# taz.de -- Neuer Roman „Tierchen unlimited“: Die Pfalz ist cooler | |
> Migrantenliteratur? Punk! Tijan Silas Debüt macht beim Lesen richtig Spaß | |
> – genauso wie ein Spaziergang mit ihm durch Kaiserslautern. | |
Bild: Berlin mag arm und sexy sein. Aber Lautern ist arm und cooler | |
KAISERSLAUTERN taz | Was scheint von Berlin aus gesehen exotischer als der | |
Balkan? Klar, Kaiserslautern. Es dürfte in Deutschland viele Leute geben, | |
die mehr Kriegsschauplätze in Bosnien aufzählen können als Fakten über den | |
100.000-Einwohner-Ort im Süden von Rheinland-Pfalz. Zu wissen, dass der FCK | |
mal erstklassig war, ist schon viel. „Höchste Puffdichte, höchste | |
Kriminalitätsrate und drittärmste Stadt Deutschlands“, listet Tijan Sila | |
die Fakten der Stadt auf, von der die Lauterer Punkband Walter Elf einst | |
sang, sie sei ein „Bauernkaff im Pfälzerwald“. | |
Tijan Sila lebt in Kaiserlautern. Er arbeitet als Berufsschullehrer für | |
Deutsch, hat eine Dauerkarte für den FCK und gerade seinen ersten Roman in | |
einem der wichtigsten deutschen Verlage veröffentlicht, „Tierchen | |
unlimited“. Darin heißt es: „Die Pfalz ist cooler.“ Cooler als was, Tijan | |
Sila? „Cooler als Heidelberg. In der Pfalz gibt es Punks“, antwortet er | |
prompt. | |
In seinen engen Jeans an den dünnen Beinen, den grünen Sneakers und der | |
knappen Jeansjacke erinnert der 36-Jährige aber weniger an die Walter Elf | |
als an die frühen Tocotronic. | |
Kommt die Fernreisende am Kaiserslauterner Hauptbahnhof an, ist wenig Punk, | |
aber viel deutsche Bahnhofsvorplatzatmosphäre zu sehen. Der erste Anblick: | |
ein großes Backsteingebäude. Seit 2015 dient das alte Postamt als | |
Flüchtlingsunterkunft für Hunderte, vor allem syrische Flüchtlinge. Nur die | |
provisorischen Gardinen aus verschiedenen Materialien geben Hinweise | |
darauf, dass hier keine deutschen Beamten mehr die Post sortieren. | |
## Mit blutiger Nase und zerquetschten Eiern auf dem Rennrad | |
Auch Tijan Sila kam als Flüchtling in die Gegend. Das war 1994. Er war 13. | |
Während des Kriegs war er mit seiner Familie aus Sarajevo nach Mannheim | |
geflohen. Später studierte er in Heidelberg Germanistik und Anglistik und | |
war Gitarrist der Landauer Punkband Atlas Lanze. | |
Silas Roman beginnt damit, dass ein Typ mit blutiger Nase und zerquetschten | |
Eiern auf einem Rennrad durch die Pfalz rast, auf der Flucht vor einer | |
prügelnden Nazibande. Der junge Mann ist Bosnier und fragt sich nach der | |
Hetzjagd, die sehr witzig beschrieben ist, ob er nicht auch hätte in | |
Bosnien bleiben können, wenn das hier so zugeht. Er ist eine ulkige, nicht | |
leicht zu durchschauende Figur, ein Mann, der Schutz sucht bei Frauen, die | |
stärker sind als er. Zum Beispiel bei Sarah, mit der er Ringen trainiert | |
und die ihn dabei regelmäßig flachlegt. | |
Der Roman ist ein Verwirrspiel, das Motive und Muster wiederholt. So | |
scheint jede deutsche Figur einen Neonazi-Bruder zu besitzen, der nach | |
Bosnien in den Krieg gezogen ist. | |
## Ein Mann mit Kettensäge | |
Das Buch ist ein bisschen wie Sila selbst. Es reißt einen mit in rasante | |
Passagen, die plötzlich irgendwo anders hin drehen, zu Slapstick werden | |
oder zu extrem dunklen Momenten in Straßen und Hinterhöfen Sarajevos | |
während der Belagerung führen. „Ich hab mir die Frage gestellt, was gewesen | |
wäre, wenn ich als amoralisches Tierchen hier gelandet wäre, wenn ich | |
aufgehört hätte, mich zu entwickeln. Im Überlebensmodus stehengeblieben | |
wäre.“ | |
Auf dem Weg in die Innenstadt zeigt Sila auf eine kleine Bar. „Zack Zack“ | |
steht da in geschwungenen Leuchtbuchstaben. „Die berühmteste Kneipe der | |
Stadt. Für meine Schüler ist es eine Mutprobe, hier reinzugehen. Einmal hat | |
ein Mann mit einer Kettensäge den Laden gestürmt, weil der Liebhaber seiner | |
Frau darin gestanden haben soll.“ | |
Wer mit Tijan Sila in Kaiserlautern unterwegs ist, hat nach wenigen Minuten | |
den Stoff für einen Regio-Krimi beisammen. Und nach ebenso kurzer Zeit ist | |
klar, dass Sila ein Mensch ist, mit dem man sofort ins Gespräch kommt, das | |
auch nach Stunden nicht langweilig oder peinlich wird. | |
Höchstens zwei, drei Sätze lang hält er es aus, nüchterne Aussagesätze zu | |
