| # taz.de -- Roman über rebellierende Jugendliche: Flippern verboten | |
| > Politik, Wut und Liebe: Tijan Silas Roman „Die Fahne der Wünsche“ | |
| > behandelt die Gefahr jugendlichen Begehrens für totalitäre Systeme. | |
| Bild: In Tijan Silas Roman ist Flippern eine Flucht. Für die arbeitslosen Jung… | |
| „Tränen ins Feuer“, sagen die Helden dieses Romans, wenn sie ihrer | |
| Bestürzung Ausdruck geben wollen. Vielleicht kann man diese Formel auch mit | |
| „was soll’s“, oder noch etwas expliziter mit „scheiß drauf“ überset… | |
| „Tränen ins Feuer“, sagt sich vielleicht auch Tijan Sila angesichts des | |
| Vorwurfs, seine Protagonisten kämpften nicht mit sich, seine Satire sei | |
| flacher als die Wirklichkeit. | |
| Dabei kann man von Silas zweitem, wieder bei Kiepenheuer & Witsch | |
| erschienenen Roman, „Die Fahne der Wünsche“ (320 Seiten, 22 Euro), viel | |
| lernen, ohne je belehrt zu werden. Etwa über den Zusammenhang zwischen der | |
| Beschwörung der Größe der Nation und der brutalen Unterdrückung des | |
| Einzelnen: „Ihr seid wir und wir sind ihr.“ Über den Zusammenhang von | |
| Männlichkeitswahn, Homophobie, Frauenhass und systemischer Gewalt. Und über | |
| die Sprengkraft, die jugendliches Begehren für Systeme mit | |
| Totalitätsanspruch darstellt – gerade weil solche Regime ihre Kraft aus ihm | |
| beziehen. | |
| Ambrosio, der Ich-Erzähler, berichtet von seiner Jugend in einem | |
| untergegangenen Regime, das sein Land Crocutanien einst fest im Griff | |
| hatte. Crocutanien könnte Jugoslawien nachempfunden sein, dessen Versinken | |
| in einen von nationalistischen Hetzern begonnenen Krieg einer der Gründe | |
| sein mag, dass Tijan Sila solche Romane schreibt. Er wurde 1981 in Sarajevo | |
| geboren und emigrierte 1994 nach Deutschland. | |
| Crocutanien könnte aber auch ein faschistisches Land sein. Die Slogans des | |
| Spiroismus, der in Crocutanien herrscht, bleiben ambivalent, auch wenn die | |
| sozialistische Tradition stärker zu sein scheint: „Arbeit für alle – | |
| Leistung von allen!“ Oder: „Klassenmacht! Klassenmacht! Klassenmacht!“ | |
| Im Zuge eines Putsches, in dem Ambrosio ungewollt eine zentrale Rolle | |
| spielte, konnte er das Land verlassen, um anderswo das zu werden, was er | |
| immer werden wollte: ein gefeierter Radrennprofi. Seine psychisch kranke | |
| Mutter musste er zurücklassen, er hat sie nie wieder gesehen. Sie | |
| verhungerte in einem Pflegeheim des Regimes. | |
| ## Nicht mehr mein Junge | |
| Die psychische Krankheit der Mutter ist eine Allegorie auf die Entfremdung | |
| zwischen Eltern und Kindern während der Pubertät, die in einem totalitären | |
| Rahmen eine totale sein muss. Die Mutter bezeichnet Ambrosio als Geisel. Er | |
| sei „eine Puppe, die man anstiftet, und nicht mehr mein Junge“. Sie | |
| wiederum erscheint dem jungen Mann nach dem Tod des Vaters als unzugänglich | |
| und paranoid. | |
| „Die Fahne der Wünsche“ erzählt also rückblickend über einen Jugendlich… | |
| der sich über seine Leidensfähigkeit beim Radfahren definiert, der sich | |
| verliebt, zum ersten Mal Sex hat und in der angeblichen klassenlosen | |
| Gesellschaft Anschluss an die herrschende Klasse findet, die in ihm aber | |
| nur ein Werkzeug sieht, dessen man sich bedienen kann. | |
| In Crocutanien üben Kommissare und die „Mäntel“, volkstümlicher Begriff … | |
| die Sicherheitsorgane, ihre willkürliche Herrschaft aus. Bald machen sie | |
| Ambrosio durch Gewalt und Erpressung zum Spitzel, der die Untergrundkultur | |
| des Flipperns ausforschen soll. Ambrosio macht mit. Er weiß, was er tut. Er | |
| verrät seine Freunde, aber was soll er machen? | |
| Die sich selbst als „Freie Jugend“ bezeichnenden Jugendlichen teilen sich | |
| in zwei Gruppen. Da gibt es zum einen die „Mobilen“, die sich in | |
| „Squadronen“ zusammenschließen und untereinander bekriegen, und zum anderen | |
| eben jene Kids, die sich dem Flippern verschrieben haben und sich auch | |
| nicht davon abhalten lassen, als Flippern zu einer „besonders schädlichen | |
| Ablenkung“ erklärt und verboten wird. | |
| ## Lungern, trinken, Comics lesen | |
| Die Freie Jugend hält sich an einem Treffpunkt auf, der schlicht „Kopf“ | |
| genannt wird. Es ist eine auf der Seite liegende Plastik des Haupts des | |
| verstorbenen Marschall-Vaters Spiro, auf dem die Jugendlichen herumlungern, | |
| Bier trinken und Comics lesen. | |
| Ein Flügel der Spiroisten lehnt das Denkmal ab, weil es den Eindruck | |
| erwecke, jemand habe Spiro enthauptet. Wer den Kopf einmal auf diese Weise | |
| betrachtet habe, könne ihn fortan nicht anders wahrnehmen. „Orthodoxe Kader | |
