# taz.de -- Chamisso-Preisträger über Sprache: „Das Fehlen beschreibt, was … | |
> Senthuran Varatharajah erhält für sein Debüt den Chamisso-Förderpreis. | |
> Ein Gespräch über Identität, Haftbefehl und einen Heilsbringer. | |
Bild: Senthuran Varatharajah Debütroman „Vor der Zunahme der Zeichen“ ersc… | |
taz: Herr Varatharajah, in Ihrem Roman beschreiben Sie ein Aufwachsen mit | |
„Aktenzeichen XY“ und „Stadt, Land, Fluss“ – eine typisch deutsche | |
Geschichte. Warum sprechen Sie für Ihre Protagonisten trotzdem nicht von | |
einer deutschen Identität? | |
Senthuran Varatharajah: „Typisch deutsche Geschichte“ – ich glaube, in | |
diesem Zusammenhang höre ich diese Formulierung zum ersten Mal. Die | |
Erfahrungen, die im Roman beschrieben werden, werden manchmal als Blicke | |
„von außen“ interpretiert – weil Senthil und Valmira, die Protagonisten, | |
mit ihren Familien Mitte der achtziger und Anfang der neunziger Jahre als | |
Flüchtlinge in dieses Land gekommen waren. Ich frage mich, welches „Außen“ | |
damit gemeint ist. Senthil war bei seiner Ankunft vier Monate alt, so wie | |
ich auch. Ich lebe seit fast 33 Jahren hier. Die ersten sieben Jahre haben | |
wir in fünf verschiedenen Asylbewerberheimen verbracht – das ist eine sehr | |
deutsche Geschichte. Von deutscher Identität spreche ich dennoch nicht. | |
Auch weil ich nicht weiß, was damit gemeint sein soll. | |
Sie haben mal gesagt, Identität sei ein Begriff, der eine „ziemlich coole | |
Leerstelle“ in Ihrem Leben markiere. | |
Der Begriff der Identität hat für mich allenfalls philosophiehistorische | |
Bedeutung, wie etwa in der klassischen deutschen Philosophie. Ich bezeichne | |
mich weder als Deutscher noch als Tamile, auch nicht als Deutschtamile. | |
Dieses Fehlen eines Begriffs beschreibt, was ich bin. Und es entspricht der | |
Sprachlosigkeit, aus der heraus geschrieben wird. | |
Sprachlosigkeit? | |
Wenn jemandem die Sprache, die er spricht, immer wieder genommen, sie ihm | |
abgesprochen wird, wenn das Sprechen dieser Sprache zu Irritationen wie dem | |
Hinweis „Sie sprechen aber gut Deutsch“ führt, dann kann man nur aus einer | |
Sprachlosigkeit heraus sprechen. Seit der Veröffentlichung des Romans ist | |
ein Jahr vergangen. Ich werde immer noch von Journalistinnen und | |
Journalisten, die ihn gelesen haben, auf Englisch angesprochen – weil sich | |
dunkle Haut und fließendes Deutsch, dunkle Haut und anspruchsvolle | |
Literatur für sie ausschließen. | |
Deutsch ist die Sprache, in der Sie sich heimisch fühlen? | |
In einem Interview wurde ich einmal gefragt, was meine Muttersprache sei. | |
Meine Antwort war: Wenn es eine gäbe, dann Deutsch. Die Journalistin | |
widersprach mir vehement. Sie sagte, das sei nicht möglich, Tamil müsse | |
meine Muttersprache sein, denn die Muttersprache sei die Sprache, „in der | |
man Kinderlieder gehört“ habe. Ich kenne nur deutsche Kinderlieder, nicht | |
ein tamilisches. Das Blut wurde in dieser Argumentation durch Muttermilch | |
ersetzt. Das Abstammungsprinzip aber bleibt erhalten. | |
Inwieweit bezieht sich auch Ihre Sprachkritik auf den Begriff der | |
Identität? | |
Für mich bedeutet schreiben, jede Identität zu zerstören, so, wie auch | |
Sprache zerstört werden muss. Wenn es nicht mehr diese eine richtige | |
Sprache gibt – die, die wir in der Schule und in der alltäglichen | |
Kommunikation lernen, oder die, die uns zugestanden und von uns erwartet | |
wird –, dann könnten vielleicht jene Stimmen gehört werden, deren | |
Artikulation im öffentlichen Diskurs derzeit nicht möglich ist. Und wenn es | |
keine richtige Sprache mehr gibt, dann könnte gesprochen werden, auf jede | |
erdenkliche und unerdenkliche Weise. Kennen Sie den Rapper Haftbefehl? | |
Klar. | |
