| # taz.de -- Über Rassismus reden: Das sagt man nicht! | |
| > Kritik an Diskriminierungen ist schön und gut, sollte sich aber nicht zur | |
| > Identitätspolitik versteigen. Die haben nämlich die Rechten erfunden. | |
| Bild: Nicht so einfach mit der Identität | |
| Das Kind liegt im Brunnen. Und die Linke tut, was die Linke eben so tut. | |
| Sie spaltet sich. Ein Lager übt sich in Selbstkritik und fürchtet, das Kind | |
| versehentlich selbst in den Brunnen gestoßen zu haben – und findet sich in | |
| schlechter Gesellschaft, denn die Rechten nicken beifällig, gewiss, das | |
| Kind sei von der „political correctness“ förmlich in den Brunnen gehetzt | |
| worden. Das andere Lager will von solchem konterrevolutionären Defätismus | |
| nichts wissen. Wenn Kinder sich in Brunnen stürzen, müssen die | |
| Anstrengungen zur linguistischen Simulation einer Welt ohne Brunnen eben | |
| verdoppelt werden. | |
| Die Stimmung ist entsprechend gereizt, was ein wenig den Blick darauf | |
| verstellt, dass beide Seiten recht haben könnten. Wie könnte, wer gegen | |
| gefährliche Dummheit kämpft, für den Siegeszug gefährlicher Dummheit | |
| mitverantwortlich sein? Vielleicht, weil nach Hegel „jedes Ding mit seinem | |
| Gegenteil schwanger“ geht und nach Benjamin jeder Aufstieg des Faschismus | |
| von einer gescheiterten Revolution zeugt? Und es ist sicher nicht die | |
| rechte Revolution, die da gescheitert ist. | |
| Die Erfolge linker Identitätspolitik sind hart erkämpft und in den | |
| westlichen Gesellschaften überall spürbar. Die selbstbestimmte Entfaltung | |
| des Individuums gehört zu ihren kostbarsten Errungenschaften, und die | |
| Arbeit daran ist noch nicht beendet. Ist sie nie. „No pasarán!“, oder? | |
| ## Genderneutrale Ausbeuter | |
| Deshalb gibt es in der Linken eine frei drehende Speerspitze, die nach dem | |
| vermeintlichen „Sieg im Kulturkampf“ nur noch die allerdünnsten Bretter | |
| bohrt und den ohnehin Bekehrten predigt, sie seien nicht bekehrt genug. | |
| Linke beschuldigen Linke, andere Linke mit „microaggressions“ in ihren | |
| „safe spaces“ zu „triggern“ oder sich der neokolonialrassistischen Prax… | |
| der „cultural appropriation“ zu bedienen. All diese Begriffe sind gesetzt | |
| und stehen „nicht zur Debatte“, was jeden Einwand nicht nur obsolet, | |
| sondern verdächtig macht. Da will wohl einer das Rad anhalten, was? Die Uhr | |
| zurückdrehen? Dabei gilt es doch, das Rad zu beschleunigen und die Uhr | |
| vorzudrehen! | |
| Darin äußert sich der Glaube, eine Gesellschaft ließe sich per „trickle | |
| down“-Effekt von den Erleuchteten hinunter zu den Ignoranten verbessern. | |
| Als wären, wenn wir nur den Maori ihre Tätowierungen und den Mexikanern | |
| ihre Sombreros lassen, Jahrhunderte der Ausbeutung moralisch abgegolten – | |
| und die real existierende globale Ausbeutung, die mit genderneutralen | |
| Toiletten übrigens kein Problem hat, gleich mit. | |
| Unter den Gläubigen gilt es als reaktionäre Rosinenpickerei, besonders | |
| bizarre Auswüchse ihrer Bemühungen um die gute Sache zu benennen. Aber wenn | |
| es diese Rosinen gibt, sollten wir sie nicht einfach schlucken – um der | |
| guten Sache willen. So wird an der Universität von Ottawa kein Yoga mehr | |
| angeboten, weil das auf einen „kulturellen Genozid“ verweist. An der | |
| Universität von Idaho fordert eine Forschungsgruppe, doch bitte Menschen in | |
| ihrer sexuellen Orientierung ernst zu nehmen, die sich für Vampire halten. | |
| Und in Wisconsin steht der Begriff „political correctness“ unter Verdacht, | |
