| # taz.de -- Serie Über Rassismus reden: Fühlen Sie sich angesprochen, bitte! | |
| > Die Gesellschaft ist von Rassismus durchzogen. Deshalb denken, sprechen, | |
| > fühlen wir rassistisch. Wo ist der Weg aus dem Teufelskreis? | |
| Bild: Helfen neue Wörter gegen Gewalt? Vermutlich nicht | |
| Früher in den 80ern und 90ern war ich noch Ausländer, dann Ende der 90er | |
| Migrant, dann nur ein paar Jahre später Mensch mit | |
| Migrationshintergrund/Migrationsgeschichte/Migrationskontext. Und weil mir | |
| all diese Begriffe sprachlich nicht geholfen haben, Rassismus in | |
| Deutschland zu benennen und weil es auch Fremdbezeichnungen gewesen sind, | |
| bezeichne ich mich als Person of Colour. Und in zehn Jahren? Wer weiß? | |
| Sprache, Schreiben ist lebendiger Widerstand. | |
| Wenn Leute sprachlich als „[1][weiß]“ bezeichnet und damit markiert werden, | |
| löst das auch oft Widerstand aus. Denn es wird auf einmal eine unsichtbare | |
| Norm sichtbar gemacht. Und dann kommt immer ein bestimmtes Dilemma zur | |
| Sprache: Ja, aber reproduzierst du nicht Rassismus in deiner Sprache oder | |
| deinem Schreiben, wenn du diese Begriffe wie weiß/Schwarz/POC verwendest? | |
| Wenn ich zu Yasmin, die als Frau* sozialisiert wurde, sage, ich sehe gar | |
| nicht, dass du eine Frau bist, dann spreche ich ihr all die | |
| Gewalterfahrungen ab, die sie als weiblich sozialisierte Person macht – und | |
| brauche mich dann auch gar nicht mehr mit meinen eigenen Sexismen | |
| auseinanderzusetzen. Wie praktisch. Das ist aber nichts Neues, das sind | |
| eigentlich die Basics. Also wozu die Panik? | |
| ## Rassistische Kontinuitäten | |
| Aber gleichzeitig muss ich mir nichts vormachen: Werden die Heime nicht | |
| mehr brennen, wenn wir „Geflüchtete“ anstelle von „Flüchtlinge“ sagen? | |
| Hätte der NSU uns nicht mehr terrorisiert, wenn wir POC und nicht Menschen | |
| mit Migrationshintergrund gewesen wären? Das erscheint irgendwie unlogisch. | |
| Aber seit wann hat Rassismus irgendetwas mit Logik zu tun? Wir leben im | |
| postfaktischen Zeitalter, Sarrazin hat es eingeläutet, auf die wenigen, die | |
| es entkräften konnten, hat kaum wer gehört. | |
| Fake News boomen, Lügen werden wiederholt, mehr oder weniger wissentlich. | |
| Das ist [2][ein perfider Mechanismus, den sich schon die Nazis zu eigen | |
| machten]. Es wird sich alles wiederholen, solange die rassistischen | |
| Kontinuitäten nicht verarbeitet und unterbrochen werden – im Bewusstsein, | |
| in der Sprache – und dann in der Gesellschaft. | |
| ## Sprechen ist Handeln, Leute | |
| Unser Rassismus steckt im Kinderkörper ([3][das schrieb schon der | |
| Psychologe Tilmann Moser vor 25 Jahren]). [4][Forscher_innen haben | |
| herausgefunden, was mit unserem Gehirn passiert, wenn wir über Rassismus | |
| sprechen]. Bei Weißen (auch bei den Linken und Liberalen) schaltet sich das | |
| Großhirn ab, weil sie Angst haben, etwas Rassistisches zu sagen oder zu | |
| tun. Bei POC schaltet sich das Großhirn ab, weil sie Angst haben, dass | |
| ihnen ihre Lebenserfahrungen abgesprochen werden („Aber das ist doch kein | |
| Rassismus gewesen“). | |
| Im Grunde funktionieren wir dann nur in einem Angriffs- oder Fluchtmodus. | |
| Wie soll es mit dieser Fight-or-Flight-Stressreaktion zu einem | |
| konstruktiven Gespräch über Rassismus kommen? (Das erklärt auch all die im | |
| wahrsten Sinne des Wortes „hirnlosen“ Diskussionen, die ich über Rassismus | |
| hatte.) Auch die, die lernen immer kompetenter über kritisches Weiß-Sein zu | |
| sprechen, sind nicht davor gefeit. Die Textbuchantworten können wir alle | |
| auswendig lernen. Aber was ist eigentlich unser ganz persönliches | |
| Verhältnis zu Rassismus? Was macht unsere Prägung ins Weiß-Sein/POC-Sein | |
| eigentlich mit uns, mit unserer Seele, unserem Körper, unserem Denken und | |
| Sprechen? | |
| ## Rassifizierte Psyche | |
| Der britische Sozialforscher Farhad Dalal schreibt, wenn unsere | |
| Gesellschaft nach dem sozialen Konstrukt der „Rasse“ strukturiert – also | |
| rassifiziert – ist, dann ist auch unsere Psyche rassifiziert. Das heißt: | |
| Rassismus ist nicht ein Problem am Rande der Gesellschaft, sondern ein | |
