# taz.de -- Kriegsverbrechen in Ex-Jugoslawien: Die Schuld des General Mladić | |
> Der Prozess gegen Ratko Mladić steht vor dem Ende. Die Anklage hält ihn | |
> verantwortlich für Vergewaltigungen, Vertreibung und Völkermord. | |
Bild: UN-Soldaten in Potocari, Bosnien-Herzegowina, vor hunderten Zivilisten, d… | |
DEN HAAG taz | Gebannt blickt Ratko Mladić, Exoberbefehlshaber der Armee | |
der bosnischen Serben im Krieg 1992–95, auf den „Prosecuter“ des | |
UN-Kriegsverbrechertribunals. An diesem Mittwoch, dem 7. Dezember 2016, | |
nach einem über 4 Jahre währenden Prozess und nach dreitägiger Verlesung | |
der „closing arguments“, hat die Anklage alle ihre Argumente vorgetragen. | |
Jetzt will Chefankläger Alan Tieger verkünden, welches Strafmaß er fordert. | |
Die Zuschauer sind durch eine kugelsichere Glaswand vom Gerichtssaal | |
getrennt, die bei Bedarf durch einem Vorhang verschlossen wird. Doch jetzt | |
ist der Blick frei, man hat das Gefühl, sich mitten im Geschehen zu | |
befinden. | |
Links an der Wand, kaum ein paar Meter entfernt, sitzt der Angeklagte in | |
seinem grau schimmernden Anzug, davor in zwei Reihen ein Dutzend seiner | |
Verteidiger, die eifrig die Ausführungen der Anklage notieren und an ihren | |
Computern arbeiten. Rechts haben die Ankläger mit ihren Gehilfen Platz | |
genommen. Und über allen thront das Gericht mit dem grauhaarigen | |
Vorsitzenden Richter, dem niederländischen Juristen Alphons Orie, dem | |
Südafrikaner Bakone Justice Moloto und dem Deutschen Christian Flügge. | |
Das Verfahren gegen Ratko Mladić gehört zu den letzten Aktivitäten des | |
„International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia“ (kurz: ICTY und | |
auf Deutsch „Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige | |
Jugoslawien“), wie das Gericht offiziell heißt. Dann wird das Hohe Gericht | |
über 161 der Kriegsverbrechen angeklagten Personen geurteilt, 4.650 Zeugen | |
vernommen und 2,5 Millionen Seiten an Zeugenaussagen und Gerichtsverfahren | |
dokumentiert haben. Der Mladić-Prozess markiert das Ende für das 1993 | |
gegründeten Gerichts. Und seinen Höhepunkt. | |
## Panorama des Krieges | |
Der charismatisch auftretende „Lead Prosecutor“ Tieger und seine | |
Mitankläger haben in den vergangenen drei Tagen ein umfassendes Panorama | |
des Bosnienkrieges ausgebreitet. Sie versuchten, die Verantwortung | |
Mladić’schon zu Beginn der Kämpfe 1992 an den Verbrechen vornehmlich gegen | |
bosnische Muslime im Tal der Drina, in den Städten Višegrad und Foča, | |
nachzuweisen. Nach den Aussagen von Überlebenden wurden dort nach der | |
Eroberung durch serbische Streitkräfte Männer von Frauen getrennt; viele | |
der Männer ermordet, viele Frauen in Vergewaltungslager gebracht oder als | |
Sexsklavinnen missbraucht. | |
Planmäßig sei das System der ethnischen Säuberungen aufgebaut worden, | |
erklärte Tieger am Dienstag. Die schon vor dem Krieg in vielen Städten | |
Bosniens errichteten serbischen Krisenstäbe hätten nach der militärischen | |
Einnahme der Orte durch die von Mladić befehligte Armee und den mit ihnen | |
kooperierenden Freischärlergruppen Verhaftungslisten bereitgestellt. So | |
konnte sofort mit der Verhaftung von Nichtserben begonnen werden. | |
Exemplarisch für diese Strategie sei das Vorgehen in der westbosnischen | |
Gemeinde Prijedor im Sommer 1992 gewesen. In den dort errichteten Lagern | |
Omarska, Keraterm, Manjača und Trnopolje wurden Tausende Menschen | |
erniedrigt, gefoltert, vergewaltigt und ermordet. Das alles erfülle die | |
Kriterien für einen Völkermord, betont Tieger. | |
Am Mittwoch wird der Ton das Anklägers noch schärfer. „Das alles gehört zu | |
dem politischen Plan, dem Ratko Mladić gefolgt ist.“ Dabei sei es nicht nur | |
um die Eroberung von Territorien gegangen: „Es ging um die Vertreibung | |
aller Nichtserben aus dem eroberten Raum.“ Dabei sei jedes Mittel recht | |
gewesen. Mladić habe die sogenannte „Directive 7“, den Plan der politischen | |
Führung der bosnischen Serben, umgesetzt; er habe die Armee, die Polizei, | |
die Freischärlertruppen und die Staatsorgane gleichgeschaltet, um das ihm | |
gestellte Ziel zu erreichen. | |
## Völlige Kontrolle? | |
Der Angeklagte wiegt seinen Kopf. Er ringt mit sich. Als Offizier und | |
Oberkommandierender muss Ratko Mladić ja einerseits alles im Griff gehabt | |
