# taz.de -- Arte-Doku über Bosnien und Kosovo: Scheitern in Exjugoslawien | |
> Die Dokumentation „Bosnien und Kosovo – Europas vergessene Protektorate“ | |
> zeigt das Dilemma einer der ärmsten Regionen Europas. | |
Bild: Männer beim Schachspiel in Sarajevo | |
Nazif Mujić sitzt vor seinem unverputzten Haus und hält seinen Silbernen | |
Berlinale-Bären in die Kamera. 2013 hat er ihn bekommen, als bester | |
Schauspieler in „Aus dem Leben eines Schrottsammlers“. Der Preis ist fast | |
ironisch, denn im Film spielt er sich selbst: einen armen bosnischen Rom. | |
Im realen Leben wurde sein Asylantrag von Deutschland abgelehnt. [1][In | |
Bosnien musste er den Bären verkaufen]. | |
Mujić ist einer von vielen, deren Hoffnung nach den jugoslawischen Kriegen | |
enttäuscht wurde. Bosnien-Herzegowina ist eine der ärmsten Regionen | |
Europas, obgleich die EU Milliarden zahlt. Ein Paradox, dem der | |
Filmemacher Zoran Solomun und der Journalist (und taz-Kollege) Rüdiger | |
Rossig in ihrer Doku „Bosnien und Kosovo – Europas vergessene Protektorate�… | |
nachgehen. Ein Jahr haben sie daran gearbeitet, sind durch Dörfer gereist | |
und haben Bewohner, Aktivistinnen und Experten interviewt, aber auch | |
Vertreter der internationalen Gemeinschaft, die Rechtsstaatlichkeit und | |
Demokratie aufbauen sollen. | |
In Bosnien ist seit dem Abkommen von Dayton 1995 im Zusammenspiel von | |
Regionalpolitik und internationaler Gemeinschaft ein monströser | |
Staatsapparat entstanden: zwei Entitäten mit 150 Ministern für 3,5 | |
Millionen Einwohner. 70 Milliarden Dollar Direkthilfe sind in den ersten | |
sechs Jahren geflossen – laut dem Ökonom Žarko Papić „die größte | |
Pro-Kopf-Hilfe in der Geschichte der EU“. | |
Gleichzeitig liegt die Infrastruktur brach, Zehntausende wandern aus, die | |
Wirtschaft ist nach der verordneten Privatisierung am Boden. Der Film zeigt | |
das ruinierte Stahlwerk in Zenica, die Waschmittelfabrik Dita in Tuzla und | |
das Dorf Visoko, wo Dutzende für kostenloses Essen anstehen. Wohin | |
verschwinden die Hilfsgelder? Belmin Debelac von der Organisation „Junge | |
Freiwillige“ beschreibt die Stationen: Europäische Kommission, EU-Fonds, | |
Entwicklungsprogramm der UN, lokale Verwaltung. Alle berechnen etwa 20 | |
Prozent Verwaltungsgebühren. „Bei den Bedürftigen kommen 10 bis 15 Prozent | |
der Finanzhilfen an“, sagt Debelac. Über diese Strukturen wacht der Hohe | |
Repräsentant der internationalen Gemeinschaft, Valentin Inzko. „Sie haben | |
das Gelobte Land erwartet, das ist nicht eingetreten“, resümiert der | |
österreichische Diplomat ohne Lächeln. Die Enttäuschung über den Stillstand | |
ist ganz oben angekommen. | |
Die Filmemacher bereisten auch Kosovo, das letzte Land Exjugoslawiens, das | |
2008 unabhängig wurde. Die Rechtsstaatlichkeitsmission der EU, Eulex, ist | |
dort jüngst bis 2018 verlängert worden. Mit anfangs 3.000 Beamten ist das | |
die größte Mission der EU, bis 2015 hat sie rund 3,5 Milliarden Euro in die | |
Verwaltung gesteckt. Trotzdem lebt ein Drittel der Kosovaren in absoluter | |
Armut. In Dörfern wie Dumosh war jeder schon in Deutschland. Aber seit 2015 | |
Zehntausende vor Armut und Korruption flohen, gilt Kosovo nun als „sicher“. | |