| Phänomen, das unsere gesamte Gesellschaft formt. Die wenigsten der | |
| Vermieter_innen, Arbeitgeber_innen und Lehrer_innen etc. sind überzeugte | |
| Vertreter_innen der weißen Vorherrschaft (wobei, die gibt es natürlich | |
| auch), sondern stinknormale Leute, so wie Sie und ich, auch Leute, die | |
| liberal sind, links, sogar die taz lesen. | |
| Es zeigt sich immer wieder in [5][Studien zum Arbeits-, Bildungs- und | |
| Wohnungsmarkt (pdf)], dass der Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen | |
| einigen Menschen erschwert und anderen erleichtert wird, je nachdem wo sie | |
| „rassisch“ positioniert werden. Die Forschung zeigt auch, dass wir [6][von | |
| frühester Kindheit an (pdf)] in eine Kultur hineinsozialisiert werden, in | |
| deren Zentrum Weiß-Sein steht. Auch als Erwachsene handeln wir nach den | |
| Regeln dieser rassifizierten Kultur (ähnlich ließe sich dieser Gedanke auch | |
| auf Gender oder Klasse übertragen). | |
| Was auf unser Denken zutrifft, trifft auch auf unsere Sprache und Schrift | |
| als Ausdruck des Bewusstseins zu. Die wenigsten von uns möchten gerne | |
| bewusst (sprachlich) Rassismus und implizite Vorurteile reproduzieren | |
| (wobei ist gibt auch einige die das wollen, vor allen in den | |
| Kommentarseiten) und trotzdem tun dies viele von uns. Daher stellt sich die | |
| Frage: Wie dekolonisiere/entrassifiziere ich Sprache? | |
| ## Der Subtext zählt | |
| Reicht PC (Political Correctness) dazu aus? Oder braucht es vielleicht | |
| mehr? Ich habe meine Zweifel, dass Political Correctness alleine reichen | |
| wird. Warum überhaupt eine „politische Korrektheit“, wie wäre es mit einer | |
| menschlichen Korrektheit oder gar mit Menschlichkeit? Klar ist es eine | |
| tolle Sache, vor allem in der Öffentlichkeit nicht XYZ (hier rassistisches | |
| Schimpfwort ihrer Wahl einfügen) genannt zu werden. Aber ich bin trotzdem | |
| nicht aus dem Schneider, denn andere rassistische Bezeichnungen wie zum | |
| Beispiel das N-Wort machen etwas mit mir und sie machen etwas mit meinen | |
| Kindern. | |
| Die vermeintliche Neutralität dieser Begriffe sind selten in ihrem Ursprung | |
| zu entdecken, sondern viel mehr im alltäglichen Sprachgebrauch. Der Subtext | |
| von „Ich bin doch nicht dein N....“ ist allen mehr oder weniger klar („Ich | |
| bin doch nicht dein Sklave“), da wird eine Wertung in dem Begriff sichtbar. | |
| Ich werte jemanden ab, um mich darin aufzuwerten. | |
| Diesen Trick lernen wir in frühester Kindheit und er wird uns in niedliche, | |
| herzerwärmende Geschichtchen verpackt, und wenn dann die bösen | |
| Anti-Rassist_innen kommen und diese kritisieren, dann ist es wie ein | |
| Angriff auf unsere Kindheit und der Widerstand und das Geschrei ist groß. | |
| Das hat auch viel mit Definitionsmacht zu tun und diese nicht abgeben zu | |
| wollen. | |
| ## Privileg der Definitionsmacht | |
| Häufig wird angenommen, dass Privilegien etwas sind, was wir haben, | |
| besitzen oder gar ansammeln können, aber [7][Privilegien sind viel mehr | |
| Beziehungen], die wir haben, zu Ressourcen, Menschen, Waren, und auch zu | |
| Sprache. Die Beziehungen, die wir zu Mainstream-Medien haben, haben etwas | |
| mit dem Privileg der Definitionsmacht zu tun, (wer definiert Rassismus, | |
| weiß oder Terror?) Wie divers sind die Redaktionen der Medien, wie viele | |
| Redakteur_innen, Journalist_innen, Autor_innen of Colour arbeiten in den | |
| Medien, die wir tagtäglich konsumieren (auch in der taz)? | |
| Ganz klar, POC sind dort immer noch besorgniserregend unterrepräsentiert. | |
| Besorgniserregend, weil Judith Butler schreibt, dass diejenigen, die sich | |
| selbst repräsentieren könne, am meisten als Menschen wahrgenommen werden | |
| und diejenigen, über die gesprochen und geschrieben wird, wird am wenigsten | |
| Menschlichkeit zugesprochen. | |
| Rassist_innen werden uns wahrscheinlich weiterhin umbringen, auch wenn sie | |
| uns als POC bezeichnen, aber vielleicht werden sie uns nicht mehr | |
| umbringen, wenn sie uns als Menschen wahrnehmen. Und irgendwie hängen das | |
| zusammen, weil Selbstbezeichnung etwas mit Selbstbestimmung zu tun haben | |
| und somit auch, als Mensch akzeptiert und wahrgenommen zu werden. | |