haben. Andererseits will er offenbar nicht für alle Untaten verantwortlich | |
sein. | |
Mladić’Verteidigung hat ihre Strategie vor dem UN-Gericht darauf angelegt, | |
Folterungen, Morde und Vergewaltigungen seinen Untergebenen in die Schuhe | |
zu schieben, sagt Tieger. Den Verteidigern zugewandt betont er noch einmal, | |
Mladić habe die völlige Kontrolle über die Geschehnisse gehabt. | |
Ein Überlebender des Massakers von Srebrenica und einer der | |
Konzentrationslager in Westbosnien kämpfen im Zuhörerraum mit ihren | |
Gefühlen. Einem Mann gegenüber zu sitzen, der den Tod von nächsten | |
Verwandten, Nachbarn und Freunden zu verantworten hat, ist nicht einfach. | |
Den Überlebenden wurde Hab und Gut genommen, sie verloren ihre Heimat, das | |
eigene Leben und das ihrer Familien liegt bis heute in Trümmern. Das | |
Plädoyer von Alan Tieger ist Balsam für ihre Seelen. „Trotz allem, niemals | |
hat es nach dem Krieg von bosniakisch-muslimischer Seite Racheakte gegeben, | |
wir hätten ja allen Grund dazu, aber wir haben uns zivilisiert verhalten, | |
wir fordern aber Gerechtigkeit von diesem Gericht“, sagt Ahmed A. | |
„Hast du das auch gesehen, hat sich Mladić nicht eine Träne abgewischt?“, | |
fragt eine holländische Kollegin in der Pause. Als die Ankläger über das | |
Schicksal einzelner Frauen aus Srebrenica berichten, über die Ermordung von | |
mehr als 8.000 halbwüchsiger Jungen und Männern in Srebrenica Juli 1995, | |
als berührende Einzelheiten aus persönlichen Schicksalen ausgebreitet | |
werden, benutzt Mladić in der Tat seine Taschentücher relativ häufig, um | |
sich über Stirn und Augen zu wischen. „Wird Schweiß gewesen sein“, kontert | |
ein britischer Kollege trocken. | |
## Wer die Macht hat … | |
Lebendig wird Ratko Mladić, als über seine Vita gesprochen wird. Als der | |
Ankläger über seinen Aufstieg vom mittleren Offizier der Jugoslawischen | |
Volksarmee zum Kommandanten im kroatischen Knin 1990, seine Berufung zum | |
Oberkommandierenden der serbischen Truppen im Bosnienkrieg 1992 referiert, | |
nickt er zustimmend. Und richtig in Begeisterung gerät der General bei den | |
Ausführungen Tiegers über die Belagerung der bosnischen Hauptstadt | |
Sarajevo. | |
Auch dem von der Anklage vorgeführten Film über die Belagerung der Stadt, | |
den Artilleriebeschuss und die Schüsse der Heckenschützen auf Zivilisten | |
schaut er interessiert zu. Bei seiner von Tieger zitierten Aussage aus dem | |
Sommer 1992, keine Maus könne die 500.000 Einwohnerstadt mehr verlassen, | |
sondern nur Vögel, blickt er lachend in den Zuschauerraum. | |
Beifallsheischend. | |
Als Tieger den General mit dem Satz zitiert, wer die Macht habe, sei auch | |
in der Lage, neue Grenzen zu ziehen, ballt der die Faust. „Da“, sagt er. | |
„Ja.“ Ratko Mladić hat seine Kriegsziele erreicht: Bosnien und Herzegowina | |
bleibt in zwischen Serben, Kroaten und Muslimen zerrissen, die serbische | |
Teilrepublik „Republika Srpska“ gäbe es ohne ihn nicht. Darauf ist der | |
Exoberkommandant ganz offensichtlich stolz. | |
Das Plädoyer neigt sich dem Ende zu, noch einmal gerät Ankläger Tieger in | |
Rage. Eine allumfassende Macht habe sich Mladić aufgebaut. Einer Gruppe von | |
Gefangenen erklärte er, ihnen würde nichts passieren, sie könnten gehen, er | |
war gnädig, sagt Tieger. Und hebt die Stimme: In Srebrenica und vielen | |
anderen Orten in Bosnien habe sich der General für die Ermordung der | |
Menschen entschieden. Mladić war Herrscher über Leben und Tod. | |
## Beleidigung der Opfer | |
„Es wäre eine Beleidigung der Opfer – lebend oder tot – und ein Affront | |
gegen die Justiz, eine andere Strafe zu verhängen als die rechtlich | |
schwerstmögliche: lebenslang.“ Tieger verlässt erschöpft das Rednerpult. | |
Im Gesicht von Ratko Mladić regt sich nichts. Seine aus Serbien stammenden | |
Verteidiger packen ihre Papiere zusammen, tuscheln mit dem Angeklagten. Ab | |
Freitag werden sie drei Sitzungstage Zeit haben, auf die Anklage zu | |
antworten. Und selbst wenn sich die drei Richter irgendwann im nächsten | |
Jahr für „lebenslang“ entscheiden, bleibt ihnen die Möglichkeit der | |
Berufung. | |
Der Vorhang im Gerichtssaal senkt sich wieder. | |
8 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Erich Rathfelder | |
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