# taz.de -- Belgrad, Beograd, die „Weiße Stadt“: Spielwiese der Umbrüche | |
> Auch in Belgrad nagt die Globalisierung an historischer Substanz. Das | |
> einstige sozialistische Vorzeigeviertel Novi Beograd erscheint heute grau | |
> und fad. | |
Bild: Der Save-Zufluss in die Donau: Im Hintergrund ist der Genex-Turm in Neu-B… | |
Jeden Abend sammeln sich Touristen und Einheimische auf Belgrads | |
Wahrzeichen, der Festung Kalemegdan, um der Sonne beim Untergehen | |
zuzusehen. Die Figur auf der Siegessäule blickt entschlossen nach Westen. | |
Dort, am gegenüberliegenden Ufer, ragen wie Mahnmale graue Betonzähne in | |
den Himmel, manche frisch geputzt, andere von der Zeit geschwärzt. Sie sind | |
Teil der stadtgewordenen Utopie des sozialistischen Jugoslawien: Novi | |
Beograd, Neu-Belgrad. Das Konzept: Licht und Grün für die Arbeiterklasse, | |
breite Alleen, Parks und alle Einrichtungen des täglichen Bedarfs vor der | |
Haustür. | |
„Den meisten ging es in Jugoslawien besser“, vermutet Djordje Milic. Der | |
26-Jährige ist in Neu-Belgrad aufgewachsen, hat Soziologie studiert und | |
findet wie viele junge Leute keine Arbeit in seinem Beruf. Nun fährt er | |
Touristen in einem jugoslawischen Auto durch Belgrad: Mit dem | |
blass-orangeroten Zastava 101, Baujahr 1979, ruckeln wir über die chronisch | |
verstopfte Branko-Brücke. | |
Bei jedem Kuppeln muss Djordje Zwischengas geben, bis der Motor aufheult. | |
Die Lenkung geht schwerer als bei einem alten Lastwagen. „So brauche ich | |
kein Fitnessstudio“, freut sich der junge Mann. Seit er diese alte Kiste | |
fährt, versteht er „viel besser, wie ein Auto funktioniert“: ohne | |
Elektronik, keine Klimaanlage, kein Navi. Djordje mag seinen Job als | |
Gästefahrer und -führer. Auch immer mehr Einheimische interessieren sich | |
für die Geschichte des untergegangenen Jugoslawien. | |
In den 90er Jahren zerfiel das Land. Nachbarn wurden zu Feinden. Manche | |
nahmen die „Privatisierung“ wörtlich, kauften billig Unternehmen und | |
plünderten sie aus. Die Gewinne den wenigen, die Verluste der | |
Allgemeinheit. Für viele Verlierer wurde Jugoslawien zum nostalgisch | |
verklärten Mythos. Djordje hat dafür eine Erklärung: Unter Tito hatten die | |
Menschen wenig, aber eine Perspektive. „Es gab Aufstiegsmöglichkeiten und | |
soziale Mobilität.“ | |
Bis in die frühen 80er Jahre war der jugoslawische | |
Selbstverwaltungs-Sozialismus relativ erfolgreich. Freier als im Osten und | |
gleicher als im Westen schufen sich viele ihr kleines Glück mit Fernseher, | |
Kühlschrank, Auto und Datscha. Tito, Diktator und Staatsmann, hatte als | |
Mitbegründer und Anführer der blockfreien Staaten zwischen Ost und West in | |
der Weltpolitik Gewicht. | |
## Begrünte Parks | |
Die Vision einer besseren, gerechteren Welt erhielt in Neu-Belgrad ein | |
Gesicht. Was auf den ersten Blick an Plattenbaugebiete wie in Marzahn oder | |
Hohenschönhausen erinnert, unterscheidet sich im Detail vom | |
realsozialistischen Klötzebau der Ostblockländer. Novi Beograd entstand von | |
1948 bis 1985 Schritt für Schritt nach Plänen unterschiedlicher | |
Architekten. Die Arbeiten wurden ausgeschrieben. Wettbewerbe brachten | |
Vielfalt. Tatsächlich gibt es neben heruntergekommenen eintönigen | |
Betonklötzen aufgelockerte, begrünte Wohngebiete, Parks mit | |
Kinderspielplätzen unter Bäumen. Jeder Block mit jeweils bis zu 15.000 | |
Einwohnern sieht bis hin zur Fassadengestaltung anders aus als der nebenan. | |
Wege verbinden die Hochhäuser über weite Freiflächen – keine Zäune, keine | |
Mauern. Auf den Boulevards verkehren Straßenbahnen auf eigenen Spuren. Die | |
Bürgersteige sind breit genug für Fußgänger und Radfahrer. | |
„Nach dem Bruch mit Stalin 1948 orientierte sich die jugoslawische | |
Architektur mehr an westlichen Vorbildern als an sowjetischen“, erklärt | |
Miodrag Ninić. Der Architekt bietet über das internationale Netzwerk | |
[1][Guiding Architects] Fachführungen durch seine Heimatstadt an. Mit der | |
Geschichte Neu-Belgrads hat er sich intensiv beschäftigt. | |
Auch bei der Finanzierung seiner Bauprojekte ging Jugoslawien eigene Wege. | |
