ist?
Oder die Köttbullar sich respektlos gegenüber dem Moussaka verhält? Oder ob
die Tartaren das Copyright auf Hackfleisch haben sollten?
## Die Hüte und Schuhe anderer Leute
So beknackt diese Debatten über Partykostüme und Mensaessen auch sind, es
gibt in diesem Zusammenhang natürlich auch Diskussionen, die man durchaus
ernster nehmen kann. Beispielsweise in der Literatur. Die weiße
amerikanische Schriftstellerin Lionel Shriver hatte im September für einen
Eklat gesorgt, als sie den Vertretern der Critical Whiteness vorhielt, sie
hätten keine Ahnung, was ein Autor überhaupt ist. Ohne kulturelle Aneignung
nämlich wäre der gar nichts. Sein Job sei es, sich in andere Menschen zu
denken, sich die Hüte und Schuhe anderer Leute anzuziehen, sich also die
Erfahrungen anderer anzueignen.
So wie man auch von keinem Krimiautor verlangen würde, dass er die Morde
selbst erlebt hätte, so sei es legitim, dass weiße Autoren über schwarze
Erfahrungen schreiben. Das fanden die Vertreter der Bewegung aber gar
nicht, schließlich missachte diese Haltung, dass ein weißer Autor sich
immer noch besser vermarkten könne als ein Schwarzer und dass das Reden
über Schwarze immer noch einen größeren Anteil in der Öffentlichkeit hat
als redende Schwarze.
Sosehr die theoretische Position von Shriver überzeugt, so recht haben ihre
Kritiker natürlich auch. Es ist wieder so eine Situation, in der man kein
Schiedsrichter sein möchte. Aber der Schiedsrichter ist für die Critical
Whiteness sowieso klar. Es ist der, der ihrer Meinung ist. Jedenfalls
scheint die Einteilung und die Beurteilung dessen, was genau eigentlich
weiß ist, eher nach dem Motto „Wer weiß ist, bestimme ich“ zu
funktionieren. Wenn es der Critical Whiteness darum geht, die Weißen mal
erfahren zu lassen, wie es ist, reiner Willkür ausgesetzt zu sein, also
das, was Schwarze tagtäglich erfahren: Point made. Die Leute sind
beleidigt. Und jetzt?
In „wir“ und „ihr“ denken, das machen Rassisten und Chauvinisten allerd…
auch. Wer die aber bekämpfen will, sollte Individuen nicht als Träger
irgendeiner kollektiven Kultur vereinnahmen, die sie mit sich rumschleppen
wie andere ihr X-Chromosom. Wer von Opferkollektiven spricht, muss sich
nicht wundern, wenn die AfD mal anfragt, ob man sich den Job des
Kulturministers vorstellen kann.
30 Nov 2016
## AUTOREN
Doris Akrap
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