| ## Gewalt reproduzieren | |
| Und mehr noch, Diversität wird auch nicht reichen, wenn wir nicht unser | |
| Denken und Schreiben dekolonisieren, sonst reproduzieren nicht-Schwarze | |
| POCs nur ihre gelernten Rassismen über Schwarze POCs in ihrer Sprache und | |
| ihrem Schreiben. (Das erklärt vielleicht mein ambivalentes Verhältnis zur | |
| taz, wenn auch immer wieder gute Artikel von Weißen dabei sind, die | |
| wahrscheinlich aufmerksam das aufschnappen, was POC sagen und dann als ihr | |
| eigenes verkaufen. Aber kulturelle Aneignung ist Quatsch, ne? #sarkasmus). | |
| Vielleicht ist es nur ein Trick der weißen Vorherrschaft: Wir halten uns an | |
| Detailfragen, wie Begrifflichkeiten und kultureller Aneignung auf, während | |
| die Rechte aufrüstet und rassistische Strukturen unangetastet bleiben. Sind | |
| wir nicht dazu verdammt, die unaufgearbeitete Gewalterfahrung der | |
| Rassifizierung in anderer Form der Sprachgewalt zu reproduzieren, so lange | |
| wir uns dieser nicht stellen? | |
| ## Die Mitte der Gesellschaft | |
| Natürlich gibt es daher auch unter Anti-Rassist_innen Leute, die | |
| gewaltvolle und idiotische Sachen sagen, schreiben, tun. Na und?! Wir | |
| werden von den Idiot_innen, die ihr wählt regiert. Wie steht das in einem | |
| Verhältnis? Wir POCs müssen mit Trump leben, dem Brexit, der | |
| Wiedervereinigung – alles historische Momente, die weißen Terror ermöglicht | |
| und verstärkt haben. Wir empören uns über (ich gebe zu, manchmal nicht ganz | |
| unwichtige) Details, während NSU & Co kräftig weiter morden. | |
| Was bedeutet es, wenn wir sagen, Rassismus kommt aus der Mitte | |
| Gesellschaft? Wir alle, die dies hier lesen, sind die Mitte der | |
| Gesellschaft, und je mehr wir verdrängen, dass Rassismus unser aller Leben | |
| und Bewusstsein prägt, umso wahrscheinlich werden wir Rassismus in | |
| irgendeiner Form (meist unabsichtlich) in unserem Handeln, Schreiben und | |
| Sprechen reproduzieren. | |
| Vielleicht sollte es weniger um politische Lager gehen, als darum | |
| [8][Themen in einen neuen Rahmen zu setzen] und Leute, die zu diesen Themen | |
| an einem Strang ziehen wollen zusammenzubringen? Rassismus erzeugt Leiden | |
| in allen, wenn auch mit unterschiedlichen Konsequenzen. | |
| ## Ein neues Bewusstsein | |
| Wie können wir uns diesem Leiden annähern, es anerkennen, anlächeln und als | |
| eine Quelle der Kraft nutzen, ohne uns darüber zu definieren? Vielleicht | |
| können wir uns inspirieren lassen, [9][Begriffe verändern] wie dies die | |
| Leute am Standing Rock taten, sich nicht „protesters“, sondern „water | |
| protectors“ nannten? Vielleicht können Anti-Rassist_innen auch zu | |
| Bewahrer_innen oder Rekonstrukteur_innen einer (neuen?) Menschlichkeit | |
| werden, die wir alle im Zuge unserer Rassifizierung verlieren. | |
| Vielleicht, wenn wir unser Bewusstsein verändern, beantworten sich viele | |
| der Detailfragen von selbst. Vielleicht können wir uns fragen: Welcher Teil | |
| von mir spricht oder schreibt gerade – oder fühlt sich gerade angesprochen | |
| oder nicht? Der Teil, der von Kindheit an dazu konditioniert wurde, im | |
| rassistischen System zu funktionieren, oder der Teil in uns, der Befreiung, | |
| Heilung und Menschlichkeit sucht? | |
| 5 Mar 2017 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.deutschlandschwarzweiss.de/nachhilfe_im_weisssein.html | |
| [2] http://www.openculture.com/2017/01/hannah-arendt-explains-how-propaganda-us… | |
| [3] http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13681075.html | |
| [4] https://www.opensocietyfoundations.org/voices/why-do-people-stereotype-blac… | |
| [5] http://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/28_Einwanderung… | |
| [6] http://macau.uni-kiel.de/servlets/MCRFileNodeServlet/dissertation_derivate_… | |
| [7] https://opinionator.blogs.nytimes.com/2015/10/01/paul-gilroy-what-black-mea… | |
| [8] https://www.youtube.com/watch?v=Hcdgz7lMcSg | |
| [9] https://cdn.ampproject.org/c/s/amp.theguardian.com/commentisfree/2017/jan/1… | |
| ## AUTOREN | |
| Mutlu Ergün-Hamaz | |
| Xueh Magrini Troll | |
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