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# taz.de -- Über Rassismus reden: Tante Ernas Knochen im Museum
> Weiße stehlen von denen, die nicht so viel Macht haben. Warum wir uns mit
> den eigenen Privilegien befassen müssen.
Bild: Kann Yoga auch Aneignung sein? Kommt darauf an, wer es unterrichtet und d…
Wahrscheinlich werde ich mich noch mit 60 daran erinnern, was ich letzten
Sommer getan habe: Um mir ein Bild von dem unter Linken beliebten
Technofestival „Fusion“ zu machen, fuhr ich nach Lärz in
Mecklenburg-Vorpommern.
Über meine Eindrücke, besonders hinsichtlich Weißsein und der
kolonialrassistischen Praxis der kulturellen Aneignung, [1][schrieb ich
einen polemischen Text für das Missy Magazine], der mit einem monatelangen
Shitstorm quittiert wurde. Zwischen all den ignoranten und hasserfüllten
Kommentaren fand sich auch Kritik an der Critical-Whiteness-„Ideologie“
(lies: Theorie), die sich durch meinen Text zog. Diese fordert, weiße
Privilegien infrage zu stellen, statt sich nur mit der Diskriminierung von
Nichtweißen zu befassen.
Sich mit Privilegien, besonders den eigenen, auseinanderzusetzen, ist
schmerzvoll. Viele Menschen können sich aber gar nicht aussuchen, ob sie
sich mit diesen Themen beschäftigen wollen oder nicht, ganz einfach weil
sie täglich und auf sehr persönliche Weise mit ihnen konfrontiert werden.
Es ist schon ein Privileg, zu diesen Fragen nur mit den Augen zu rollen und
alles anstrengend zu finden. Also, bereit für die Realitätsschelle?
Hinter kultureller Aneignung steckt die kolonialrassistische Praxis, in der
sich die Mehrheitsgesellschaft die Kultur von Subalternen, also sogenannten
Marginalisierten, vor allem Kolonialisierten, abschaut, aus dem Kontext
reißt und aneignet. Beispiele gefällig?
Der kurdisch-deutsche Rapper Haftbefehl hat einen kreativen Mix aus
Arabisch, Türkisch, Kurdisch, Deutsch und Jugendsprache für seine Arbeit
kreiert. Jeder Kanake, der so sprechen würde, müsste sich anhören, er solle
„richtig Deutsch“ lernen.
## Traumaporno
Das verschafft Haftbefehl einerseits Street Credibility, andererseits wird
er – und damit ist er eine Ausnahme innerhalb deutschen Gangster-Raps –
auch von weißen Hipstern begeistert angehört. Das Identifikationspotenzial
fällt zwar weg, dafür gibt es ein bisschen Traumaporno dazu und eine
ironische Art des Fantums, die sich ins „schau, wie nah ich der Straße
bin!“ übersetzen lässt.
Dann kommt da so ein Jan Böhmermann um die Ecke, kopiert Haftbefehls
Sprache und Ästhetik [2][und wird für seinen Song über sein Leben als
Polizistensohn als witziger Satiriker abgefeiert].
Warum ist es okay, wenn kurdische Jugendliche und Rapper so sprechen, aber
nicht Jan Böhmermann?
Was Böhmermann von Haftbefehl unterscheidet, ist, dass er als weißer
Deutscher aufgrund seiner Sprache nicht geandert wird und jederzeit
zwischen Slang und formalem Deutsch wechseln kann.
Aber er ist nicht nur in der Kategorie „Race“ privilegiert, sondern auch
von seiner Klassenherkunft her: Als Beamtenkind und Fernsehmoderator steht
er auf einer anderen Stufe als ein Rapper, der mit 15 die Schule schmiss,
vor seiner Freiheitsstrafe von Deutschland in die Türkei floh, wiederkehrte
und seine Ausbildung zum KfZ-Mechaniker abgebrochen hat.
## Inderin im Sari
Und obwohl Haftbefehl im Vergleich zu anderen Azzlack-Rappern im deutschen
Feuilleton gefeiert wird, wird er sicherlich so schnell keine Fernsehshow
im ZDF bekommen und seine Gesellschaftskritik wird eher belächelt als
anerkannt.
Ein Klassiker ist, wenn weiße Personen auf Technopartys Bindis tragen.
Während eine traditionell gekleidete Inderin in Sari mit Bindi vermutlich
in einen Technoclub mit exklusiver Einlasspolitik nicht reinkommen wird,
können weiße Frauen sich die glitzernden Steinchen zwischen die Augenbrauen
kleben und gelten als hip.
Auch in einer Gesellschaft, die sich selbst als weltoffen und
multikulturell wahrnimmt, wird eine rassifizierte Frau mit Bindi stärker
sanktioniert als die weiße. Bindi ist also nicht gleich Bindi. Es kommt
darauf an, wer es trägt.
Kulturelle Aneignung passiert nicht nur in Mode, Kunst, Musik oder
Popkultur, sondern auch in der Archäologie. [3][Für Missy Magazine Online
schrieb die Wissenschaftlerin und Vorständin des Migrationsrats
Berlin-Brandenburg e. V. Noa Ha] kürzlich über einen Fall, der Deutschland
betrifft.
