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# taz.de -- Bachmann-Preis 2014, der 2. Tag: Esoterikkitsch und rennende Kühe
> Noch bis Sonntag konkurrieren Schriftsteller in Klagenfurt um den
> diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Preis. Die Jury spart nicht mit Kritik.
Bild: Liest einen Facebook-Dialog: Senthuran Varatharajah.
KLAGENFURT taz | Es ist heißer und kaum weniger los als am vorigen Tag.
Gerangel um die Sitzplätze im Klagenfurter ORF-Theater. Eine Journalistin
drängt sich genervt durch die volle Pressereihe und prüft, ob denn auch
alle, die hier sitzen, tatsächlich zur Presse gehören. Auch die Jury
diskussionsfreudiger heute. Das hat einen Grund: Das Losverfahren sorgte
dafür, das einige experimentellere Textformen und Vorträge an der Reihe
sind. Ein Grund zur Freude für Liebhaber des Unkonventionellen? Nur
bedingt.
Den Auftakt macht um 10 Uhr Anne-Kathrin Heier, geboren 1977 in Werne.
„Ichtys" heißt ihre wirre Großstadterzählung, die voller Uneindeutigkeiten
vom Drogenentzug einer Berliner Protagonistin berichtet. Eine Bühne wird
betreten – die des Bachmannpreises? Eine Geisel wird genommen – Hörer und
Leser? Jemand sage ihr, sie solle das „ich" nicht verwenden – die Jury? Man
ist berauscht von Heiers opulenten Sprachbildern, aber auch ziemlich
ratlos. Ein Schlüsselsatz zum stilistischen Eindruck könnte lauten: „Ich
gab mich als ein nüchternes Wesen aus, das in den Straßenbelag schnäuzt und
auf Kontakte keinen Wert legt.“
Jurorin Hildegard Keller, Literaturprofessorin in Bloomington und Zürich,
zeigt sich entsetzt: „Es ist ein ziemliches Wagnis, mit einem erzählerisch
wie sprachlich so schwachen Text an diesem Wettbewerb teilzunehmen.“ Das
sitzt.
Meike Feßmann erkennt derweil zu viel „Kunstwillen“ in dem Text, es komme
zu einem „Overkill der Prätentionen“. Hubert Winkels droht die
Veranstaltung zu verlassen, wenn Jury-Kollege Arno Dusini ihm nochmal ins
Wort fallen sollte und Dusini warnt seine Kollegen davor, die Autorin
persönlich mit dem Text zu identifizieren. Man solle doch bitte von der
Erzählinstanz sprechen.
Allein Kurator Juri Steiner zeigt sich von Heiers Text begeistert, hätte
noch „stundenlang zuhören“ wollen. So höre sich eben, so Steiner, ein
Mensch des 21. Jahrhunderts an.
## „Literarischer Missbrauch“
Es folgt das extreme Gegenteil zu Heier: die sehr gemächliche und gefühlige
Erzählung von Birgit Pölzl, geboren 1959 in Graz. Eine Frau verliert ihr
Kind – es wird vom Vater überfahren – und begibt sich zur Trauerarbeit nach
Tibet. (Schlüsselsatz: „Die Stille kann sich ausbreiten, sie ist nicht auf
dem Sprung, die Stille kann in die Fersen gehen, in die Knie.“)
„Esoterikkitsch" nennt Jurorin Meike Feßmann das, und sieht in dem sachlich
unzureichend ausgeführten Kindestod einen „literarischen Missbrauch“.
Burkhard Spinnen bevorzugt es, den Text als „Stillleben“ zu betrachten.
Eine deutlich modernere Form bietet Senthuran Varatharajah, geboren 1984 in
Jaffna, Sri Lanka. „Von der Zunahme der Zeichen“ ist ein mit
philosophischen und literarischen Zitaten gespickter Facebook-Dialog. Eine
Kosovo-Albanerin und ein Tamile, beide Studenten und einst als Asylbewerber
nach Deutschland gekommen, tauschen in einer eigentlich
Facebook-untypischen Sprache ihre traumatischen Erfahrungen in Bezug auf
Herkunft, Familie und Glauben aus. (Schlüsselsatz: „die gegenstände, die
wir berühren, berühren uns an stellen zurück, an denen wir taub für sie
sind.")
