# taz.de -- Essay: Vom Nutzen der Wahrsagerei: Was kommt? | |
> Manchmal liegen alle Prognosen daneben. Etwa, als niemand kommen sah, wer | |
> Hamburgs Bürgermeister wird. In solchen Fällen wäre ein Blick in die | |
> Zukunft praktisch. | |
Bild: Was die Karten zeigen: Wahrsagerin auf dem Hamburger Dom. | |
Das Bedürfnis, etwas über die Zukunft zu erfahren, ist sehr zeitlos, nur | |
die Methoden haben sich in der Moderne vervielfältigt. Je nach | |
Erkenntnisinteresse und persönlicher Vorliebe kann man eine Wahrsagerin | |
befragen, direkt oder über eine Hotline im Fernsehen, man kann eine | |
humangenetische Beratungsstelle aufsuchen oder den Weg eines gewöhnlichen | |
Kraken durch sein Aquarium verfolgen. | |
Man kann die Prognosen großer Meinungsforschungsinstitute lesen und solcher | |
kleiner Zeitungen wie der unseren und erkennen, dass sie bei Wahlen in den | |
USA und Hamburg gleichermaßen falsch lagen. Falsch liegen gelegentlich auch | |
die GenetikerInnen und WahrsagerInnen, seltener der Krake Paul. So | |
interessant es ist, die Fehlerquote der diversen Vorhersagemethoden zu | |
vergleichen – mindestens so interessant ist ihr gesellschaftlicher | |
Stellenwert. Wem trauen wir sicheres Wissen über die Zukunft zu – und was | |
wollen wir eigentlich erfahren? | |
Meine eigenen Erfahrungen mit Wahrsagerei sind sonderbar verschwommen. Ich | |
erinnere mich vage daran, dass ein Freund die I-Ging-Münzen für mich | |
deutete. Das Ergebnis war erfreulich, aber warum genau, habe ich vergessen. | |
Nicht vergessen habe ich eine Mitbewohnerin aus meinem Studentenwohnheim, | |
eine schmale, rätselhafte Person mit iranischen Wurzeln. Sie schrieb ihre | |
Magisterarbeit in Philosophie innerhalb einer Woche und saß einmal abends | |
in der Küche und bot an, mir die Karten zu lesen. Soweit ich mich erinnere, | |
legte sie die Karten vor sich aus und sagte dann plötzlich, dass es | |
vielleicht doch keine gute Idee sei. | |
## Dunkle Vorstellung vom Verhängnis | |
Während ich es aufschreibe, denke ich, dass es genau das ist, was man sich | |
nicht von einer Wahrsagerin erhofft, diese dunkle Vorstellung, das | |
Gegenüber wisse von einem Verhängnis, das einen unausweichlich überfallen | |
wird. Ein Kainsmal, das nur das Gegenüber sehen kann. Was zu einer | |
Grundfrage an die Wahrsagerei führt: Was für eine Art von Zukunft sagt sie | |
voraus? Wenn diese unveränderlich feststeht, welchen Sinn hat es, sie im | |
Voraus zu kennen? | |
Wer wahrsagt, erhebt den Anspruch, mehr zu wissen als seine Umgebung und | |
das macht ihn notwendigerweise fremd. Die Geschichte der Wahrsagerei ist | |
eine von staatlichem Verbot und privater – aber auch staatlicher – | |
Nachfrage, von auratischem Glanz und kommerziellen Niederungen. | |
Im antiken Rom deutete ein Priesterkollegium im staatlichen Auftrag den | |
Flug der Vögel und die Eingeweide von Opfertieren, während zeitgleich die | |
Philosophen die Geldgier dubioser Zukunftsdeuter anprangerten. Die | |
christliche Kirche ehrte die biblischen Propheten und lehnte das | |
Wahrsagewesen als menschliche Anmaßung erbittert ab. Schon der spätantike | |
Staat sprach Verbote aus, doch dass diese immer wieder neu erlassen wurden, | |
belegt das ungebremste Interesse. | |
In Deutschland blieb das kommerzielle Wahrsagen bis nach dem Zweiten | |
Weltkrieg verboten. Interessant ist ein Urteil des | |
Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 1965, das einem Kläger gestattet, | |
entgeltlich wahrzusagen und auch dafür zu werben. Der Mann war in zwei | |
Instanzen unterlegen, nun gab ihm das Gericht mit Verweis auf die | |
grundrechtliche Freiheit des Berufs recht und liefert in seiner Begründung | |
eine soziale Einordnung, nämlich: „Die Astrologie hat zahlreiche gläubige | |
Anhänger. Viele Menschen lehnen sie grundsätzlich oder auch nur deshalb ab, | |
weil sie ihre Methoden für untauglich halten. Ein beträchtlicher Teil der | |
Bevölkerung dagegen steht ihr aufgeschlossen gegenüber.“ | |
Schwierig wurde es bei der Frage, ob das Gericht die Zuverlässigkeit eines | |
Astrologen prüfen kann. Im Urteil heißt es: „Es liegt doch außerhalb seiner | |
Aufgabe und seiner Möglichkeiten, denjenigen, die sich trotz aller | |
bekannten Einwände gegen die Astrologie auf sie einlassen, durch eine | |
Sachkundeprüfung zu einer ‚fachgerechten‘ Arbeitsleistung der Astrologen zu | |
verhelfen.“ | |
## Der Kunde sucht Trost | |
Glaubt man dem Sozialhistoriker Georges Minois und seiner Geschichte der | |
Wahrsagung, ging es den Kunden der WahrsagerInnen ohnehin kaum um das | |
Wissen um die Zukunft, sondern um Trost, Beruhigung und möglicherweise | |
Handlungsanweisungen. Das also, was heute jede Psychotherapie für sich in | |
Anspruch nehmen würde. Oder auch Astro TV, ein Sender, der mitmischt auf | |
