Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Demonstrationen in Serbien: Nicht länger ignorierbar
> Seit Tagen demonstrieren Tausende in Serbien gegen den Präsidenten
> Aleksandar Vučić. Für den werden die Proteste allmählich unangenehm.
Bild: Hoch die Faust
BELGRAD taz | Jeden Tag um 18 Uhr versammeln sich die Demonstranten in
Belgrad, Novi Sad, Niš, Kraljevo, Kragujevac, Zaječar, Kruševac. Dann
beginnt der Protestmarsch. Sie trillern, pfeifen und schreien gegen das
Regime Aleksandar Vučić. Die Teilnehmer rufen ihre Mitbürger dazu auf, zu
„erwachen“ und sich dem Protest anzuschließen. Sie blockieren den Verkehr
und denken nicht mal daran, ihre Demos bei der Polizei anzumelden. Den
gewählten [1][Präsidenten und immer-noch-Ministerpräsidenten Vučić]
bezeichnen sie als einen „Diktator“. Seine Initialen A.V. rufen sie wie
Hundebellen: „AV AV AV AV AV!“. Sie machen sich lustig über den autoritär…
Vučić, der auch die leiseste Kritik nicht ausstehen kann.
Regierungsnahe Medien ignorierten zunächst die Proteste. Doch es zog immer
mehr Menschen auf die Straßen. Nachrichten darüber wurden im Internet in
sozialen Netzwerken verbreitet. Vučić nahestehende Medien wie der TV-Sender
Pink und die Tageszeitung Informer nahmen sich nun doch der Demonstranten
an. Sie bezeichneten sie als „eine Handvoll vom Ausland bezahlter Söldner“,
„Junkies“, „Säufer“ oder als „verführte Jugend“. Der Ton war: Die
Opposition, unterstützt von finsteren Machtzentren, wie dem Milliardär
George Soros, wolle sich mit dem Sieg von Aleksandar Vučić bei den
Präsidentschaftswahlen am 2. April nicht abfinden und das „mazedonische
Szenario“ herbeirufen – eine quasi-legitim gewählte Regierung mit
Straßenprotesten zum Rücktritt zwingen.
„Schau, ich bin so eine Söldnerin und Süchtige“, sagt die
Wirtschaftsstudentin Ana. Ihre Freunde lachen. Warum sie demonstrieren?
Weil in Serbien nur Mitglieder von Vučićs Serbischer Fortschrittspartei
(SNS) einen Job bekommen könnten. „Und weil sich der Typ (Vučić) wie ein
Führer aufspielt, der über dem Gesetz und dem Parlament steht und die
Polizei und die Justiz kontrolliert“, sagt der zwanzigjährige Milan. Ob sie
denn Angst hätten? Nein. Man sieht keine verbissenen Gesichter, bei den
Demos herrscht Partystimmung.
Die Studenten und Schüler tragen Banner mit Parolen wie „Haltet uns nicht
länger für blöd“, „Vučić, du Dieb“, „Gegen den Terror der Machthab…
demonstrieren gegen die politischen Eliten, den Parteienstaat, gegen
Politiker mit gefälschten Universitätsdiplomen, vor allem aber gegen die
„Diktatur“ von Vučić und seinen Populismus.
Sie fordern unabhängige staatliche Institutionen und Medienfreiheit. Vučić
habe seinen Sieg bei den Präsidentschaftswahlen Repression und
Gleichschaltung der Medien zu verdanken, sagen die Demonstranten. Manche
glauben, das Regime habe die Wahlen gefälscht. Dabei lehnen sie es
dezidiert ab, mit irgendeiner politischen Partei in Zusammenhang gebracht
zu werden.
Den jungen Menschen schließen sich auch immer mehr Rentner an. Ein Mädchen
trägt ein Transparent, auf dem steht: „Haltet meine Oma nicht für blöd“.
Den Pensionären wurden im Rahmen des Sparprogramms Renten gekürzt.