Die Unternehmen zogen allen Angestellten, auch den Managern, Beiträge von | |
den Gehältern ab. Diese überwiesen sie an einen Baufonds, der damit | |
Wohnungen, Kindergärten, Ärztehäuser und andere öffentliche Einrichtungen | |
bezahlte. | |
Ende der 80er Jahre begann man damit, die großen Unternehmen in | |
Profitcenter aufzuspalten. Was sich betriebswirtschaftlich nicht lohnte, | |
verschwand. „Gehälter und Lebensstandard entwickelten sich auseinander, was | |
das politische System destabilisierte“, analysiert Soziologe Djordje. | |
Zwischen den Wohnblöcken und Siedlungen Neu-Belgrads mit seinen 450.000 | |
Einwohnern überragt ein Doppelturm die umliegenden Gebäude: Der Genex-Turm | |
galt in den 60er Jahren als Vorzeige-Architektur Jugoslawiens. Die Tür zum | |
linken der beiden Betontürme steht offen. Der Aufzug funktioniert. | |
Reiseführer würden den Blick vom 28. Stock atemberaubend nennen. Doch durch | |
die verdreckten Scheiben verschwimmt die mit grauen Wohntürmen gespickte | |
flache Landschaft in einem schmierigen Nebel. Die Bauten der Tito-Zeit | |
unten am Boden sind kaum zu sehen. | |
## Das modernste Hotel des Landes | |
Mit dem „Yugoslavia“ entstand in den 60er Jahren das damals modernste Hotel | |
des Landes: ein mehrere hundert Meter langer Bau mit 420 Zimmern. Der | |
deckenfüllende Lüster im Foyer hat es als größter seiner Art ins | |
Guinnessbuch der Rekorde geschafft. Los ist wenig. | |
Wir fragen den „Front Desk Manager“, ob er uns eines der angeblich im | |
Original aus den 60er Jahren erhaltenen Zimmer zeigen kann. Vuk, ein | |
freundlicher Mann, hat schon zu jugoslawischer Zeit hier gearbeitet. Er ist | |
stolz auf die Geschichte des Hauses. Wir bekommen eine Hausführung mit | |
Geschichten und Geschichte, Suite und Doppelzimmer. Vom umlaufenden Balkon | |
haben die Gäste freien Blick auf die Mündung der Save in die blaugrüne | |
Donau. | |
Am anderen Flussufer liegt weiter südlich ein Geschenk: Die Stadt Belgrad | |
beehrte Präsident Tito 1962 zu seinem 70. Geburtstag mit einer neuen | |
Residenz: Sein ehemaliges Quartier und seine heutige Grabstätte im Grünen | |
wurden zum Museum Jugoslawiens. Versteckt in einem Wäldchen stehen auf dem | |
Gelände die Überreste von Titos Wohnhaus. Nachdem Slobodan Milošević dort | |
eingezogen war, bombardierte die Nato während des Kosovokriegs 1999 das | |
Gebäude. | |
Erhalten geblieben sind das Blumenhaus mit Titos Grab aus weißem Marmor und | |
das Museum. Darin zeigen die Ausstellungsmacher mehrere hundert kunstvoll | |
gefertigte Stafetten, die die Jugend des Landes ihrem Führer in | |
Staffelläufen jedes Jahr zum Geburtstag brachte – sowie Staatsgeschenke, | |
die Tito vor allem aus den blockfreien Ländern Afrikas erhielt, darunter | |
Raubtierfelle und afrikanisches Kunsthandwerk. | |
In Neu-Belgrad erzählt Fahrer Djordje vom Belgrader Alltag heute. | |
„Patchwork-Existenz“ nennt er das Überleben seiner Generation in | |
wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Seine Schwester zum Beispiel jobbe für | |
30.000 Dinar, nicht mal 300 Euro, halbtags in einem Call-Center. Die | |
Arbeit habe sie nur bekommen, weil sie gut Deutsch spreche. Nebenbei | |
arbeite sie als Visagistin. | |
## Der Egoismus der Eliten | |
Djordje wohnt bei seinen Eltern. Um wirtschaftlich auf eigenen Füßen zu | |
stehen und sich zumindest ein WG-Zimmer zu leisten, brauche er „mindestens | |
600 Euro im Monat“. | |
Gescheitert sei Jugoslawien am Egoismus der Eliten in den Bundesstaaten, | |
die sich bei der Privatisierung der Wirtschaft die Taschen füllten. Die | |
Rückkehr zu Kapitalismus und Marktwirtschaft habe die Menschen „atomisiert“ | |
und gegeneinander in Konkurrenz gebracht. „Die Leute wurden zynisch, | |
apathisch oder ließen sich für den Nationalismus mobilisieren“ erklärt | |
Djordje. | |
1941 richtete die deutsche Gestapo in den ehemaligen Messehallen auf der | |
Neu-Belgrader Seite Europas einziges Konzentrationslager in einer Großstadt | |
ein. Jüdische Häftlinge, politische Gefangene, Roma, Sinti und viele andere | |
