# taz.de -- Bachmannpreis 2014, der 1. Tag: Nerz-KZ und Babygeschrei | |
> Viel Tod und ein wenig Analsex: Wie gewohnt geht es beim Wettlesen um den | |
> Ingeborg-Bachmann-Preis drastisch zu. Eine erste Favoritin gibt es | |
> ebenfalls. | |
Bild: Sie überrollte Klagenfurt mit ihrer schwarzen Literatur: Gertraud Klemm | |
KLAGENFURT taz | Am Anfang steht das Ende, also das Lebensende. Tod ist das | |
Thema der ersten Lesung an diesem warmen Sommertag in Klagenfurt. Ins | |
Studio des ORF-Theaters dringt aber ohnehin kein Tageslicht und das kühle | |
Bühnenbild aus Metall, das an Aluminiumfolie erinnert, welche auf ein | |
überdimensionales Relief von Ingeborg Bachmanns Porträt gepresst worden | |
scheint, passt doch irgendwie ganz gut zum eher schweren Auftakt der | |
diesjährigen Literaturtage. | |
Roman Marchel, geboren 1974 in Graz, wurde am Dienstagabend bei der | |
Eröffnungfeier ausgelost, als erster um den Bachmannpreis zu lesen. In „Die | |
fröhlichen Pferde von Chauvet“ ist eine alte Frau, Hermine, überfordert von | |
der eigenen Altersschwäche und der Krebserkrankung ihres Mannes. In | |
telefonischer Korrespondenz mit ihrer Tochter Cora, die Ärztin ist, | |
versucht sie ihn zu pflegen, beschließt aber aus Mitgefühl den schreienden | |
Ehemann mit einem Kopfpolster zu erlösen. Ein Schlüsselsatz zum | |
stilistischen Eindruck könnte lauten: „Der Himmel hat die Farbe von Dingen, | |
die früher einmal eine Farbe hatten.“ | |
Die Juroren, vor allem Hubert Winkels, Literaturkritiker der Zeit, erinnert | |
Marchels Text zu sehr an Michael Hanekes Film „Liebe“. Winkels erkennt | |
darüber hinaus zu viele Marker, die den Leser zur Empathie zwängen, zu | |
viele „aufdringliche Mittel“, die die Erzählung „zu gemacht, zu gewollt�… | |
erscheinen ließen. | |
Die Wiener Literaturkritikerin Daniela Strigl spricht indessen vom | |
Gegenteil, der Text sei von einem „Understatement“ geprägt, der viele | |
schöne Sätze hervorbringe. Eine interessante Erkenntnis kam vom Schweizer | |
Kurator und Kulturvermittler Juri Steiner: Marchels Frauenfiguren leisten | |
etwas, während die Männerfiguren alle tot, peinlich, abwesend oder am | |
Sterben sind. | |
## Vergast für den Export | |
In der Lesung von Katrin Preiwuß' unbetitelten Text sterben nicht nur | |
Menschen, sondern auch Tiere. Preiwuß (geboren 1980 in Lübz), die das | |
Leipziger Literaturinstitut absolviert hat, findet eine sehr klare Sprache | |
für die Grausamkeiten, von denen sie erzählt. Eine Protagonistin erinnert | |
sich an ihre Kindheit auf dem Land in der DDR und vor allem an ihren Vater | |
– ein traumatisierter NS-Mann, zu dessen Beruf es wurde, Nerze unter | |
anderem durch Vergasung zu töten, um die Felle ins Ausland zu exportieren. | |
Unheimlich schwere Metaphorik ist das, die bei der Jury nicht sonderlich | |
gut wegkommt. (Schlüsselsatz: „..[Er] zieht sie auseinander, schiebt ihnen | |
einen Pol in den After, drückt den Beißring in die Schnauze und hält sie | |
fest, bis der Stromstoß sie durchfährt, und sofort strecken sie sich und | |
sind nach etwa einer Minute tot.“) | |
Während Daniela Strigl vieles zu überfrachtet und unplausibel findet, | |
beschreibt Literaturwissenschaftler Arno Dusini die Verschiebung des | |
Traumas auf das „Nerz-KZ“ als problematisch. Meike Feßmann, freie | |
Literaturkritkerin aus Berlin (SZ, Tagesspiegel), die Preiwuß nach | |
Klagenfurt eingeladen hat, sieht dagegen in dem Text einen gelungenen | |
Versuch, die moderne Forschung der Epigenetik zu verarbeiten. Epigenetik | |
beschäftigt sich mit der Vererbung von Traumata an die nachfolgenden | |
Generationen. Außerdem, so Feßmann, gehe der Text über die | |
Vater-Problematik weit hinaus, und gehe als poetologischer Text der Frage | |
nach, wie transparent man Dinge darstellen könne. | |
## Kafkaeske Behördenprosa | |
Tobias Sommer, geboren 1978 in Bad Segeberg, ist als Nächster an der Reihe | |
