| # taz.de -- Über Rassismus reden: Da war doch was? | |
| > Eigentlich hat Deutschland eine eigene Tradition der Rassismuskritik. Wir | |
| > sollten uns daran erinnern, statt US-amerikanische Theorien abzukupfern. | |
| Rassismus ist ein Wort, das niemand gern in den Mund nimmt. Ich erinnere | |
| mich an ein [1][Interview mit Thilo Sarrazin] in der Zeit, in dem Bernd | |
| Ulrich und Özlem Topçu ihm eingangs versicherten, er sei ja kein Rassist. | |
| Sarrazin hatte zuvor behauptet, dass „die Türken“ durch ihre Geburtenrate | |
| Deutschland erobern würden wie die Kosovaren das Kosovo, was ihm egal wäre, | |
| würde es sich um osteuropäische Juden handeln – die seien ja 15 Prozent | |
| intelligenter als der Durchschnitt der deutschen Bevölkerung. Was könnte | |
| überhaupt Rassismus sein, wenn das nicht Rassismus genannt werden kann? | |
| Die Historikerin Fatima El-Tayeb schrieb kürzlich von der | |
| „Rassismusamnesie“ in Deutschland. Das ist ein wohlbekanntes Phänomen. Wenn | |
| „etwas“ vorfällt, dann ist die Empörung zunächst enorm. Allerdings lässt | |
| sie schnell wieder nach, bis wieder „etwas“ geschieht. „Etwas“, das hei… | |
| gewöhnlich spektakuläre Gewaltakte oder offen rechtsextreme Äußerungen – | |
| und das erscheint jedes Mal wieder als die große Ausnahme. | |
| In einer solchen Atmosphäre ist es nie leicht gewesen, Rassismus überhaupt | |
| zu thematisieren. Als ich Ende der 1990er Jahre ein Stipendium beantragt | |
| habe für meine Arbeit über „die Banalität des Rassismus“, wurde mir aus … | |
| Sitzung einer Stiftung berichtet, dass dort ein Professor für Psychologie | |
| unverhohlen meinte: Wenn ein „Ausländer“ mit qualitativen Methoden andere | |
| „Ausländer“ über Rassismus befragt – was soll denn dabei rauskommen? Ich | |
| erhielt Ablehnungen. | |
| Was mir immer wieder in der öffentlichen Debatte auffällt, ist der Mangel | |
| an Kontinuität oder Traditionsbildung im Bereich Antirassismus – man könnte | |
| von einer „Amnesie des Antirassismus“ sprechen. Ich hab damals in meiner | |
| Dissertation über „banale“ Formen des Rassismus auch gefragt, wie die | |
| Teilnehmer („Migranten zweiter Generation“) sich Rassismus erklären. | |
| Tatsächlich fällt es schwer, die eigenen Erlebnisse einzuordnen, wenn man | |
| nicht weiß, wie eigentlich Rassismus funktioniert und was darunter zu | |
| subsumieren wäre. Dieses „Wissen über Rassismus“ ist in Deutschland | |
| schlecht ausgebildet, auch weil es nicht gelingt, kollektiv irgendeine Art | |
| von Kriterien und damit auch ein Gedächtnis der Diskriminierung zu | |
| schaffen. | |
| ## Überempfindlich und neurotisch | |
| Dabei ähneln sich die Ausgrenzungserlebnisse seit Jahrzehnten. Immer wieder | |
| geht es um die ausgliedernden Fragen nach der Herkunft, darum, wie es | |
| angeblich bei irgendwem „zu Hause“ zugeht, um Zuschreibungen, die auf | |
| Herkunft beruhen, oder Kontrollen aufgrund des Aussehens. Und es geht | |
| darum, wie diese Dinge angesprochen werden können, wenn Situationen unklar | |
| erscheinen. | |
| Die Betroffenen bleiben oft versteinert und wütend zurück, zumal ihre | |
| Erlebnisse regelrecht disqualifiziert werden – mir haben in solchen Fällen | |