Zu wenig Ehrlichkeit sei in dem Text, meint Jurorin Daniela Strigl, so
schreibe keiner auf Facebook. Außerdem scheine der Dialog vielmehr ein
Wettbewerb zweier Gezeichneter zu sein, und zwar darum, wer die schlimmere
Kindheit hatte.
Burkhard Spinnen stimmt dem zu und meine, man stumpfe ab bei all den neuen
Einwanderergeschichten, die immer nur von schrecklichen Ereignissen
berichteten. Sprachlich, so Spinnen, höre es sich so an, als habe der
männliche Protagonist sein Deutsch auf einer einsamen Insel von Hegel
gelernt.
Meike Feßmann, die Varatharajah nach Klagenfurt eingeladen hat, hört aus
Spinnens Kommentar eine kulturelle Überheblickeit heraus. Arno Dusini
dagegen, selbst Professor für Literatur, meint, er würde sich wünschen,
seine Studenten drückten sich wie Hegel aus, und lobt, dass der Text sich
nicht „vor dem hohen Turm“ fürchtet.
## Beeindruckende Performance
Noch mehr Formbedenken äußert die Jury bei der Lesung von Michael Fehrs
„Simerliberg". Der Autor, geboren 1982 in Gümlingen bei Bern, kommt aus der
Spoken-Word-Szene und trägt seinen Text dementsprechend vor. Er liest
nicht, er hört seinen in Verse gebrochenen Schweizer Berg-Krimi über einen
Kopfhörer, und wiederholt das Gehörte laut und melodisch vor dem Publikum.
Er sitzt nicht, er läuft umher und gestikuliert.
Als Performance ist es beeindruckend, aber kann der auf phonetische Reize
getrimmte Text in geschriebener Form allein überzeugen? (Schlüsselsatz:
„[...] ein wüstes/ tristes Bauernhaus mit ungestümem Dach/ ein zerklüfteter
Haufen aus grauen und schwarzen Tupfen/ unter dem ein Haufen blinder
Fenster leer in die Öde starrt [..].")
Meike Feßmann meint: Der geschriebene Text überzeugt nicht. Dusini und
Spinnen sehen das ähnlich, wenngleich ihnen der Auftritt gefiel. Auch wenn
Fehr sicher nicht zu den diesjährigen Favoriten gehört, so entzündet sich
an ihm eine interessante Jurydiskussion darüber, was Literatur ist. Mit dem
Erblühen der Spoken-Word-Szene gehe derzeit doch eine Re-Oralisierung der
Literatur vor sich. Ob man in den kommenden Jahren multimediale Werke beim
Bachmannpreis berücksichtigen sollte? Zu einer Antwort kann es in der
kurzen Zeit nicht kommen.
Bei Romana Ganzoni, geboren 1967 in Scuol, ist es dann der Vortrag, der
laut Jury den Text kaputt macht. In „Ignis Cool" bleibt eine junge Frau in
ihrem Auto auf einem Pass stehen und lässt eine abgründige
Mutter-Tochter-Beziehung Revue passieren. Am Ende versucht sie ihre
imaginäre Mutter zu töten und begeht dabei wohl – das bleibt offen –
Selbstmord. (Schlüsselsatz: „Bruna hätte sich nie und nimmer einen Wagen
leisten können als Abbrecherin von allem, was man privat und öffentlich
abbrechen kann.“)
Ganzoni habe beim Lesen jeden ihrer Sätze gefeiert, kritisiert Spinnen.
„Wie kann mal als Autorin die eigene Figur so missverstehen?" fragt er.
Außerdem sei es nicht richtig, dass Kühe nicht rennen können, wie im Text
behauptet werde. „Ich habe mir als Kind sehr viele Western angeschaut. Und
wissen Sie, was ich da gesehen habe? Kühe, die rennen und rennen und
rennen..."
4 Jul 2014
## AUTOREN
Fatma Aydemir
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