# taz.de -- Über Rassismus reden: Expertin für Schleim | |
> Unsere Autorin erkennt Diskriminierung, auch wenn andere Menschen diese | |
> nicht sehen. Und sie sorgt für Harmonie – meistens. | |
Bild: Achtung! Achtung! Grüngelber Schleim auf 12 Uhr gesichtet | |
Ich habe zwei Superkräfte. Die eine ist: Ich sehe Dinge, die nicht jede*r | |
sehen kann. Die zweite ist: Ich zaubere Harmonie. Das klingt fatal nach | |
Eso-Kitsch und außerdem nach Angeberei, aber es geht um ein ganz anderes | |
Thema: Es geht um Rassismus. | |
Merken Sie, wie Ihnen schon ganz anders wird? Das Wort steht im Raum und es | |
soll weg. Man will es nicht hören, außer in auserwählten Kontexten. Wenn | |
die Feiertage anstehen und Dokus über Hitler laufen, zum Beispiel. Wenn man | |
„American History X“ beim DVD Abend vorschlägt. Dann. Aber bitte nicht so, | |
also, so ganz selbstverständlich, im Alltag. | |
Meine erste Superkraft, das Sehen von Dingen, ist ganz spannend. Ich treffe | |
viele Menschen, die meisten von ihnen sind weiße Deutsche. Manchmal sagen | |
sie Dinge, die mich verletzen. | |
Sie sagen: „Du tanzt so gut, liegt dir das im Blut?“. Sie sagen: | |
„Iraner*innen sind alle so klug“, sie sagen: „Wieso konnten sich deine | |
Eltern so gut integrieren und wieso schaffen das andere nicht?“, sie | |
fragen: „Sind Sie Muslimin?“, und es klingt, als würden sie damit eine | |
Krankheit meinen. | |
Puh, also ich rede gern mit Menschen und ich liebe es zu plaudern. Aber das | |
sind alles Fragen, bei denen ich verschiedene Dinge sehe, die nicht alle | |
Menschen sehen können. | |
Erstens: Ich werde diese Dinge gefragt. Mein weißer deutscher Freund nicht. | |
Zweitens: Ich werde diese Dinge nicht nur einmal im Leben, sondern ständig | |
gefragt. Es gibt sozusagen eine Struktur. Drittens: Ich werde bei diesen | |
Dingen nicht als ich, als Shida, angesprochen, sondern ich werde immer | |
gleich als ein ganzes Kollektiv gelesen (ich kann nämlich ehrlich gesagt | |
gar nicht besonders gut tanzen; ich halte manche Iraner*innen, | |
Ahmadinedschad zum Beispiel, für außergewöhnlich doof; ich wüsste nicht, | |
was meine Eltern mit „den anderen“ verbindet, für die ich sprechen soll; | |
und ich habe ungefähr so viele Attribute des Islams an mir wie Attribute | |
eines Heavy-Metal-Fans: nämlich gar keine. Und weder der Islam noch | |
Metallica verdienen den abwertenden Tonfall.). | |
Ich stehe Menschen, die diese Dinge in der Form fragen, gegenüber und ich | |
sehe: Rassismus. | |
Arrrr, schon wieder dieses Wort. Legen Sie die Zeitung nicht weg, nur, weil | |
Sie auch schon mal eine solche Frage gestellt haben. Die Menschen, die so | |
etwas fragen, sind meistens nämlich außergewöhnlich nett. Es geht aber | |
nicht um nett oder nicht, es geht um meine Superkraft. Ich sehe etwas. | |
Etwas, was mich mein Leben lang begleitet, etwas, was einer gängigen | |
Struktur folgt, etwas, was nicht aus Zufall mir und meinen nichtweißen | |
Freund*innen begegnet und den anderen nicht. | |
Stellen wir uns vor, es ginge nicht um Rassismus, sondern um grüngelben | |
Schleim. Stellen wir uns vor, dass manche Menschen grüngelben Schleim aus | |
den Ohren sprühen, ohne es zu merken. Und dass dieser Schleim giftig für | |
einen kleinen Teil der Menschheit ist. | |
Die meisten Menschen denken: „Schleim? War da Schleim? Ich glaub nicht, ich | |
seh ihn nicht.“ Wie auch? Die Augen schauen nach vorn, der Schleim kam | |
links und rechts aus dem Kopf raus. Der kleine, betroffene Teil dagegen | |
weiß ganz genau: „Das ist Schleim. Das ist Gift für mich. Ich will das | |