| selbst nicht „politically correct“ zu sein – weil er unterstellt, die | |
| entsprechende Person wäre „zu einfühlsam“. Das mag alles stimmen. Aber | |
| nützt es was? Wem genau? | |
| Einerseits kann von Denk- oder Redeverboten keine Rede sein, wo | |
| rassistische Hetze in sozialen Netzwerken oder Wahlkabinen so fröhlich um | |
| sich greift. Andererseits sind nicht nur akademische Karrieren tatsächlich | |
| schnell beendet, sofern sie dem entsprechenden Sprachregime – und damit der | |
| guten Sache – zuwider laufen. Es ist dies ein moralischer Rigorismus, der | |
| der guten Sache nicht dient. Würde er das tun, läge das Kind wohl kaum im | |
| Brunnen. | |
| ## Die humorlose Babysitterin | |
| Vielleicht ist es ein Problem der Ansprache, der Performance. Kein | |
| Fünfjähriger, der noch alle Tassen im Schrank hat, wird sich von einer | |
| mürrischen und humorlosen Babysitterin unablässig über den Mund fahren | |
| („Das sagt man nicht!“) und auf die Finger hauen („Das zieht man nicht | |
| an!“) lassen – ganz egal, ob sie recht hat oder nicht. Wie wird dann wohl | |
| der Fünfzehnjährige reagieren? Der Fünfzigjährige? | |
| In der intelligentesten Gegenwartsdiagnose unserer Tage, der US-Serie | |
| „Southpark“, ist diese Haltung seit einer Weile in einer Figur namens „PC | |
| Principal“ auf die Spitze getrieben. Als rabaukiger Direktor der | |
| Grundschule steht er für „beer, party … and social justice“, der er gerne | |
| auch mit Fäusten zum Durchbruch verhilft – bis hin zum Mord. Ein | |
| ideologisch verblendeter Kotzbrocken mit goldenem Herz. Erst als er | |
| wahrnimmt, dass sein Feindbild (der „mittelalte weiße Mann“) vom Kapital | |
| ebenso entrechtet ist wie alle anderen Gruppe, verzichtet er auf Gewalt. | |
| In diesem Sinne ist auch „kulturelle Aneignung“ nur eine weitere Orchidee | |
| aus dem Gewächshaus der US-Campuskultur, die jenseits des akademischen | |
| Schutzraums eigentlich sofort ihre Blätter verlieren sollte. Dabei ist eine | |
| Reflexion von Machtverhältnissen („cultural appropriation“) eine gute und | |
| wichtige Sache, sofern sie nicht als narzisstische Hyperirritabilität um | |
| die Ecke kommt. Wenn aber prinzipiell recht hat, wer sich angegriffen fühlt | |
| oder mit paternalistischer Rechtschaffenheit abwesenden Angegriffenen zu | |
| Hilfe eilt, wer wollte dann noch widersprechen? | |
| Identitätspolitik geht von der Auffassung aus, dass Gruppen notwendige | |
| Eigenschaften besitzen. Diese essentialistischen Prämissen werden auf jede | |
| nur denkbare Gruppe zur Anwendung gebracht, die nicht in der Mehrheit ist | |
| und von dieser in ihrer Entfaltung gehindert wird. Das ist gefährlich. Wie | |
| gefährlich genau, das lässt sich bequem an der Wahl von Donald Trump | |
| ablesen – und das wird uns auch in Europa noch früh genug auf die Füße | |
| fallen. | |
| ## Die Verästelung der Unterschiede | |
| Wer Unterschiede statt Gemeinsamkeiten feiert, wer Unterschieden in immer | |
| feineren Verästelung nachspürt, um die auch gebührend abfeiern zu können | |
| („celebrating diversity“), wer also seit Jahrzehnten nichts anderes | |
| betreibt als Identitätspolitik, der bekommt – Identitätspolitik. | |
| So was kommt von so was. Linke wie rechte Identitätspolitik sind | |
| komplementär, sind zwei Seiten einer unrühmlichen Medaille. Die „identitäre | |
| Bewegung“ in Deutschland und Europa ist eine Jugendbewegung. Das bedeutet | |
| unter anderem, dass ihre Anhänger mit einem Sound aufgewachsen sind, dem | |