Das Karl-May-Museum in Radebeul bei Dresden ist im Besitz eines Schädels,
den Native Americans seit Jahrzehnten zurückfordern, um ihren Angehörigen
respektvoll beerdigen zu können. Das ist kulturelle Aneignung in ihrer
materialistischsten Form: Das Museum schmückt sich mit einem gestohlenen
Gegenstand und schlägt daraus Kapital, weil es so seine Sammlung aufwertet,
was wiederum Besucher*Innen anzieht und Umsätze generiert.
## „Ethnopluralismus“
Die Kultur, aus der der Gegenstand stammt, ist in den USA marginalisiert.
Ihr fehlt es an Anerkennung, Lobby und Macht, um entscheiden zu können: Der
Schädel soll ins Museum – am besten in eines, das von Native Americans
verwaltet und unterhalten wird. Man stelle sich vor: Ein Museum in einem
anderen Land würde beschließen, dass Tante Erna leider kein Grab bekommt,
weil ihre gestohlenen Gebeine dort zur Ausstellung gehören. Da wär was los.
Nun gibt es Menschen, die behaupten, die Kritik an kultureller Aneignung
sei identitär und bediene sich rechter Rhetorik, weil sie die Differenzen
von Herkunft betont. Auch von „Ethnopluralismus“ ist die Rede. Aber
Ethnopluralismus, also das Einfordern „reiner“ Kulturen, und die Kritik an
kultureller Aneignung sind nicht dasselbe.
Die Kritik an der Praxis der kulturellen Aneignung will nicht die
Hybridität von Kulturen abschaffen. Natürlich entsteht Kultur aus
verschiedenen Einflüssen, die Grenzen sind fließend. Es gibt keine „reinen�…
Kulturen.
Es geht nicht darum, weißen Menschen vorzuschreiben, dass sie ab sofort nur
noch Lederhosen tragen und kein Sushi mehr essen dürfen. Ich gönne jeder
Person schöne Kleidung und leckeres Essen.
Ich kritisiere auch keine weiße Person mit Wursthaaren (lies Dreadlocks),
weil ich die „deutsche Kultur“ „reinhalten will“, sondern weil ich die
kritische Praxis der Selbstreflexion und einen Blick für Machtverhältnisse
stärken möchte. Es geht nicht um Verbote und Reinheit, sondern um Macht und
darum, wie sie verteilt ist.
## Kompliz*innenschaft
Nicht alles, was erlaubt ist oder nicht sanktioniert wird, ist automatisch
cool. Mit cool ist hier antirassistisch gemeint, denn darum geht es ja: das
eigene Verhalten und die Kompliz*innenschaft in anti-rassistischen Räumen.
Daran ändert auch der oft zitierte nichtweiße Beispielmensch nichts. Selbst
wenn es nichtweiße Menschen gibt, die eine bestimmte Praxis der kulturellen
Aneignung nicht stört – die wird man natürlich immer finden, weil es auch,
Achtung! Überraschung!, unter nichtweißen Menschen unterschiedliche
Meinungen gibt –, ist das noch lange kein Grund, von diesem einen Menschen
auf alle anderen zu schließen und ganze Verbände von Rassismus betroffene
Personen, die öffentlich Kritik ausüben, komplett zu überfahren.
Ohne Aneignung kein Austausch? Stimmt nicht. Austausch und Aneignung ohne
Einwilligung sind nicht dasselbe. Wenn ich zum Beispiel auf eine indische
Hochzeit eingeladen und zum Adaptieren der Kleidung aufgefordert werde, ist
es ein Zeichen von Respekt, dem zu folgen. Ziehe ich dieses Sari aber in
einen Technoclub an, ist es Aneignung. Eigentlich ganz simpel. Räume und
Kontexte spielen eine große Rolle.
Und ja, es stimmt. [4][Identitätspolitik wird uns nicht retten, wie auch
schon Dominique Haensell für die Missy-Debattenreihe zu kultureller
Aneignung schrieb.] Aber sie ist definitiv eine Strategie, die wir nutzen
können, bis wir eine postkoloniale Gesellschaft erreicht haben.
Gegner*innen von Critical Whiteness bemängeln häufig, dass die Benennung
von Unterschieden (lies: Privilegien) diese erst zementiere. Diese Logik
geht allerdings mit einer liberalen „Farbenblindheit“ einher und ignoriert
die unterschiedlichen Realitäten, die durch Rassismus geschaffen werden.
Wenn wir Weißsein nicht benennen dürfen, bleiben wir in der Bekämpfung
weißer Vorherrschaft handlungsunfähig. Was wir allerdings gern neu
verhandeln können (anstatt es aus den USA unverändert zu übernehmen), ist,
wie wir Weißsein definieren. Aber dass es weiße Privilegien gibt, steht für
mich nicht zu Debatte.
26 Nov 2016
## LINKS
[1] https://missy-magazine.de/2016/07/05/fusion-revisited-karneval-der-kulturlo…
[2] https://www.youtube.com/watch?v=PNjG22Gbo6U
[3] https://missy-magazine.de/2016/11/03/kulturelle-aneignung-und-koloniale-gew…
[4] https://missy-magazine.de/2016/11/04/der-boese-boese-essenzialismus/
## AUTOREN
Hengameh Yaghoobifarah
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