nicht!“ Alle schauen sich fragend um. Nichts zu sehen. Der kleine Teil der | |
Menschheit muss sich wohl geirrt haben. | |
Bei so etwas irrt man sich als Betroffene*r aber nicht. Ganz sicher nicht. | |
Denn es wäre ja viel schöner, wenn man so etwas nicht sagen müsste. Niemand | |
möchte gern zur nörgelnden Minderheit gehören. | |
## Wir zaubern Harmonie | |
Deswegen wohl habe ich meine zweite Superkraft. Und ich habe beobachtet, | |
dass meine nicht weißen Freund*innen sie auch ganz wunderbar beherrschen. | |
Wir zaubern Harmonie. Wir stehen da. Wir wurden verletzt. Der grüngelbe | |
Schleim liegt in der Luft, und er erinnert uns an die Gefahr. Die wir | |
kennen. Die wir sehen. Nur wir. Und wir haben die Wahl: Vermiesen wir allen | |
die Stimmung? | |
Was macht man, wenn man als einzige*r etwas sieht und die große | |
Verantwortung hat, es sichtbar zu machen – oder eben nicht? Was machen Sie, | |
wenn Ihr*e Chef*in einen Popel in der Nase hängen hat? | |
Es ist ein Zepterlauf an Verantwortung, der in Gang gesetzt werden kann. | |
Die betroffenen Personen haben die große Verantwortung darüber, was | |
passiert. Nehmen wir an, ich nutze meine Superkraft Nummer zwei nicht und | |
spreche das Thema an. | |
Ich sage: „Sorry, äh, aber das gerade, das war grüngelber Schleim, und der | |
ist wirklich gefährlich für mich, könnten Sie das bitte nicht mehr machen?“ | |
Dann ist das Zepter der Verantwortung plötzlich, ungeahnt, aus heiterem | |
Himmel, in den Händen der Schleimspritzer*innen. | |
Das ist schon ärgerlich. Da wollten die gar nichts Böses, und plötzlich | |
haben sie so ein Zepter an Verantwortung in der Hand. Sie haben es sich gar | |
nicht ausgesucht. Aber sie müssen reagieren. Die Reaktion ist oft so: Das | |
Zepter wird fallen gelassen. Es fällt mir auf den Fuß. Es kommt noch mehr | |
Schleim. Das schöne Gespräch ist dahin. Es bedarf sehr viel Geduld, von | |
beiden Seiten, die Situation dahingehend zu bringen, dass alle sich | |
verstanden fühlen. Dass klar ist: „Ich wollte gar keinen Schleim spritzen.“ | |
Dass klar ist: „Ich weiß. Aber er hat mich trotzdem getroffen.“ | |
## „Ich wurde verletzt“ | |
Aber dahin kommt man meist gar nicht erst. Denn oft genug verzettelt man | |
sich in Diskussionen allgemeiner Art. Wenn mich Superkraft Nummer zwei | |
verlässt, dann mache ich aus „Ich wurde verletzt“ lieber: „Das war | |
rassistisch.“ | |
Beides ist die Wahrheit, aus meiner Sicht. Und statt des „Ich habe jemanden | |
verletzt“ hört mein Gegenüber nur „Rassismus“ und macht die Schotten di… | |
Und beginnt allgemeine Diskussionen über die Definition von Rassismus. Und | |
niemand kümmert sich mehr um meine Verletzung. Dass diejenigen, die den | |
Schleim spritzen, sich allzu oft als Expert*innen für Schleimspritzerei | |
fühlen, ist Teil des Problems. | |
Es wäre viel schöner, wenn die Superkraft Nummer eins, das Sehenkönnen, als | |
Superkraft anerkannt werden würde. Von offizieller Seite. Als Kompetenz. | |
Deutschland wäre voller Expert*innen für Schleim. Deutschland könnte seine | |
Probleme mit diesen Expert*innen sehr viel schneller lösen. | |
Nicht umsonst hatten bei der Aufklärung um die NSU-Morde viele Angehörige | |
der Opfer schon früh eine Idee darüber, was der Grund für die Ermordungen | |
war. Nicht umsonst war der einzige Bundestagsabgeordnete, der hierzu | |
bereits 2007 eine Anfrage an die Bundesregierung stellte, türkischer | |
Herkunft. Betroffene erkennen Schleim, wenn sie ihn sehen. | |
Leider fürchte ich, dass Deutschland aus den Betroffenen vorrangig die | |
Expert*innen für Harmonie gemacht hat. Es sollte Weltmeisterschaften darin | |