dem profitablen Markt der Astrologiebranche, deren Jahresumsatz auf 150 | |
Millionen Euro geschätzt wird. | |
Als ich den Sender anschalte, widmet sich gerade eine Frau mit langen | |
dunklen Haaren der Zukunft einer Anruferin. Sie wirkt ein bisschen fahrig, | |
aber was sie verheißt, klingt wunderbar. „Ab Mai stehen die Liebesenergien | |
gut“, sagt sie, „im Juni steht der Mann auf der Matte“ und auch finanziell | |
sieht es gut aus, denn Fische und Sonne, die höchsten Geldkarten, liegen | |
vor ihr. Beruflich, rät die Wahrsagerin noch, soll die Anruferin neue Wege | |
gehen, nämlich: „Mach mal einen Massagekurs, Ayurveda, was Schönes.“ | |
Als ich Astro TV das nächste Mal anschalte, ist die langhaarige Wahrsagerin | |
leider nicht mehr zu sehen, dafür ein Mann, der Schutzamulette verkauft. | |
Man bleibe von Zumutungen und Manipulationen nicht verschont, teilt er mit, | |
etwa wenn jemand sage, er sei müde und ob man bitte dies mal kochen könne. | |
Es ist lustig zu sehen, wie sich bei Astro TV alte Inszenierung und neue | |
Technik mischen: die Telefonhotline mit dem Schutzamulett und der Webcam, | |
in der Astrologin Birgit mit fransigem Schultertuch, wallendem Haar und | |
Halskette mit großem Anhänger erscheint. | |
Ein Bekannter erzählte mir von seiner Begegnung mit einer Wahrsagerin in | |
Mailand, wo sich abends eine Geschäftsstraße in eine Straße des Orakels | |
verwandelte und ein Dutzend Wahrsager und Wahrsagerinnen in einer Reihe | |
ihre Klapptische aufbauten und auf Kundschaft warteten. | |
Er ging zu einer älteren, exzentrisch anmutenden Frau mit Damenbart, die | |
einen Kerzenleuchter vor sich stehen hatte, ein Paillettentuch trug, noch | |
rasch einen Teller Garnelen aß und dann mit großer Bestimmtheit beschrieb, | |
wo im Leben er sich befand und, etwas vager, wohin es ihn bringen sollte. | |
Diese Bestimmtheit ist das Geheimnis. Bei der Wahrsagerei ebenso wie bei | |
den Prognosen, die wir von Bankern, Wissenschaftlern und Ärzten bekommen. | |
Manche sind eindeutig falsch und in ihrer Falschheit nachprüfbar. Donald | |
Trump hat die Wahl zum US-Präsidenten gegen alle Vorhersagen gewonnen und | |
danach gab es tatsächlich so etwas wie ein Nachdenken darüber, woran das | |
gelegen haben mag. | |
An den Fragetechniken, war eine Antwort. Die telefonisch oder persönlich | |
Befragten hätten in der Vorstellung, eine sozial unerwünschte Wahl zu | |
treffen, ihre Präferenz verschwiegen. Leben in der sozialen Blase war eine | |
andere Antwort, diffiziler, weil es da um individuelle Meinungen und | |
Vorhersagen der JournalistInnen ging, die mit der Überzeugung von | |
Leitartiklern, aber ohne wissenschaftlich-statistisches Gewicht | |
dahergekommen waren. | |
Uneindeutiger, aber vielleicht noch relevanter, ist die Geschichte des Club | |
of Rome, der 1972 in seiner Studie „Grenzen des Wachstums“ eine dramatische | |
Umweltzerstörung und ein Versiegen natürlicher Rohstoffe vorhergesagt | |
hatte. Ob die Wissenschaftler ganz konkret ein Versiegen von Rohstoffen | |
noch im 20. Jahrhundert prognostizierten oder ob dies eine | |
Fehlinterpretation ist, bleibt umstritten. Aber heute noch schreiben Medien | |
„mal wieder Weltuntergang“ bei der Vorstellung neuer Berichte des Club of | |
Rome, gern auch solche Magazine, die selbst ein Faible für apokalyptische | |
Szenarien haben. | |
## Moderne Wahrsagerei beim Humangenetiker | |
Vertrauen ist das Pfund, mit dem jeder und jede, der Aussagen über die | |
Zukunft trifft, wuchert. In die genetischen Beratungsstellen kommen Mütter | |
und Väter, die etwas über ihre ungeborenen Kinder erfahren wollen. Aber was | |
sie bekommen, ist keine Aussage über ihre ureigene Situation, sondern eine | |
Prädikation, eine „Kalkulation der Zukunft“. So sagt es Silja Samerski, | |
die sich als Biologin mit der „verrechneten Hoffnung“ beschäftigt hat. | |
Was die Beratungsstellen den künftigen Eltern mitgeben können, sind | |
statistische Wahrscheinlichkeiten. „Die Wahrscheinlichkeit, dass Ihr Kind | |
die Erbkrankheit X haben wird, liegt bei 10 zu 90“, ist das, was die | |
ÄrztInnen wissen, während die Eltern eine Aussage über dieses eine, ihr | |
Kind erwarten. Der Philosoph und Theologe Ivan Illich, der Samerskis | |
Mentor war, nannte solche Informationen „moderne Wahrsagerei“. | |
Angst ist keine Spezialität der Gegenwart und Astro TV nicht schlimmer als | |
die Scharlatane in den Straßen Roms. Die Sorge um die Zukunft bleibt, und, | |
es mag ungerecht sein, je größer sie ist, desto weniger kann man sie | |
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16 Mar 2018 | |
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## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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