und widmet sich einem anderen großen Mysterium der Menschheit: der | |
Steuerbehördensprache. In der recht kafkaesken Erzählung wartet ein | |
Schriftsteller allein im Büro eines Steuerprüfers, wo er hinbestellt wurde, | |
nimmt auf dem Stuhl des Prüfers Platz, und reflektiert über die Begriffe | |
und Dokumente in seiner Akte und deren Sinnhaftigkeit. (Schlüsselsatz: „Ich | |
verstehe und ärgere mich über das Wort 'Lebenskünstler', das sich aus dem | |
Mund einer Steuerprüferin wie Taugenichts oder Sozialschmarotzer anhört, | |
wobei in dieser Bezeichnung, genau betrachtet, mehr Wahrheit als | |
Beleidigung steckt [..].“) | |
Dass Sommer selbst als Steuerprüfer angestellt ist, merkt man dem Text kaum | |
an. Genau das bemängelt Jurorin Meike Feßmann auch, die sich mehr | |
Sachkompetenz gewünscht hätte, die den Text über die Amtspantomime hinaus | |
hätte befördern können. | |
Und dann folgen nacheinander der Höhe- und der Tiefpunkt des ersten | |
Lesetags. Gertraud Klemm, geboren 1971 in Wien, überrollt Klagenfurt mit | |
ihrem „Ujjgayi“. Eine vom Mutter- und Ehefrauendasein frustrierte Frau | |
flüchtet sich in Yoga und Atemtechnik, um ihren unaufhörlichen | |
Wutausbrüchen, den Kindesmord-Fantasien und einem reproduktionswahnsinnigen | |
Partner für wenige Momente zu entfliehen, beziehungsweise diese | |
auszublenden. | |
## Seitenlange Sätze, wuchtig vorgetragen | |
Es ist eine traurige Geschichte, die mit vielen witzigen Momenten, | |
detaillierten Schilderungen von Körperflüssigkeiten und ihren seitenlangen, | |
wuchtig von Klemm vorgetragenen Sätzen Hörer wie Leser atemlos lässt. | |
(Schlüsselsatz: „[..] Man muss als Mutter schon sterben oder langfristig | |
verschwinden, damit so ein Mann wahrhaftig an die Stelle einer Mutter | |
tritt, mit hängenden Schultern und viel Empathie aus dem Publikum.“) | |
Jurorin Daniela Strigl bezeichnet Klemms Text begeistert als „ein Stück | |
schwarzer Literatur“ und findet, dass selbst die unspektakulären Stellen | |
präzise ausgearbeitet sind. Juri Steiner zeigt sich so beeindruckt, dass er | |
angibt, beschlossen zu haben, kein weiteres Kind mehr zu zeugen. Die | |
Bemerkung des Schriftstellers und ebenfalls Jurors Burkhard Spinnen, die | |
Protagonstin sei zu sensibel, weil sie auf ein ganz selbstverständliches | |
Babyschreien nicht klarkommt, lässt Meike Feßmann nicht gelten. Das | |
Emanzipationsproblem der modernen Mutter könne man nicht als Lapalie abtun, | |
so Feßmann. Es sei doch ein Fakt, dass sich intellektuelle Arbeit und | |
Kindererziehung nicht sonderlich gut vertragen. | |
Als Letzte liest Olga Flor, geboren 1968 in Graz. In ihrem Romanauszug | |
„Unter Platanen“ reist eine glücklich verheiratete Forschungsbeauftragte | |
und Mutter zweier Kinder auf einen Kongress nach Lissabon. Sie trifft dort | |
ihren Ex-Geliebten. Er ist Franzose und hatte ihr das Herz gebrochen. Sie | |
ringt mit sich, sich nicht schon wieder auf ihn einzulassen. | |
## Analverkehr im Bunker | |
Soll ich? Ich darf nicht! Sie lässt sich nur küssen. Und denkt zurück an | |
die schöne Zeit, als sie mit ihm in einem alten Bunker an der Rue de Cretes | |
– die nach der Eroberung von Elsass durch das Deutsche Reich die | |
deutsch-französische Grenze eine Zeit lang markierte – Analverkehr hatte. | |
(Schlüsselsatz: „Ihr Körper, ihr Verstand waren sich einig darin, dass sie | |
wollten, mehr jedenfalls, ohne Rücksicht auf Verluste, ohne Kontrolle, ohne | |
Innehalten, denn der Hunger bleibt ungestillt.“) | |
Überraschend wohlwollend druckst die Jury ein bisschen herum, Flor gehe ja | |
spielerisch mit den Klischees um und so weiter, bis Arno Dusini es endlich | |
ausspricht: „Ein österreichisch-französischer Arschfick als pazifistische | |
Großtat? What's that?“ | |
3 Jul 2014 | |
## AUTOREN | |
Fatma Aydemir | |
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