| hielten dagegen, dass jedes Bildnis Spiros zuallererst Ehrfurcht gebiete. | |
| Die eigentliche Häresie stellte vielmehr die Vorstellung dar, Spiro sei | |
| geköpft worden. Wie kamen die Kameraden darauf? Spiro war an | |
| Bauchspeicheldrüsenkrebs verstorben, selbst Schulkinder wussten das. Wer | |
| sich Spiros Enthauptung vorstellte, der wünschte sie sich auch!“ | |
| Je nachdem, welche Fraktion gerade das Sagen hat, ist der Aufenthalt der | |
| Teenager auf dem Kopf geduldet oder strengstens verboten. Eine schöne | |
| Satire auf die Lächerlichkeit von Flügelkämpfen, die jede starre Ideologie | |
| irgendwann wie ein Fieber befallen. | |
| Doch es sind die Dynamiken und Regeln von Jugendkulturen, die sich durch | |
| Mode, Musik und eigene Codes von der Erwachsenenwelt lossagen und als | |
| unkontrollierbares Element dem Staat gegenübertreten, die das | |
| Gravitationszentrum dieses Romans bilden und zugleich seine Form bestimmen. | |
| Sila skizziert Protagonisten und Ereignisse drastisch und überzeichnet. Wie | |
| ein Popkünstler tastet er die Oberflächen dieser Welt nach Zeichen ab, die | |
| auf verborgene Konflikte, gefrorene Energien und unterirdische Ströme | |
| verweisen. | |
| Das verwundert nicht, präsentiert sich Tijan Sila selbst der Welt doch als | |
| stets aus dem Ei gepellter Styler, der im Herzen der Punk geblieben ist, | |
| der in den Neunzigern mit seiner Band durch die autonomen Jugendzentren in | |
| Ost und West tourte. Als Berufsschullehrer in Kaiserslautern hat er täglich | |
| mit Jugendlichen zu tun. Des Abends schreibt er mit der coolen | |
| No-Bullshit-Attitude guter Punksongs, also mit mal feinsinnigem, mal krudem | |
| Humor Geschichten, die sich schwer ausdenken ließen, gehörte Sila zu den in | |
| Wohlstand gebadeten Kindern der Upper Middle Class. | |
| Seine Erzählweise hat etwas comichaftes, was aber nicht bedeutet, dass | |
| seine Erzählungen nicht realistisch wären. Auch das Leben von Akademikern | |
| ist banaler, als sie selbst gern glauben mögen. Nicht die Psychologie des | |
| Wachbewusstseins, sondern das Verdrängte und peinlich Berührende erzählt | |
| uns von jenen Dingen, die von Belang sind. | |
| Das zeigte sich schon an Silas drastisch-lustigem Debütroman „Tierchen | |
| unlimited“. Dessen Held erinnert sich an seine Kindheit im von Snipern und | |
| Granaten bedrohten Sarajevo. Jedes Mädchen, mit dem er in Deutschland etwas | |
| anfängt, hat einen Bruder, der Neonazi ist. | |
| In „Tierchen unlimited“ hat sich Sila bereits mit jungen Männern und ihren | |
| Freundschaften, mit den Übergangskrisen der Adoleszenz und mit Deutschlands | |
| kaputtem Gefühlshaushalt beschäftigt. Aber auch mit Männlichkeitsidealen, | |
| die er aus Jugoslawien mitgebracht hat: „Die Erziehung von Grundschülern | |
| sollte das Ethos der Partei spiegeln, und das erschloss sich mir damals nur | |
| in Gegensätzen: oben ein kaltes, lauerndes apollinisches Gesicht, das | |
| Keuschheit, Nüchternheit und Leidensfähigkeit forderte, und darunter ein | |
| triebhafter, dämonischer Torso, der Härte, Kampf, Rivalität und Opfer gut | |
| fand.“ | |
| In seinem neuen Roman kehrt Sila zu dieser Beobachtung zurück. Der | |
| Spiroismus und seine jugendlichen Feinde, die Mobilen, sind sich in einer | |
| Hinsicht bis zum Verwechseln ähnlich: Sie hassen Schwule und sie entäußern | |
| sich am liebsten im Modus der Gewalt. Die Flipperspieler wiederum wollen | |
| nur in Ruhe spielen, müssen aber auf die harte Tour lernen, dass es | |
| unschuldiges Spiel, das immer Weltflucht ist, im totalen Staat nicht gibt. | |
| ## Ein Volk von Brüdern | |
| „Die Fahne der Wünsche“ ist von Klaus Theweleits Studie über den | |
| faschistischen Mann, „Männerphantasien“, inspiriert, in der sich auch die | |
| Formel „Die Fahne der Wünsche, ein rotes Tuch“ findet. Sila zitiert sie am | |
| Ende. Vorangestellt ist dem Roman eine Rede des Marschall-Vaters Spiro an | |
| Schüler der Grundschule Südstadt II: „Ein Volk von Brüdern braucht keinen | |
| Vater, keine Mutter, kein schlechtes Gewissen. Was wir brauchen, haben wir | |
| bereits: euch. Eure Jugend, euren Willen, eure Energie.“ | |
| Tijan Sila hat seinen Theweleit verstanden, und einen so unterhaltsamen wie | |
| klugen Roman geschrieben. So funktioniert Faschismus, ob in seiner | |
| klassischen, massenmörderischen Variante oder als Farce im Gewand des | |
| „Populismus“: Zersetzung des Über-Ichs durch Ideologie und Kitsch, | |
| Pervertierung der Triebenergie. | |
| 30 Oct 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Gutmair | |
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