In „Kanackiş“ von Haftbefehl heißt es: „Das ist kein Deutsch, was ich | |
mache, ist Kanackiş.“ Darum ging es mir in meinem ersten Roman: Eine neue | |
Sprache zu finden; eine, die angemessen ist für das, was meine Erfahrung | |
sein könnte. Das ist auch der Grund, weshalb ich versuche, Prosa wie Lyrik | |
zu schreiben, weil Lyrik tatsächlich Sprache zerstört, allein formal. | |
Blanchot sagt, Prosa sei die durchgehaltene Linie, Lyrik ihre | |
Unterbrechung. Sie unterbricht die Sprache. Und wenn sie unterbrochen ist, | |
sehen wir sie anders, sehen ihr Zögern und Zerbrechen. Im literarischen | |
Diskurs wird das Sprechen über Identität vom Begriff der Authentizität | |
bestimmt: Wenn jemand mit Migrationsgeschichte von einer Person mit | |
Migrationsgeschichte erzählt und dieser Person eine Sprache gibt, die genau | |
dem entspricht, wie Literaturkritikerinnen und Literaturkritiker, | |
Leserinnen und Leser glauben, dass „diese Menschen“ sprechen, verkürzte | |
Syntax, rotzig, derb – dann gilt diese Sprache als authentisch. | |
Authentizität als literarisches Kriterium – und dass sie ein Kriterium ist, | |
sagt genug über die Qualität dieses Diskurses – ist die Bestätigung dessen, | |
was ich immer schon gewusst habe, über Menschen, von denen ich nichts weiß | |
und nichts wissen möchte. Es ist ein Synonym für Ressentiment. | |
Es ist ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt, um Sprache und Identität zu | |
zerstören: Der Begriff der Identität wird derzeit von links wie von rechts | |
instrumentalisiert. | |
Diese Formen der Essenzialisierung, die einfache von rechts und die | |
strategische von links, sind nicht gleichzusetzen. Von links gesprochen: | |
Statt Kategorien der Diskriminierung zu wenden und als Mittel einer | |
sogenannten Selbstermächtigung zu nutzen, versuche ich mich von diesen | |
Kategorien zu lösen. Begriffe wie „People of Color“ zum Beispiel | |
suggerieren eine Solidarität, die in der Ähnlichkeit von | |
Diskriminierungserfahrungen begründet sein soll. An diese Solidarität | |
glaube ich nicht. | |
Warum nicht? | |
Ein Beispiel: Meine Freundin und ich sind vor neun Jahren von Kreuzberg in | |
den Wedding gezogen. Wir dachten, uns, uns als Ausländern würde dort nichts | |
passieren – meine Freundin ist Kurdin, Alevitin, in der Türkei geboren. Bis | |
unsere Nachbarn, Deutschtürken, wie manche sagen würden, herausgefunden | |
haben, dass sie aus der Türkei kommt und mit mir, einem Nichttürken und | |
einem nichtmuslimischen Mann zusammenlebt – sie sind davon ausgegangen, sie | |
sei Muslima. Danach wurde mehrmals vor unsere Tür uriniert, unsere Post | |
abgefangen, unser Namens- und Klingelschild immer wieder abgerissen und bei | |
Otto Tommy-Hilfiger-Klamotten bestellt – auf den Namen „Maymun | |
Varatharajah“. Maymun ist das türkische Wort für Affe. | |
Haben Sie die Debatte um „Cultural Appropriation“ verfolgt? Lionel Shriver | |
hat dagegen argumentiert: Es gehöre zum Wesen von Literatur, sich in andere | |
Subjekte hineinzuversetzen und etwa als Weiße aus Perspektive einer | |
Schwarzen zu schreiben. Das werde nun von Political Correctness infrage | |
gestellt. | |
Zu behaupten, Kunst sei ein Raum, der frei von Politischem wäre, ist etwas | |
naiv – um das Mindeste zu sagen. Jemand, der schreibt, sollte sich nicht | |
der intellektuellen Aufgabe entledigen wollen, den gegenwärtigen | |
ästhetischen und politischen Stand zu reflektieren. Das gehört zum Handwerk | |
des Schreibens. Es ist also, um bei Ihrem Beispiel zu bleiben, sicherlich | |
möglich, als Weiße aus der Perspektive einer Schwarzen zu schreiben, | |
entscheidend ist nur, wie. Ich finde die Klage, heute gäbe es so viele | |
Verbote, zumal Sprechverbote, irritierend bis amüsant. Political | |
