# taz.de -- Debatte Nationalisten auf dem Balkan: Kriegsverbrecher als Helden | |
> In Exjugoslawien versuchen nationalistische Kräfte, die Vergangenheit für | |
> ihre Zwecke instrumentalisieren. Das verhindert eine demokratische | |
> Zukunft. | |
Bild: Im Krieg rannten die Menschen in Sarajevo um ihr Leben – ob der gesamte… | |
Nach dem Krieg sollte alles anders werden. Der Schock der gewaltsamen | |
Auseinandersetzungen der 90er Jahre schuf in den Gesellschaften des | |
ehemaligen Jugoslawien kurzzeitig eine Öffnung für ernsthafte Diskussionen | |
über die Vergangenheit. Vor allem kritische Intellektuelle, die schon | |
während der Zeit des sozialistischen Systems rechtsstaatliche Verhältnisse | |
gefordert hatten, gewannen im Gegensatz zu den nationalistischen | |
Positionen für kurze Zeit an Autorität. | |
Anfang des Jahrtausends war eine Aufbruchstimmung bemerkbar, die noch | |
beflügelt wurde, als die EU 2003 beschloss, den Ländern des Balkans eine | |
ernsthafte Beitrittsperspektive zu bieten. Sie wollte die Entwicklung hin | |
zu rechtsstaatlichen Verhältnissen mit wirtschaftlichen Hilfeleistungen | |
verknüpfen, also die Transition der Nachfolgestaaten vom sozialistischen | |
System in eine demokratische Marktwirtschaft erleichtern. | |
Man bemühte sich auch vonseiten des Westens, zivilgesellschaftliche | |
Organisationen zu stärken. Doch dann kam der Rückschlag. Mit der Ermordung | |
Zoran Đinđić’ 2003, mit dem Scheitern der Reformkräfte in [1][Bosnien und | |
Herzegowina], mit dem Namensstreit zwischen Griechenland und Mazedonien, | |
mit der Machtübernahme der [2][UÇK] in Kosovo und dem Erstarken der | |
nationalistischen Kräfte in Kroatien schwang das Pendel zurück. | |
## Staatliche Geschichtsklitterung | |
Der EU-Beitritt [3][Kroatiens] war keine Garantie dafür, die | |
nationalistischen Ideologien in die Schranken zu weisen. Schon Jahre vor | |
der Entwicklung in Ungarn und Polen gelang es den nationalistischen Kräften | |
in Serbien, in den drei Volksgruppen in Bosnien und Herzegowina und in | |
Mazedonien sowie in den anderen Staaten demokratische und | |
menschenrechtliche Errungenschaften auszuhöhlen und autoritäre Denkmuster | |
und Ideologien durchzusetzen. Den herrschenden Eliten kommt entgegen, dass | |
weite Teile der Bevölkerung verarmt sind und mit dem oder sogar unterhalb | |
des Existenzminimums leben müssen. | |
Obwohl diese Eliten Verantwortung an der wirtschaftlichen Misere tragen, | |
ist es ihnen durch die Kontrolle der Medien und der Eingrenzung | |
oppositioneller Bewegungen gelungen, davon abzulenken. Anknüpfend an | |
konservativ-religiöse Wertvorstellungen und Feindbilder nach innen – wie | |
gegen laizistische Intellektuelle und Künstler sowie (sexuelle) | |
Minderheiten – wird erfolgreich versucht, die Mehrheit der Bevölkerungen | |
hinter sich zu bringen. Propaganda und „Fake News“ sind in diesem Raum | |
traditionelle Instrumente dafür. | |
Die jetzt systematisch betriebene und von den staatlichen Medien, Schulen | |
und Universitäten verbreitete Geschichtsklitterung versucht darüber hinaus, | |
die Bevölkerungen von der Legitimität der nationalistischen Eliten zu | |
überzeugen. Der kroatische Philosoph und Politikwissenschaftler Žarko | |
Puhovski weist seit Jahren auf die ideologische Instrumentalisierung der | |
Geschichte durch von nationalen Mythologien geprägte öffentliche | |
Geschichtsdiskussion im Raum des ehemaligen Jugoslawien hin. | |
In der kroatischen Öffentlichkeit werde zum Beispiel die Aufarbeitung des | |
