# taz.de -- Hommage an Carson McCullers: Kein Ort, an dem man stehen könnte | |
> Die US-amerikanische Autorin Carson McCullers wäre nun 100 Jahre alt | |
> geworden. Ihr Leben war zu kurz, ihre Bücher machten sie weltberühmt. | |
Bild: Verzichtete auf ihren eindeutig weiblichen Vornamen Lula und ließ den zw… | |
Es gibt eine Anekdote aus dem Leben der jung verstorbenen US-amerikanischen | |
Schriftstellerin Carson McCullers, die ist vielsagend. Im April 1963 machte | |
die 46-Jährige, die schon mehrere Schlaganfälle erlitten hatte, Schmerzen | |
litt, kaum mehr gehen konnte und todkrank war, einen letzten Besuch in | |
ihrer Heimat, im tiefen Süden, wo alle ihre Bücher spielen. | |
Auf einer Party traf sie dort den 26-jährigen Gordon Langley Hall. Am Ende | |
des Abends nahm sie ihn beiseite, schaute ihn eine Weile still an und sagte | |
schließlich zu ihm: „Sie sind wirklich ein kleines Mädchen.“ Erst Jahre | |
später fanden Mediziner heraus, dass Hall zwar als Junge geboren wurde, | |
biologisch aber eine Frau und in der Lage war Kinder zu bekommen. Hall ließ | |
sich operieren, heiratete ihren schwarzen Butler und bekam eine Tochter mit | |
ihm. | |
Im Jahr 1971 sagte Hall in einem Interview: „Carsons Sinne waren durch ihre | |
eigenen Leiden so geschärft, dass sie mich als das erkannte, was ich war … | |
Ich war ein Freak, ja, ein Freak, wie eine von ihren Romanfiguren.“ | |
Carson McCullers, die am 19. Februar hundert Jahre alt geworden wäre, war | |
zu lange krank, ihr Leben zu kurz, als dass sie viele Bücher hätte | |
schreiben können. Die Handvoll Romane und Erzählungen, die sie geschaffen | |
hat, machen sie zu einer der tollsten Schriftstellerinnen der USA, die man | |
gerade heute wieder lesen sollte. | |
In den Lobpreisungen ihrer Literatur wird immer wieder betont, sie habe die | |
Kommunikationsunfähigkeit der Menschen, die Unmöglichkeit erfüllter Liebe, | |
die Isolation und Einsamkeit der Menschen beschrieben wie keine zuvor. | |
Auch unterstreichen viele die Bedeutung des südstaatlichen Settings ihrer | |
Bücher – den Hintergrund einer Gesellschaft, die damals wie heute oft von | |
Sexismus und Rassismus geprägt ist. Doch diese Beschreibungen treffen den | |
Kern der Prosa McCullers’ nur teilweise. | |
## Kurze, einfache, trockene Sätze | |
Wenn man das Wesen ihrer Prosa finden will, muss man nur eines ihrer Bücher | |
aufschlagen und einige dieser ersten Sätze lesen, kurze, einfache, trockene | |
Sätze, wie sie McCullers meistens schreibt, Sätze, in denen viel Kraft | |
steckt. Der zweite aus „Frankie“ („The Member of the Wedding“) zum Beis… | |
ist so ein Satz, aus ihrem dritten Roman, den sie 1947 mit dreißig Jahren | |
veröffentlichte. | |
Er geht so: „Sie gehörte zu keinem Klub noch zu sonst was auf der Welt.“ | |
(„She belonged to no club and was a member of nothing in the world“). | |
Frankie ist 12 Jahre alt, viel zu groß für ihr Alter, trägt meist kurze | |
blaue Hosen, Unterhemd und die Haare wie ein Junge. | |
Sie geht gern barfuß und schneidet sich dann die Splitter aus den Füßen, | |
bis es blutet, ohne dabei mit der Wimper zu zucken. Frankie ist aus | |
demselben Holz geschnitzt wie Mick in McCullers’ bestem Roman, ihrem Debüt | |
„Das Herz ist ein einsamer Jäger“ („The Heart Is a Lonely Hunter“), f�… | |
die Autorin, 23-jährig, als literarisches Wunderkind gefeiert wurde: Beide | |
Mädchen sind Tomboys. | |
## Kampf mit der Sexualität | |
Sie kämpfen mit ihrer Sexualität – und das in der Nachkriegszeit, als die | |
amerikanischen Frauen mehr zwischen ihrer traditionellen Rolle als Hausfrau | |
und Mutter und den Anforderungen der Arbeitswelt im Zeichen des | |
bevorstehenden Wirtschaftswunders zerrissen waren denn je. Sie rauchen wie | |
Schlote, stromern in den Straßen herum, klettern auf Häuserdächer, belegen | |
Mechanikkurse, sie sind frei und wild und ihre Träume groß. | |
Und trotzdem fühlen sie sich weder heimisch in der Welt noch in ihrem | |
Körper. Und erschließen so Welten, zu denen weiße Teenager weder damals | |
noch heute Zutritt hätten. | |
Während Frankie sich hauptsächlich mit der schwarzen Haushälterin Berenice | |
anfreundet, spielt Mick in ihrem Roman genau genommen nur eine von sieben | |