## Größte Proteste seit dem Rücktritt von Milošević
Die Proteste im wirtschaftlich ruinierten Serbien bekommen einen immer
deutlicheren sozialen Ton. Verschiedene Gewerkschaften kündigten an, sich
dem „Studentenprotest“ anzuschließen. Am Samstag schlossen sich ihrerseits
Tausende Demonstranten dem Protest der abtrünnigen Gewerkschaften von
Polizei und Armee vor dem Regierungsgebäude in Belgrad an. Selbst die sonst
regierungsfreundliche Tageszeitung Kurir wollte die enorme Menschenmasse
nicht länger ignorieren, brach die Medienblockade und titelte: „Größte
Proteste in der jüngeren Geschichte“. Das bedeutet: größte Demos seit der
demokratischen Wende im Jahr 2000, als Slobodan Milošević zum Rücktritt
gezwungen worden war. Vučić und seine Mitläufer waren damals auch schon an
der Macht.
Für den gewählten Staatspräsidenten Vučić stellen die Proteste keine
unmittelbare Gefahr dar. Aber sie sind unangenehm. Gerade sah er die
Opposition am Boden liegen, da entsteht plötzlich eine neue Bewegung, mit
der er nicht umzugehen weiß. Der Protest wird sichtbar und könnte die
schweigsame, apathische Mehrheit, die Millionen Unzufriedenen anstecken.
Der autoritäre Machtpolitiker Vučić, der seine Minister strammstehen lässt
und sie öffentlich anschreit, und stets mit seinen „historischen“ Erfolgen
prahlt, er bringt die jungen Menschen auf die Palme und gegen sich auf die
Straßen.
11 Apr 2017
## LINKS
[1] /!5397552
## AUTOREN
Andrej Ivanji
## TAGS
Serbien
Demonstrationen
Aleksandar Vucic
Studentenproteste
Serbien
Reiseland Serbien
Lesestück Recherche und Reportage
Serbien
Serbien
Serbien
Aleksandar Vucic
Belgrad
Serbien
## ARTIKEL ZUM THEMA
Proteste in Serbien: SerbInnen haben die Nase voll
Den vierten Samstag demonstrieren in Belgrad Tausende gegen den
Präsidenten. Staatsnahe Medien nennen die Demonstranten „Faschisten“.
Belgrad, Beograd, die „Weiße Stadt“: Spielwiese der Umbrüche
Auch in Belgrad nagt die Globalisierung an historischer Substanz. Das
einstige sozialistische Vorzeigeviertel Novi Beograd erscheint heute grau
und fad.
Wahrsagertradition in Serbien: Jeva und der Fluch
In Serbien leben rund 40.000 Walachen. Sie pflegen die Tradition der
Wahrsagerei. Unsere Autoren haben dort gelernt: Sie sind verflucht.
Premierministerin in Serbien: Erstmals eine Frau und Lesbe im Amt
Präsident Vucic hat die 41-jährige Ana Brnabic für den Posten
vorgeschlagen. Seine Partei hat im Parlament die Mehrheit, ihre Bestätigung
ist eine Formsache.
Sigmar Gabriel besucht Westbalkan: Hauptsache, die Geschäfte laufen
In Serbien und im Kosovo äußerte der Außenminister eine Liste guter
Wünsche. Zudem stellt er den zwei Ländern eine EU-Perspektive in Aussicht.
Kommentar Proteste in Belgrad: Jugendrevolte in Serbien
Tausende protestieren gegen Regierungschef Vučić, es ist aber vor allem ein
Protest gegen die Ausweglosigkeit der herrschenden Verhältnisse.
Umstrittene Wahl in Serbien: Tausende protestieren gegen Vucic
Der Wahlsieger soll nur mit unlauteren Methoden sein Ergebnis erzielt
haben. Auch Soldaten und Mitglieder der Polizeigewerkschaft sind unter den
Demonstranten.
Nach Präsidentschaftswahl in Serbien: Proteste gegen Sieger Vucic
In Belgrad und anderen Städten gab es nach der Wahl Proteste gegen den
künftigen Staatschef. Wladimir Putin lobte derweil dessen Außenpolitik.
Kommentar Serbiens neuer Präsident: Der zu starke Mann
Aleksandar Vučić wird ein Präsidialsystem in Serbien einführen, mit Segen
der EU. Nicht einmal Slobodan Milošević hatte soviel Macht.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.