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# taz.de -- Wahrsagertradition in Serbien: Jeva und der Fluch
> In Serbien leben rund 40.000 Walachen. Sie pflegen die Tradition der
> Wahrsagerei. Unsere Autoren haben dort gelernt: Sie sind verflucht.
Bild: Milica Kušlić lebt in einer schiefen Hütte. Ihrem verstorbenen Sohn ha…
Die Frau, die uns beschwören soll, lässt nicht mit sich verhandeln. 7 Uhr
in der Früh könnten wir zu ihr kommen – oder gar nicht. Sie lebt in einem
heruntergekommenen Dorf, ein Spielplatz, eine Schule und ein angesoffener
rumänischer Saisonarbeiter der vor dem Supermarkt sitzt, so stellt sich uns
der Ort Ranovac vor – Jevas Haus jedoch ist schick, mit vielen Blumen im
Garten.
Jeva, 80 Jahre alt, ist energisch, sie flucht viel, hat lila gefärbte
Haare. Barsch kommandiert sie, wo und wie wir uns hinsetzen sollen. Dann
bindet sie sich ein Kopftuch um, zündet zwei Kerzen an und stellt sich
unter eine Muttergottes-Ikone. „Welches Leid führt euch zu mir?“, fragt
sie. „Mir geht es nicht gut“, sage ich. Möglicherweise hat mich jemand
verwünscht, füge ich an.
Unbedingt Knoblauch und einen roten Faden einstecken, das schützt vor
schwarzer Magie – so hatten es uns gebildete Serben geraten, als sie
hörten, dass wir zu den Walachen reisen. Etwa 40.000 von ihnen leben in
Serbien, noch viel mehr in den angrenzenden Ländern. Oft bezeichnet man sie
als das älteste Volk auf dem Balkan.
Doch für die Serben sind sie vor allem diejenigen, die mit ihren Toten
leben. Die an Magie und Beschwörung glauben, serbisch-orthodox sind, aber
auch noch Heiden. Walachen sprechen Rumänisch, sind jedoch keine Rumänen.
Sie leben in Serbien, sind jedoch keine Serben. Kurzum – Serben wissen sehr
wenig über Walachen.
Seitdem serbische Boulevardmedien das Gerücht verbreitet haben, dass ein
serbischer Amokläufer vor seiner Bluttat angeblich eine walachische
Wahrsagerin aufgesucht haben soll, sind Walachen Journalisten gegenüber
verschlossen. Als Journalisten hätten wir daher keine Chance, die
Wahrsagerinnen zu treffen. Deshalb kommen wir als Hilfesuchende. Ich, der
Agnostiker, meine Kollegin mit den Bräuchen schon eher vertraut.
## Nur ein Geschäftsmodell?
Jeva versucht zunächst, etwas über uns zu erfahren. Ob ich verheiratet bin,
Kinder habe. Und wer die junge Frau an meiner Seite ist? Wie eine
geschickte Taschendiebin entlockt sie uns Informationen, die wir ihr gar
nicht geben wollten.
Sie holt ein zerschlissenes weißes Buch, auf dem ein goldenes Kreuz prangt.
Es ist mit einem roten Faden umwickelt, ein Ring hängt daran. Gemeinsam
halten wir das Büchlein am Ring, damit es sich drehen kann, wenn Jeva
Fragen stellt. Drehung nach rechts bedeutet „Nein“, nach links „Ja“. Da…
murmelt Jeva: „Ich bete dich an, Mutter Gottes, dich und deine Geister.“
Glaubt Jeva an ihre Magie? Oder hat sie nur ein cleveres Geschäftsmodell
entwickelt? Das sind die Fragen, die wir uns stellen, als wir bei ihr
sitzen, sie treiben uns auch um, als wir Marica treffen, die in Wasser
blickt, in das sie Weihrauch geworfen hat. Oder bei Mila, deren Hand man
ergreifen soll, während sie mit geschlossenen Augen auf einem Bett liegt,
um so verstorbene Großeltern, Kinder oder Bekannte zu befragen. Ihre Kunden
kommen von weit her, aus Belgrad, Wien oder Berlin, sie sind jung und alt,
Buchhalter, Dorfbewohner, Frauen und Männer gleichermaßen. Oft warten sie
stundenlang, um eine der Wahrsagerinnen zu treffen. Was sie verbindet ist
nicht nur ihr Aberglaube. Es sind ihre traurigen Geschichten.