| sie nun ihr eigenes Lied entgegenpfeifen. Gleiche Melodie, anderer Text. | |
| Ist das verwunderlich? | |
| Wenn einerseits jede nur denkbare (also freihändig zusammenimaginierte) | |
| geschlechtliche, ethnische, religiöse, sexuelle oder, wer weiß, | |
| olfaktorische Gruppe erstens als Minderheit ausgegrenzt wird und zweitens | |
| so irre „special“ ist, das ich mir ohne (wessen?) Erlaubnis ihre | |
| Nationalgerichte oder ihren Körperschmuck nicht „aneignen“ darf – tja, d… | |
| kommt eben früher oder später auch die „weiße“ Gruppe auf den Trichter, | |
| gleiche Rechte für sich zu beanspruchen; zumal die berühmten Privilegien in | |
| absehbarer Zeit bekanntlich flöten gehen, sofern sie nicht ohnehin schon | |
| zusammen mit dem Arbeitsplatz nach Asien abgewandert sind. | |
| Identitätspolitik, das können die Rechten besser. Die haben das nämlich | |
| erfunden. Die erste „identitäre“ Gruppe in den USA war der Ku-Klux-Klan, | |
| sein Beifall für den gewählten Präsidenten kam von Herzen. Im Wahlkampf hat | |
| Trump in Umkehrung linksliberaler Rederegeln von den Muslimen über die | |
| Schwarzen bis zu den Latinos beinahe alle Bevölkerungsgruppen beschuldigt, | |
| für die angebliche Misere verantwortlich zu sein – nur nicht die Weißen. | |
| Die Weißen haben sich als solche von Trump angesprochen gefühlt, einen | |
| „whitelash“ und also rassistisch gewählt. Nun holen sie sich das Land | |
| „wieder zurück“. | |
| ## Die linke Farce als nationale Tragödie | |
| Darüber hinaus ruft Trump eben nicht, wie es noch Reagan seinerzeit mit den | |
| Schwarzen gemacht hat, die Weißen in typisch amerikanischer Rhetorik zu | |
| Eigenverantwortung auf. Stattdessen stellt er ihnen einen „safe space“ von | |
| staatlichen Ausmaßen in Aussicht. Ein Programm zur Abwehr von allem, was | |
| fremd ist und die eigene Position in Frage stellen könnte. | |
| Im Großen entspricht diese Geste genau dem, womit junge Studierende an | |
| US-Colleges von Inhalten abgehalten werden, die irgendwas „triggern“ | |
| könnten – sei es Ovid, sei es das unsachgemäße und deshalb „respektlose�… | |
| Sushi. Es wiederholt sich also auf Betreiben der Rechten die linke Farce | |
| als nationale Tragödie. | |
| Rechte Identitäre konstruieren sich das „Eigene“, um stolz darauf zu sein. | |
| Das Eigene als Heimisches, Gewachsenes, Tradiertes. Und der Stolz darauf | |
| ist ein Panzer gegen die Zumutung des Fremden, das sie zwar akzeptieren, | |
| aber bitte nur in der Fremde. Linke Identitäre basteln sich ein Anderes, | |
| aus dessen Perspektive das Eigene als bösartiger Bastard erscheinen muss. | |
| Es spricht einiges dafür, zu zwei konkurrierenden und gleichermaßen | |
| beknackten Positionen eine gesunde Äquidistanz zu halten. Auf Differenzen | |
| reagiere man mit Differenzierungen. Es gilt, sich gegen solche | |
| vereinfachenden Mobilmachungen zu immunisieren und auf keine der beiden | |
| Seiten zu schlagen. Es gilt ferner, linke Mehrheiten zu schaffen. Wie die | |
| Wahlen in den USA und Österreich gezeigt haben, geht es dabei nicht um | |
| Millionen. Es geht um 80.000 in der Mitte, die sich nicht für Orchideen | |
| interessieren. Und wenn zur Beschaffung dieser winzigen Mehrheit ein | |
| Alexander Van der Bellen sich lieber in alpenländischem Idyll („Heimat!“) | |
| statt in einer LGBT-Parade oder in einer Dönerbude fotografieren lässt, | |
| sollte uns das recht sein. Weil es hilft, das Kind aus dem Brunnen zu | |
| bekommen. | |
| 6 Dec 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Arno Frank | |
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