Hauptrollen. Um sie herum treten unter anderen ein tauber Homosexueller | |
auf, ein trinkender Revolutionär und ein sozialkritischer schwarzer Arzt, | |
der einen seiner Söhne auf den Namen Karl Marx getauft hat. Sie alle stehen | |
vollkommen außerhalb dessen, was in der kleinen, stets mörderisch heißen | |
Stadt in Georgia, in der sie leben, sonst zählt. | |
In den Augen derer, die sie umgeben, sind diese Figuren von McCullers | |
genauso groteske Freaks wie für Frankie die Schausteller aus Chatahoochee, | |
die sie sich jedes Jahr für einen Vierteldollar auf dem Jahrmarkt ansieht: | |
der Riese, die dicke Frau, der schwarze Wilde, der lebende Ratten frisst, | |
vor allem aber der Hermaphrodit. | |
Natürlich betrachtet McCullers ihre Freaks weder mit Befremdung noch mit | |
Ekel, sondern mit so viel Empathie und Verständnis, dass es einen als Leser | |
fast umbringt, wenn ihnen am Ende zustößt, was ihnen, wie man stets weiß, | |
zustoßen muss. | |
Es ist bekannt, dass Frankie und Mick autobiografisch inspiriert sind, | |
Carson McCullers, die auf ihren eindeutig weiblichen Vornamen Lula | |
zugunsten ihres Zweitnamens Carson verzichtete und sich fast ausschließlich | |
in lässigen Männerkleidern fotografieren ließ, hat mehrfach gesagt, sie sei | |
als Mann geboren worden. | |
Immer war McCullers, die eine turbulente Ehe führte, unglücklich in Frauen | |
verliebt – unter anderem in die Schweizer Schriftstellerin Annemarie | |
Schwarzenbach – ohne je mit ihnen eine Beziehung eingehen zu können. | |
## Weiße und Schwarze | |
Die weiße Autorin, Historikerin und Hochschullehrerin Sarah Schulman hat | |
einen erhellenden Essay über Carson McCullers geschrieben, der im Oktober | |
2016 im New Yorker erschienen ist. Schulman beschreibt, wie sie selbst vor | |
Jahren einen Roman mit einem schwarzen Protagonisten geschrieben hat, den | |
sie für gelungen hielt, bis sie eines Tages auf einen Fehler aufmerksam | |
gemacht wurde. | |
Sie hatte eine Szene geschaffen, in der sich eine junge schwarze Frau darum | |
sorgt, ihr Großvater könnte einmal mit einer weißen Frau verheiratet | |
gewesen sein. Die Vermischung der Rassen sei eine weiße Angst, wurde | |
Schulman von ihrer Kollegin aufgeklärt. Schwarze kennen die Geschichte von | |
Sklaverei und Vergewaltigung, rassische Reinheit ist eine Idee, die ihnen | |
fremd ist. Schulman wurde klar: Sie hatte einer schwarzen Figur weißes | |
Bewusstsein in den Mund gelegt. | |
Schulman macht darauf aufmerksam, wie McCullers es dagegen in all ihren | |
Büchern schaffte, auch schwarze Räume authentisch zu beschreiben, in denen | |
Weiße nicht präsent sind – eine Gabe übrigens, für die sie auch von | |
schwarzen Kollegen viel gelobt wurde. | |
Eine Gabe, die in Szenen wie dem Besuch des schwarzen Hausmädchens Portia | |
bei ihrem Vater, dem Arzt Benedict Copeland, zum Ausdruck kommt, einem | |
grimmigen alten Mann, der sehr gebildet ist und gern Spinoza liest. Er ist | |
vor Langem daran zerbrochen, dass er seine Kinder nicht hat anstecken | |
können mit seinen emanzipatorischen Ideen. Immer wieder sagte er ihnen, sie | |
müssten „das Joch der Ergebenheit und der Trägheit“ abwerfen. Erreicht hat | |
er sie damit nicht. | |
Irgendwann sagt Portia in seiner Küche zu ihrem Vater: „Wir wollen gar | |
nicht so reden wie du, wir reden wie unsere Mama und ihre Leute und die | |
Leute von ihnen. Du denkst dir das alles mit dem Verstand aus. Aber wir | |
sagen die Dinge so, wie sie schon lang in unserem Herzen sind. Darum sind | |
wir anders wie du … Man kann nicht einfach seine Kinder nehmen und sie so | |
zurechtquetschen, wie man sie haben will. Egal, ob ihnen das wehtut oder | |
nicht.“ | |
Vielleicht war McCullers in der Lage, Szenen wie diese zum Leben zu | |
erwecken, weil sie heute transgender wäre – so die interessante These von | |
Sarah Schulman. Aber McCullers konnte damals noch nicht wissen, wer sie | |
war. Sie hatte keinen Ort, an dem sie stehen konnte. | |
Möglicherweise konnte sie sich deshalb derart glaubwürdig auf die Seite von | |
Menschen stellen, die ebenfalls offiziell nicht existierten. | |
18 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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