Eine Frau etwa wollte bestätigt bekommen, dass sich ihr Sohn nicht das
Leben genommen habe, sondern ermordet worden sei. Eine andere wollte
wissen, mit welcher Magie sie ihre Krankheit bekämpfen könne. Eine dritte
glaubt, ihr Sohn habe seinen Job verloren, weil er verflucht worden war.
Die Walachen leben wie selbstverständlich mit ihren Toten weiter, deren
Welt finster ist, kalt, ohne Wärme, ohne Wasser und ohne Nahrung. Bei einem
Todesfall sind „Pomane“, eine Abfolge von Totenmahlen, sehr wichtig.
Angehörige sollen beispielsweise sieben Jahre lang an festgelegten Tagen
zum Grab gehen, es mit Wasser benetzen, Kerzen anzünden und mit
Haselnusszweigen ein Feuer entfachen. Damit die Toten nicht dürsten und
nicht frieren.
## Popen dulden die Bräuche
Besonders inbrünstig kümmert sich Milica Kušlić aus Donji Lug. Sie hat
ihrem toten Sohn einen Ball, Shorts und Fußballschuhe mitgegeben, damit er
in der Totenwelt Fußball spielen kann. Sie errichtete ihm sogar ein kleines
Haus am Friedhof, stellte einen Herd hinein und einen Kühlschrank, alles
neu gekauft. Milica Kušlić selbst lebt in einer ärmlichen, schiefen Hütte.
Und weil er vor seinem Tod bereits mit einer jungen Frau verlobt war, hat
sie ihren Sohn mit ihr verheiratet. Das war 1994 – und die letzte
dokumentierte „Schwarze Hochzeit“ in Serbien. Die Siebzigjährige hat aber
noch mehr versucht. Vierzig Tage nach seinem Tod grub sie ihren Sohn wieder
aus. „Damit ihn die Sonne sieht!“ Dann, so ihre Hoffnung, würde er wieder
leben.
„Noch ein Jahrhundert, sagt man. Daran glaube ich“, sagt Milica Kušlić.
„Doch ich muss etwas vergessen haben“, jammert sie. „Er ist mir nicht
lebendig zurückgekehrt.“ Orthodoxe Popen dulden die walachische Tradition.
Sie wissen, dass sie dagegen nicht ankommen würden, zu tief sind die
Bräuche verwurzelt. Stirbt jemand, warten die Popen, bis die walachischen
Rituale vorüber sind. Dann erst vollziehen sie ihre christliche Zeremonie.
Ljubica Jovanović aus Rudna Glava treibt der Tod ihrer vierjährigen
Enkeltochter um. Ein Auto hatte sie überfahren. „Als sie gestorben war, sah
ich eine Wespe in der Kapelle“, erzählt Ljubica. „Sie flog um eine Kerze.�…
Später, auf dem Heimweg, flog diese Wespe in ihr Auto und genau ein Jahr
später kam sie noch einmal. Die Wespe, so erzählt es Jovanović, hatte sich
erst auf das leere Bettchen des verstorbenen Mädchens gesetzt und später
auf das Ohr des Schwiegersohnes, sie stach nicht zu. Wenig später flog ein
Schmetterling ins Haus. Ljubica Jovanović glaubt, der Schmetterling sei
ihre Enkelin Jovana gewesen.