| Leute nicht nur gesagt, ich sei „überempfindlich“, sondern sogar | |
| „neurotisch“, also: krank. Da die Rassismuserfahrungen oft nicht | |
| verbalisierbar sind, werden sie in sprachlose Reaktionen übersetzt. Die | |
| Praxis, Kinder zumal türkischer Herkunft allein wegen ihrer Sprachdefizite | |
| auf die „Sonderschule“ zu schicken, hat dazu geführt, dass die betreffenden | |
| Eltern sich heute verständlicherweise häufig weigern, einen | |
| „I(integrations)-Status“ für ihre Kinder zu akzeptieren, obwohl das den | |
| Kindern zugutekommen würde. | |
| Die Amnesie nun macht sich bemerkbar, wenn in der Öffentlichkeit alle Jahre | |
| wieder die gleichen Phänomene beschrieben und beklagt werden, als würde das | |
| alles zum ersten Mal passieren. Es könnte helfen, eine Sprache zu finden, | |
| wenn man sich daran erinnert, dass vieles zuvor schon gesagt wurde bei | |
| Yüksel Pazarkaya, Dursun Akcam, Giorgos Tsiakalos, Haris Katsoulis, Lutz | |
| Hoffmann, Herbert Even, Katharina Oguntoye, May Ayim, Annita Kalpaka, Nora | |
| Räthzel, Hennig Melber, Santina Battaglia, den Filmen von „Kanak TV“ und | |
| vielen mehr. Schon gehört? | |
| Zudem erinnert kaum jemand an Arbeiten der „autonomen l.u.p.u.s. Gruppe“ | |
| oder die Pionierarbeiten des Duisburger Instituts für Sozialforschung. Der | |
| Mangel an Erinnerung hat damit zu tun, dass das Thema in den sozialen | |
| Bewegungen kaum aufgegriffen wird – im Vordergrund steht hier zumeist die | |
| Unterstützung von Geflüchteten oder der Kampf „gegen rechts“. | |
| ## Vergessen durch Konkurrenz | |
| Im Mainstream der Wissenschaft ist die Ablehnung weiter hoch: Ein Lehrstuhl | |
| für Rassismusforschung gibt es nicht. Im Wissenschaftsbetrieb (nicht nur | |
| dort) hat das Vergessen aber auch etwas mit Konkurrenz zu tun. In den | |
| Arbeiten über „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ bzw. in allen | |
| Forschungen, die mit dem Vorurteilskonzept arbeiten wird die gesamte | |
| kritische Rassismusforschung etwa von Paul Mecheril, Claus Melter, Wiebke | |
| Scharatow, Karim Fereidooni oder auch mir ebenso wenig erwähnt wie die | |
| jüngsten Forschungen im Rahmen der „Grenzregimeanalyse“. Susan Arndt | |
| wiederum, die „kritische Weißseinforschung“ betreibt, hat ein Buch über | |
| „Rassismus“ in der „beck´schen Reihe“ geschrieben, in dem sie auf die | |
| englischsprachige Literatur und die eigenen Peers rekurriert – alles andere | |
| wird einfach ignoriert. | |
| Es ist durchaus richtig, dass die Literatur insbesondere aus dem | |
| englischsprachigen Bereich oft konkreter, besser, zeitgenössischer | |
| daherkommt als vieles, was hierzulande erschienen ist. Allerdings erscheint | |
| die Auswahl eng und selektiv. So zitiert fast niemand die Werke aus den | |
| sogenannten Chicano Studies, obwohl die Erfahrungen der Latino-Communitys | |
| in den USA vielen Betroffenen in Deutschland weitaus näher wären als jene | |
| der US-amerikanischen Schwarzen. | |
| In jüngster Zeit haben nun „Postkolonialismus“ und „Weißseinforschung�… | |
| Universität, Kunst und Journalismus eine gewisse Karriere erlebt. Ich frage | |
| mich jedoch, ob dieses Konzept den hiesigen Verhältnissen angemessen | |
| erscheint. Zweifellos erscheint die Reflexion von unterschiedlichen | |