Correctness heißt eigentlich nur: „Sei kein Arschloch.“ Höre Menschen zu, | |
nimm sie ernst, begegne ihnen mit Anstand und Respekt. | |
Kann man bei Autorinnen und Autoren wie Ihnen, Abbas Khider oder Shida | |
Bazyar von einer neuen Generation der Migrantenliteratur sprechen? | |
Im Zusammenhang mit meinem Roman höre ich diesen Begriff zum ersten Mal. | |
Das qualitativ Neue, das sich im vergangenen Jahr ereignete, ist dies: | |
Bücher über Migration wurden bis vor Kurzem vor allem von weißen | |
Schriftstellerinnen und Schriftstellern veröffentlicht, die selbst oder | |
deren Familien aus Osteuropa gekommen waren. Jetzt gibt es eine | |
signifikante Anzahl nichtweißer Autorinnen und Autoren, deren Bücher bei | |
großen Publikumsverlagen erscheinen und die zum Beispiel von | |
transkontinentalen Flucht- und Migrationsbewegungen erzählen. Dass | |
Autorinnen wie Shida Bazyar, Rasha Khayat, Sharon Dodua Otoo, Autoren wie | |
Abbas Khider, Pierre Jarawan oder ich im Literaturbetrieb sprechen, ändert | |
nicht nur das Gesicht der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, sondern – | |
durch unsere bloße physische Präsenz, durch unsere Namen – auch die | |
politische Landschaft: das literarische Selbstverständnis dieses Landes, | |
und auch das dieser Sprache. | |
In Ihrem Roman gibt es eine zentrale Stelle, wo von dem semantischen | |
Unterschied von „Papier“ und „Papieren“ die Rede ist. Der Begriff Ident… | |
ist in den Geisteswissenschaften zu einem Modebegriff geworden, nachdem die | |
Personalausweise – in Frankreich „Carte d'Identité“ – in der ersten H�… | |
des 20. Jahrhunderts eingeführt wurden. Was sagen unsere „Papiere“ heute | |
über den Identitätsbegriff? | |
Dass es keinen Raum für eine oder mehrere größere und kleinere Erzählungen | |
geben kann, keine Ambivalenzen in dem, was wir sind. Ich muss meine | |
Biografie auf einer Karte vorlegen können, die gültig oder ungültig ist. | |
Das ist mein Name. Das ist mein Geburtsdatum. Das ist mein Geburtsort. Wenn | |
ich gefragt werde, woher ich komme, sage ich: ich komme aus vielen Orten. | |
Um den Populismus von rechts einzudämmen, heißt es derzeit oft, man müsse | |
die unteren Schichten wieder erreichen. Welche Erzählung von Identität ist | |
es denn, die diese Schicht ersehnt? | |
Ich glaube nicht, dass das eine Frage der Schicht ist, diese Affinität zum | |
Populistischen. Diese Menschen aus unteren Schichten fordern mit denen aus | |
der Mittel- und Oberschicht dasselbe: einen rein deutschen Volkskörper, für | |
den ich zum Beispiel ein Fremdkörper wäre. Sie glauben, die wenigen | |
Privilegien, die sie nicht besitzen, könnten ihnen genommen werden. Das ist | |
nichts Neues, und auch keine neue Beobachtung. Es gibt allerdings genauso | |
viele Weiße, aus jeder Schicht, die diese Entwicklung mit Angst erfüllt, | |
so, wie es auch genug Nichtweiße gibt, die sich vor der Ankunft von | |
Geflüchteten fürchten. | |
Die politische Landschaft ist auch vom Erstarken der Populisten geprägt. | |
Sehen Sie derzeit neue Allianzen gegen die rechten Populisten? | |
Ich sehe vor allem: Martin Schulz. Aktuellen Umfragen zufolge verliert die | |
AfD erheblich Stimmen, und das ist auch sein Verdienst. Schulz macht für | |
mich – und für viele meiner Freundinnen und Freunde – die SPD zum ersten | |
Mal seit Langem wieder wählbar. Seit ich wählen kann, wähle ich die Grünen, | |
ohne Überzeugung, ohne Erwartung – aus Alternativlosigkeit gewissermaßen. | |
Auch Schulz werde ich ohne Überzeugung wählen, aber mit der Aussicht auf | |
Veränderung, auch wenn sie nur darin bestehen sollte, den Einzug der AfD zu | |
verhindern. Das ist ein Unterschied. Ein entscheidender. | |
9 Mar 2017 | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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