Zweiten Weltkrieges verkürzt auf die Massaker der kommunistischen | |
Partisanen an Mitgliedern der kroatischen Heimwehr und Anhängern des | |
Ustascha-Staates 1945. Die Verantwortung und die Verbrechen der | |
Ustascha-Diktatur werden dagegen von konservativ-nationalistischer und | |
katholischer Seite heruntergespielt. | |
## Rehabilitierte Tschetniks | |
Die öffentliche Diskussion über die Verbrechen des Ustascha-Staates und | |
dessen Konzentrationslager wie dem in Jasenovac, in dem allein über 80.000 | |
Serben, Juden, Roma und Oppositionelle getötet wurden, bleibt dagegen im | |
Zentrum der serbischen Diskussion über diese blutige Vergangenheit. Die | |
propagandistische Instrumentalisierung der Erinnerung an die Verfolgung der | |
Serben in Kroatien und Westbosnien – mit insgesamt weit übertriebenen | |
Opferzahlen – trug sogar wesentlich zur Radikalisierung der serbischen | |
Bevölkerung im Vorfeld der Kriege der 90er Jahre bei. | |
Für die serbische Historikerin Dubravka Stojanović wird in Serbien an einer | |
Geschichtslegende gearbeitet, in der die Verbrechen des serbischen, mit den | |
deutschen Nationalsozialisten kollaborierenden Nedić-Regimes | |
heruntergespielt, die Verbrechen der königstreuen Tschetniks und ihre | |
Kollaboration mit der deutschen Besatzungsmacht im heutigen Serbien | |
relativiert und für die Tschetniks das Bild einer nationalen | |
antifaschistischen Bewegung gezeichnet werden. | |
In Serbien hat man den 1946 von den Partisanen hingerichteten | |
Tschetnik-Führer Draža Mihailović schon rehabilitiert. Nach bekannten | |
Anhängern des Ustascha-Regimes im Zweiten Weltkrieg werden in Kroatien | |
Straßen benannt. Die Rolle der multinationalen Partisanen und das | |
sozialistische Tito-Regime insgesamt werden in beiden Staaten als Hemmnis | |
für die „nationale Befreiung“ angesehen. | |
Da verwundert es nicht, wenn heute in Serbien und bei bosnischen Serben | |
Kriegsverbrecher der 90er Jahre wie Helden verehrt werden. Auch in den | |
anderen Nationen finden ähnliche Entwicklungen statt. Eine übergreifende | |
Diskussion zwischen den Gesellschaften der Nachfolgestaaten des ehemaligen | |
Jugoslawien existiert nur noch in Zirkeln der Zivilgesellschaft. Die unter | |
Tito aufgewachsene Generation von kritischen und produktiven | |
Intellektuellen stirbt langsam aus, die Mehrheit der schon in den | |
Nachfolgestaaten aufgewachsenen Generation will sich gar nicht mehr mit dem | |
Gesamtkontext auseinandersetzen. | |
## Demokratische Zukunft nur im Bewusstsein der Geschichte | |
Es ist den nationalen Eliten gelungen, Gruppen aus der Zivilgesellschaft zu | |
isolieren, sie als vom Ausland gesteuert oder als Vaterlandsverräter | |
darzustellen. Lange vor denen in Ungarn schon haben die Eliten in | |
Exjugoslawien versucht, die Tätigkeit der Stiftung des Milliardärs George | |
Soros zu behindern, die viele zivilgesellschaftliche Initiativen | |
mitfinanziert hat. Immerhin sind einige unabhängige und sich selbst | |
tragende Projekte entstanden, die vor allem über das Internet unabhängige | |
Informationen und Diskussionen liefern. | |
Für den Politologen Puhovski ist klar: Eine demokratische Zukunft können | |
die Staaten des Balkans nur haben, wenn sie ihre wirkliche Geschichte | |
kennen und akzeptieren. Davon sind sie aber weit entfernt. | |
4 May 2017 | |
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## AUTOREN | |
Erich Rathfelder | |
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