geben, wie oft wir mitten im Bildungsbürgertum sitzen und wortlos | |
Verletzungen hinnehmen, weil wir niemandem auf den Schlips treten möchten. | |
## Schleimexpert*innen | |
Die meisten Menschen hören es nämlich gar nicht mal so gern, wenn jemand | |
(ich gerade, zum Beispiel) von seinen Superkräften erzählt. So etwas | |
spricht man anderen nicht gern zu. Dabei brauchen wir die | |
Schleimexpert*innen aus den verschiedenen (und sich verschränkenden) | |
Diskriminierungsformen dringend. Ich brauche die Menschen, die mir subtilen | |
Alltagsantisemitismus erklären. | |
Denn wie sollte ich ihn erkennen, wenn er sich so subtil kleidet und mich | |
persönlich dabei gar nicht trifft? Ich bin auf die Leute angewiesen, die | |
sich der Harmonie verweigern und mir die Strukturen dahinter erklären. | |
Damit ich aufhöre, sie zu verletzen und eine von den Personen werde, die | |
ich in meinem Umfeld so schätze: Verbündete. Sind vom Schleim selbst nicht | |
betroffen, sind aber trotzdem für mich da, wenn er mich trifft. | |
Es bedarf Vertrauen in das eigene Gegenüber, es auf die ausgeübte | |
Diskriminierung anzusprechen. Wir könnten aufhören, Menschen zu | |
widersprechen, wenn sie es tun. Wir könnten anfangen, es als einen | |
Vertrauensbeweis zu sehen. Wenn ihnen Verständnis wichtiger ist als die | |
Harmonie im Raum. | |
Das ist ein Kraftakt. Denn Betroffene können sich die Auseinandersetzung | |
mit Diskriminierung nicht für die Feiertage oder für DVD-Abende aufheben. | |
Sie möchten die Verantwortung über das Zepter genauso wenig haben wie die, | |
an die sie es weiterreichen. | |
1 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Shida Bazyar | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Diskriminierung | |
Wahrnehmung | |
Lesestück Meinung und Analyse | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Haare | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Lesestück Meinung und Analyse | |
Critical Whiteness | |
Critical Whiteness | |
Critical Whiteness | |
Anti-Rassismus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Über Rassismus reden: Der Sprache ist zu misstrauen | |
„Political Correctness“ soll schuld daran sein, dass die Rechten | |
triumphieren. Dabei galt es mal als links, Bestehendes infragezustellen. | |
Über Rassismus reden: Good Hair, Bad Hair | |
Sie fassen einem ungefragt in die Haare, sie fragen, ob die echt sind und | |
ob man sie auch wäscht. Die Botschaft ist klar: Du gehörst nicht hierher. | |
Über Rassismus reden: Im Zweifel für die Würde | |
Am Dreikönigstag werden sich Kinder wieder mit schwarzer Farbe als Melchior | |
verkleiden. Harmlos? Ganz und gar nicht. | |
Über Rassismus reden: Dreiste Umkehrung | |
Linke Medien setzen Kritik an kultureller Aneignung mit neurechten | |
Konzepten gleich. Die Frage nach Macht und Ausbeutung wird ignoriert. | |
Über Rassismus reden: Das sagt man nicht! | |
Kritik an Diskriminierungen ist schön und gut, sollte sich aber nicht zur | |
Identitätspolitik versteigen. Die haben nämlich die Rechten erfunden. | |
Über Rassismus reden: Wer weiß ist, bestimme ich | |
Der Protest gegen kulturelle Aneignung macht Menschen zu Opfern und | |
beleidigten Exoten. Selten geht es um Rassismus, viel öfter um | |
Respektlosigkeit. | |
Über Rassismus reden: Tante Ernas Knochen im Museum | |
Weiße stehlen von denen, die nicht so viel Macht haben. Warum wir uns mit | |
den eigenen Privilegien befassen müssen. | |
Über Rassismus reden: Lasst uns streiten! | |
Debatten über Rassismus werden schnell verletzend. Deshalb sind wir | |
geneigt, sie zu vermeiden. Das hilft aber nichts: Wir müssen mittenrein. |