| Privilegien in unterschiedlichen Kontexten wichtig in einer Gesellschaft, | |
| in der ein Russlanddeutscher vor Gericht eine Muslimin tötet oder viele | |
| Personen polnischer Herkunft massive antimuslimische Ressentiments hegen. | |
| Problematisch ist, dass die Privilegien, obwohl ständig betont wird, es | |
| seien Konstruktionen, entlang der Hautfarbe strukturiert werden: Am einen | |
| Ende des Spektrums „weiß“, am anderen „schwarz“. | |
| Nun weiß ich nicht, was die Verwandten von Theodoros Boulgaridis, dem | |
| siebten NSU-Opfer, damit anfangen könnten, dass er sterben musste, weil er | |
| ein „migratisierter_Weißer“ war, wie Alyosxa Tudor sagt. Sie schreibt, | |
| „dass weiße Privilegien als solche reflektiert werden müssen. Es gibt | |
| keinen Rassismus gegen Weiß“. Historisch ist das kaum zu halten. Irland und | |
| Zypern waren Kolonien. Die Nazi-Pläne für Ost- und Südosteuropa basierte | |
| auf dem Konzept des „Untermenschen“. Und was außer Rassismus hätte | |
| legitimiert, dass die Wehrmacht zwei Millionen russische Kriegsgefangene | |
| einfach verhungern ließ? Die „Rassen“-Forschung in Großbritannien ist im | |
| Zusammenhang mit der Sorge um die mangelnde Intelligenz der Arbeiterklasse | |
| entstanden. Die jüngste Karriere des Begriffes „chav“, als abwertende | |
| Bezeichnung für Menschen aus der Unterschicht, weist auf Kontinuitäten hin. | |
| Was also ist mit den Privilegien bezüglich der sozialen Herkunft? | |
| ## Das Setting macht die Konstruktion | |
| Jetzt habe ich außer Acht gelassen, dass „weiß“ nicht als Hautfarbe | |
| verstanden wird, sondern als eine je nach Setting wechselnde Konstruktion. | |
| Aber warum sprechen wir dann von „racial profiling“, als sei das allein | |
| eine Sache von „race“? – Das deutsche Wort möchte ich hier gar nicht | |
| verwenden. | |
| Umgekehrt würde ich gern darüber nachdenken, auf welche Weise über lose | |
| organisierte Gruppen von Männern arabischer Herkunft gesprochen werden | |
| kann, die sexualisierte Raubüberfälle begangen haben? Oder wie damit | |
| umzugehen ist, dass in München eine Person iranischer Herkunft, ein „POC“, | |
| sich selbst als „Arier“ betrachtet und Jagd auf „Türken“ und „Araber… | |
| macht. | |
| Die „postkoloniale“ Theorie der 1990er Jahren war darum bemüht, „schwarz… | |
| und „weiß“ zu hinterfragen und die Dinge komplizierter zu machen. Heute | |
| wird aber kaum mehr „Kultur und Imperialismus“ von Edward Said gelesen, | |
| sondern „Orientalismus“ – das frühere Buch, das ihm selbst später als | |
| vereinfachend erschien. | |
| Ich finde, Antirassismus sollte mehr sein als die Thematisierung von | |
| Privilegien, sondern muss sich um die Veränderung von Staatsbürgerschaft, | |
| die Öffnung von Institutionen, die Vertiefung von materieller | |
| Antidiskriminierung bemühen. Denn wenn wir alle unsere Privilegien | |
| reflektiert haben und eine Sprache verwenden, die niemanden verletzt, was | |
| wollen wir dann politisch? | |
| 20 Feb 2017 | |
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| [1] http://www.zeit.de/2010/35/Sarrazin | |
| ## AUTOREN | |
| Mark Terkessidis | |
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