Die Bilder sind niederschmetternd, und es täte der Dokumentation gut, diese | |
für sich sprechen zu lassen, statt weitere journalistische Nebenerzählungen | |
einzufädeln: zerrüttete Infrastruktur, brach liegende Industrie, Roma, die | |
giftigen Müll und Schrott sammeln. Noch deprimierender ist der Blick hinter | |
die Kulissen: Bosnien und Kosovo sind durch eine monopolisierte und | |
ethnisch segregierte Politik geteilt, staatliche Strukturen von Korruption | |
zerfressen. Die Abgeklärtheit der EU-Beamten macht ihr Scheitern deutlich. | |
Darüber aber spricht niemand gern. Schließlich liegen Bosnien und Kosovo | |
mitten in Europa. „Die Probleme sind vor unserer Tür“, sagt Zoran Solomun. | |
21 Feb 2017 | |
## LINKS | |
[1] /Portrait-Nazif-Mujic/!5365789 | |
## AUTOREN | |
Sonja Vogel | |
## TAGS | |
Kosovo | |
Arte | |
Bosnien und Herzegowina | |
Bosnien-Herzegowina | |
Bosnien | |
Kosovo | |
Balkan | |
Balkan | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Schwerpunkt USA unter Donald Trump | |
Wladimir Putin | |
Bosnien und Herzegowina | |
Ratko Mladić | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Armut trotz Ruhm auf der Berlinale: Ein Silberner Bär macht nicht reich | |
Nazif Mujić, bosnischer Berlinale-Preisträger des Jahres 2013, ist | |
gestorben – an der Armut, von der der Film handelt, der ihn berühmt gemacht | |
hat. | |
Vor der Parlamentswahl im Kosovo: Gefahr für die alte Garde der UÇK | |
Die Jungen sind genervt von den Krieghelden, die mit Klientelismus und | |
Korruption den Kosovo beherrschen. Ihr Hoffnungsträger heisst Albin Kurti. | |
Debatte Nationalisten auf dem Balkan: Kriegsverbrecher als Helden | |
In Exjugoslawien versuchen nationalistische Kräfte, die Vergangenheit für | |
ihre Zwecke instrumentalisieren. Das verhindert eine demokratische Zukunft. | |
Kommentar EU und Balkankrise: Zu lange weggeschaut | |
Die EU und die Kanzlerin haben begriffen: An der Südostflanke Europas | |
brauen sich gefährliche Entwicklungen zusammen. | |
Neuer Roman „Tierchen unlimited“: Die Pfalz ist cooler | |
Migrantenliteratur? Punk! Tijan Silas Debüt macht beim Lesen richtig Spaß – | |
genauso wie ein Spaziergang mit ihm durch Kaiserslautern. | |
Debatte Trumps Russlandpolitik: Die Bros und der Balkan | |
Trumps mögliche Deals mit Russland könnten die fragile | |
Sicherheitsarchitektur des Balkan treffen. Und Europa ist darauf nicht | |
vorbereitet. | |
USA und Bosnien-Herzegowina: Hoffnung auf Rückendeckung | |
Der Präsident der serbischen Teilrepublik, Milorad Dodik, setzt bei seinen | |
Plänen, sich vom Gesamtstaat abzuspalten, auf Trump. | |
Portrait Nazif Mujić: Bosnischer Bärenverkäufer | |
Für seine Rolle in „Aus dem Leben eines Schrottsammlers“ gewann er einen | |
Silbernen Bären. Besser wurde sein Leben dadurch nicht. | |
Staatschef über bosnischen Frieden: „Ich hoffe auf künftige Generationen“ | |
Trotz vieler Probleme ist Bosnien und Herzegowina beispielhaft für gute | |
Konfliktlösung, glaubt Mladen Ivanić, serbischer Vertreter im | |
Staatspräsidium. | |
Kriegsverbrechen in Ex-Jugoslawien: Die Schuld des General Mladić | |
Der Prozess gegen Ratko Mladić steht vor dem Ende. Die Anklage hält ihn | |
verantwortlich für Vergewaltigungen, Vertreibung und Völkermord. |