pferchten sie in die Gebäude. Heute leben in den halb verfallenen Bauten | |
Flüchtlinge, die in den 90er Jahren aus Bosnien und anderen Kriegsgebieten | |
gekommen waren. | |
Die Yugo-Touren beginnen und enden unter der 1935 erbauten Branko-Brücke im | |
Altstadtviertel Savamala zwischen alternativen Kneipen wie dem | |
Kulturzentrum KC Grad, mit streetart besprühten grauen, rissigen | |
Altbaufassaden und holprigen Kopfsteinpflaster-Straßen. Von Süden her nagt | |
das Belgrad der Zukunft schon an dem beliebten, noch preiswerten Ausgeh- | |
und Kreativviertel. | |
Hinter dem Bauzaun einer halb renovierten Ruine wächst das größte | |
Neubauprojekt Südosteuropas in den Himmel: Bagger reißen alte Fabrik- und | |
Lagerhallen ab, in denen bis vor Kurzen mehr als 1.000 Flüchtlinge hausen | |
mussten. Auf dem Weg über die Balkanroute waren sie hier hängen geblieben. | |
Inzwischen ließ sie die Regierung in Lager verfrachten. Möbelreste und | |
verdreckte Decken erinnern in den halb zerstörten Hallen an ihr Schicksal. | |
Hinter den Trümmern ragen zwei halbfertige Betontürme in den wolkenlosen | |
Himmel. „Belgrade Waterfront“, verkündet die Bautafel des Unternehmens | |
Eagle Hills aus Abu Dhabi. | |
## Mit Gewalt geräumt | |
Der Investor baut zusammen mit dem serbischen Staat auf 177 Hektar eine | |
neue Wolkenkratzer-Stadt: 5.700 Wohnungen, Büros, Vergnügungsmeile, | |
Einkaufszentren, Uferpromenade und Luxushotels. Wer dem Vorhaben nicht | |
freiwillig wich, wurde geräumt. Medien berichteten, wie maskierte Männer | |
Anwohner im April 2016 ohne Vorwarnung aus ihren zum Abriss bestimmten | |
Häusern prügelten. | |
Ein einziges Häuschen steht unversehrt hinter einem Mäuerchen inmitten der | |
Brache. Sein Bewohner konnte anhand alter Grundbücher nachweisen, dass ihm | |
das Grundstück gehört. Niemand weiß, wie lange er dem mehr als drei | |
Milliarden Euro teuren Glitzerquartier an der Save noch widerstehen wird. | |
Kritiker wie die Bürgerinitiative „Ertränkt Belgrad nicht“ vermuten | |
Korruption hinter dem Größenwahn. Nur wenige Einheimische werden sich die | |
Wohnungen leisten können. Weil die Save oft über ihre Ufer tritt, wird so | |
mancher Luxuskeller voll Wasser laufen. | |
Sieben von zehn Hauptstadtbewohnerinnen und -bewohnern sind Zuwanderer. | |
Ihre Wurzeln haben sie in Bosnien, Kroatien, Mazedonien, der Vojvodina oder | |
noch weiter weg, wo ihre Eltern einst auf der Suche nach Arbeit hängen | |
geblieben sind. | |
## Eine typische Belgrader Migrationsgeschichte | |
In einem Café vor dem Goethe-Institut an der mondänen Fußgängerzone Knez | |
Mihailova erzählt Selman Trtovač eine typische Belgrader | |
Migrationsgeschichte: Seine Mutter stammt aus Dalmatien, der Vater ist | |
muslimischer Serbe. Als Selman 1970 im heute kroatischen Zadar zur Welt | |
kam, interessierten sich wenige für solche Details. Man war Jugoslawe. | |
Aufgewachsen in Belgrad, studierte Selman in Düsseldorf Kunst. Obwohl er in | |
Deutschland sein Auskommen hatte, wagte er 2011 den Sprung ins Ungewisse. | |
„Eine harte Entscheidung“, begleitet von „Zweifeln und Existenzangst“, … | |
er nicht bereut. | |
„Mich interessieren existenzielle Fragen, zerfallende Systeme und die | |
Momente, in denen sich Werte neu sortieren“, sinniert der nachdenkliche | |
Mann. So kehrte er nach Belgrad zurück, obwohl man „hier von Kunst nicht | |
leben kann“. Der 47-jährige Künstler fand eine Stelle in der | |
Universitätsbibliothek und dann beim Goethe-Institut, wo man ihm hinter | |
dem Schaufenster Platz für eine kleine Galerie schuf. „70.000 Passanten | |
kommen hier täglich vorbei“, freut sich der Künstler. | |
Jugoslawien ist auch für ihn nur eine Kindheitserinnerung. Djordje, der | |
junge Fahrer der Nostalgietouren in Neu-Belgrad, „war früher | |
jugo-nostalgischer. Das ist vorbei“, sagt er in seinem sachlichen Tonfall. | |
„Ich schaue in die Zukunft.“ | |
27 May 2018 | |
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[1] http://www.guiding-architects.net/de/ | |
## AUTOREN | |
Robert B. Fishman | |
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