Um Gewissheit zu erlangen, reiste die Großmutter nach Negotin, wo die
Wahrsagerin Tanja lebt. Sie spricht mit Toten. Und durch Tanja habe Jovana
folgendermaßen zu ihr gesprochen: „Oma, ich war der Schmetterling. Und ich
habe alles von dir, Oma, Wasser und Feuer und Spielzeuge. Und sag Mama, sie
soll nicht mehr Schwarz tragen und nicht mehr an meinem Grab weinen,
sondern sie soll das Video von meinem Geburtstag vom Regal nehmen und es
sich anschauen und wieder lachen.“
„Wie konnte Tanja das alles wissen, vom Schmetterling und vom Video“, fragt
Jovanović. Wo aber ist denn nun ihre Enkelin Jovana? Sie wisse es nicht,
sagt sie. Auf jeden Fall würde sie ihrer Enkelin sieben Jahre lang Pomane
halten und Brot ans Grab bringen. Auch deshalb, weil sie ungetauft
gestorben sei. Ein Mädchen soll regelmäßig Flußwasser auf das Grab
sprenkeln, Jovanović selbst will 40 Knoten in einen weißen Faden knüpfen,
die dann zwei Frauen über einem Fluss wieder lösen. Aber warum macht sie
das Ganze? „Es gehört sich so.“ Und wie sie das sagt, klingt es so ruhig
und so überzeugt, als würde sich alles von selbst erklären.
Links ist des Teufels
Und so ist der walachische Aberglaube nicht nur eine Welt der Magie, die
hinter der Kulisse der modernen Gesellschaft einfach weiter lebt. Sie ist
eine Lebensweise, Kultur und Tradition. Die Frage, ob man all das glauben
kann, wird für uns nach Tagen unter den Walachen immer unwichtiger. Was die
Wahrsagerinnen verkaufen, ist ein Blick in die Zukunft, aber nur
vordergründig. Was sie anbieten ist auch Lebenshilfe in der Gegenwart, sie
entdecken im Gegenüber Kummer. Und geben Hoffnung.
Doch mit mir ist Jeva bald unzufrieden. Das Büchlein, mit dem sie Fragen
über mich ergründen will, will sich nicht drehen. Sie ruft ihre
Mitarbeiterin, ein vierzigjährige Rumänin, jetzt halten sie beide das Buch
am Ring und siehe da: das Ritual geht flott vonstatten. Jeva befragt das
Buch: Wünscht jemand diesem Mann etwas Böses? Hat ihn ein Familienmitglied
verwünscht? Hat er schon einmal eine Zauberin aufgesucht? Das weiße Buch
antwortet. Irgendwie kommt sie darauf, dass mich meine ehemalige
Schwiegermutter verwünscht hätte. Neun Mal.
Wir müssten jetzt den Bann brechen, sagt Jeva und beginnt, zu diktieren.
Als meine Kollegin mit der linken Hand zum Stift greift, um mitzuschreiben,
ruft Jeva barsch: „Nein, du nicht! Du bist Linkshänderin!“ Links sei des
Teufels! Also notiere ich die Zutaten meiner Erlösung selbst: Ein Liter
Trinkwasser, ein Stock vom Weidenbaum, ein weißer Faden, so lang wie meine
Arme breit sind; ein Liter Wasser von dort, wo sich zwei Flüsse treffen,
drei weiße T-Shirts, Wasser vom Fluss unter einer Mühle für neun Flaschen,
ein weißer Wollfaden, so lang wie ich groß bin, ein Vorhängeschloss, ein
Messer, neun Bänder aus einem Wein- oder Tomatengarten, ebenfalls für neun
Flaschen. Sie beschreibt, wo wir all das besorgen können. Wir sollen damit
wiederkommen, befiehlt sie. Doch ich entscheide: Mit den Flüchen kann ich
leben.
8 Jul 2017
## AUTOREN
Andrej Ivanji
Nevena Milojević​
## TAGS
Lesestück Recherche und Reportage
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Geister
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