formulieren, dann bricht er Auskünfte über Stadt, Privatleben, | |
Lieblingsrennräder, Proust oder Franzen in einer unerwarteten Wendung ab. | |
Ein Spruch, ein Lachen, eine beiläufige Spitze. Und zack, zack geht’s zur | |
nächsten Station, zur nächsten Geschichte. | |
## Seine ersten Geschichten sind „voll der Kack“ | |
Wir stehen vor seiner Berufsschule, ein elegant schlichter | |
BRD-Nachkriegsbau. Seinen Schülern hat Sila gestanden, dass er einen Roman | |
unter Pseudonym geschrieben hat. „Sila klingt nach Zola. Das ist eine | |
bessere Assoziation als ein Name, der auf -ic endet und mit Balkanfolklore | |
assoziiert wird.“ Mit seinem bürgerlichem Namen hat er bisher nur über | |
Videospiele geschrieben. Und in Punkfanzines. | |
Silas Eltern sind Akademiker. Sie haben ihn dazu angetrieben, schnell und | |
perfekt Deutsch zu lernen. Er müsse der Beste werden. Sonst würde er es als | |
Flüchtlingskind hier nicht schaffen. „Wenn ich alberne Wörter wie | |
Bewusstsein oder Treppenstufe konnte, war ich super stolz“, erzählt er. | |
Er beginnt Science-Fiction zu schreiben, „voll der Kack“, und später eine | |
Erzählung über seine Kindheit und die Kriminellen von Sarajevo. Sie | |
verteidigten zu Beginn des Kriegs die Stadt mit illegal beschafften Waffen. | |
2006, kurz vor seinem Staatsexamen, Sila ist 25, fehlt nur noch der Prolog | |
für seinen Sarajevo-Roman. Da spaziert er durch Heidelberg und sieht in | |
einer Buchhandlung Saša Stanišićs Roman „Wie der Soldat das Grammofon | |
repariert“ liegen. Sila geht nach Hause, legt sein Manuskript in die | |
Schublade und beginnt mit einer anderen Geschichte. „Ich wollte nicht als | |
hinterher laufender Bosnier gelten, der auf den Zug aufspringt.“ Vor allen, | |
auch vor seiner Frau, verheimlicht er, dass er nun an „Tierchen unlimited“ | |
schreibt. | |
## Er las Bücher, sie nicht | |
Mit diesem Roman hat Sila Wege abseits der ausgelatschten Routen des Genres | |
Deutsche Literatur mit Migrationshintergrund ausprobiert. Er betont, dass | |
er kein Schicksal mit Identitätsproblemen – Mann steht rauchend am Fenster | |
und sinniert über sein Leben – und keine Figur mit eindeutig | |
sozialpolitischer Botschaft konstruieren wollte. Auch die Sprache, die | |
man von Ausländern in Comedy-Shows kennt, ist kein Stilmittel, das er | |
benutzt. Silas Roman ist ein Versuch, dem Label Migrantenliteratur zu | |
entwischen. | |
Mit den bosnischen Jungs in Mannheim, den Gastarbeiterkindern, hatte der | |
Pubertierende wenig Berührungspunkte. Sila las Bücher. Sie nicht. Verstehen | |
konnte er sie auch nicht. Die meisten sprachen bosnischen Dialekt aus den | |
Provinzen ihrer Eltern. | |
Šemso, eine Figur aus „Tierchen unlimited“, könnte an einen dieser Jungs | |
angelehnt sein. Šemso ist ein bosnischer Neonazi, der den Ich-Erzähler in | |
einem Supermarkt in Hassloch aufgabelt und ihn mit zum Boxen nimmt. | |
Šemso zwingt den Ich-Erzähler einmal dazu, eine Horde Nazis in einem | |
gestohlenen Mercedes zu einem Überfall auf den linken Fußballverein Roter | |
Stern Zweibrücken zu fahren. Die Geschichte ist einer der größten Momente | |
des Romans. Warum? Weil es unklar bleibt, wer hier gut, wer hier böse ist, | |
wer, warum, was tut und wer sich behauptet oder verliert. | |
## Größere Städte haben ihn nie gereizt | |
Sila erzählt, er sei sicherheitsfanatisch. Das habe mit der Kriegserfahrung | |
zu tun. „Ich hab immer Angst, alles zu verlieren. Obwohl es sehr schwer | |
ist, als Beamter seinen Job zu verlieren, hab ich davor Angst.“ In eine | |
größere Stadt zu ziehen, habe ihn nie gereizt. Aus Angst vor | |
Unkalkulierbarem? „Nein. Ich mag Kotzreiz, die Punkband aus Berlin. Aber | |
deswegen muss ich nicht da leben.“ | |
Sila ist ein ungewöhnlicher Autor. Aber ein deutscher Beamter ist er auch. | |
„Mein Vater behauptet, ich hätte den Humor verlernt, weil ich nicht über | |
seine bosnischen Witze lache“, sagt Sila. Skeptisch ist er, ob ihn auch die | |
Deutschen als Deutschen sehen. Einmal Einwanderer, immer Einwanderer, das | |
sei „eine Ohrfeige, die man hinnehmen muss“. | |
Silas Vater hat Unrecht. Falls Sie das lesen, Herr Sila: Ihr Sohn ist sehr | |
lustig. Sein Buch auch. | |
25 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
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