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# taz.de -- Boxroman „Gemma Habibi“: Der rechte Haken geht durch
> In „Gemma Habibi“, dem neuen Roman des Schriftstellers Robert Prosser,
> wird geboxt und demonstriert. Leider ist das Buch überladen.
Bild: „Gemma Habibi“ ist als Boxerzählung und Gegenwartsroman über Migrat…
Es bedarf wohl kaum besonderer Erwähnung, dass das Boxen jene Sportart ist,
die in der Weltliteratur die prominentesten Auftritte hat. Wirft man mal
ganz kurz nur einige Namen wie Norman Mailer, Ernest Hemingway, Joyce Carol
Oates und Albert Camus in den Ring, weiß eigentlich jeder Bescheid. Wenn
nun also der österreichische Schriftsteller Robert Prosser mit „Gemma
Habibi“ einen weiteren Boxroman vorlegt, so hat er naturgemäß einige
literarische Schwergewichte im Rücken.
Und deshalb stellt man als erstes erleichtert fest, dass Prosser mit
ähnlicher Detailversessenheit und Liebe zum Sujet zu Werke geht wie viele
seiner großen Vorgänger_innen: „Das Schnaufen meines Gegners, tsch tsch
tsch, ich höre das Zischen einer beschleunigenden Lok, doch mein rechter
Haken geht durch, ja, ich spüre die offene Stelle in seiner Deckung, und
sein Kopf schnellt zur Seite, und das Atmen klingt wie ein Winseln, vier
drei zwei, da, der Gong. Wo ist meine Ecke?“, lässt der Autor seinen
Kämpfer denken, ehe dieser halb benommen Richtung Trainer, Wasser und
Vaseline (für die Wunde) taumelt und seinen Zahnschutz ausspuckt.
Der innere Monolog, dem wir hier beiwohnen, ist der des Protagonisten und
Ich-Erzählers Lorenz. Lorenz ist eigentlich ein mäßig ambitionierter junger
Mann, der an der Wiener Universität Deutsch auf Lehramt sowie Kultur- und
Sozialanthropologie im Nebenfach studiert. Anfang 2011, es ist die Zeit vor
dem Krieg in Syrien, reist er aus Neugier nach Damaskus, wo er die deutsche
Fotografin Elena und den syrischen Kurden Zain (alias Z) kennenlernt –
einen Boxer. Dank Z und dank YouTube ist Lorenz mehr und mehr fasziniert
von diesem Sport. Zurück in Österreich, beginnt er selbst zu trainieren.
Robert Prosser, 35 Jahre alt, hat mit seinem Roman-Lorenz gemein, dass auch
er – neben Komparatistik – Kultur- und Sozialanthropologie studierte. Als
Schriftsteller debütierte er 2009, einer größeren Öffentlichkeit wurde er
mit dem Roman „Phantome“ (2017) bekannt, der vom Balkankrieg handelt und es
auf die Longlist des Deutschen Buchpreises schaffte. „Gemma Habibi“ ist
sein fünftes Prosawerk – seinen Titel trägt der Roman, weil Z den
Ich-Erzähler häufig „Habibi“ nennt.
## Gegenwartsroman über Migration
Dass Z aus Syrien stammt, ist dabei natürlich kein Zufall, denn später,
während des Krieges, flieht Z vor dem IS über die Türkei nach Wien – wo die
drei erneut aufeinandertreffen. Sie finden sich wieder in einem Land, das
auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise gespalten ist, sie
besuchen 2015 gemeinsam die „Flüchtlinge Willkommen!“-Großdemo in Wien, e…
zentrales Kapitel im Roman: „Einmal ließ sich Z überreden, Elena und mich
zu begleiten. Der Marsch zählte mehr als hunderttausend, unterm Banner von
Refugees Welcome die Mariahilfer hinab, zur Ringstraße, zum Parlament. […]
Um uns Plakate, Europa ohne Mauer, per Megafon postulierte Forderungen, Es
ist genug für alle da“(kursiv im Original).
„Gemma Habibi“ ist also nicht nur Boxerzählung, sondern auch erkennbar als
Gegenwartsroman über Migration und die Flüchtlingsfrage angelegt. Darüber
hinaus gibt es noch einen dritten Erzählstrang, in dem Elena und Lorenz
nach Ghana reisen.
Lorenz kommt dort mit spirituellen und rituellen Praktiken – einer
nächtlichen Geistesaustreibung – in Kontakt: „Gestalten, die sich im Kreis
bewegen, klatschend, singend, die im Lichtkegel aus der Nacht geholten
Gesichter. Wie die Frau schreit, sich zitternd innerhalb der Gruppe bewegt
und vom Mann umtanzt wird, darin liegt eine Gnadenlosigkeit, die ich als
Besonderheit des Boxens angenommen habe.“
Und damit könnte man nun zum Problem des Buchs überleiten, denn diese
Passage ist ein gutes Beispiel dafür, wie Prosser versucht, einen roten
Faden zu stricken, wo oft keiner ist. „Gemma Habibi“ erzählt vieles
parallel, macht unglaublich viele Diskurse auf: Da ist die Geschichte des
Flüchtlings Z, der sich im Westen langsam, aber sicher zum Profikämpfer
mausert. Da ist Fotografin Elena – mit ihr werden Fragen nach der Ethik der
Dokumentarfotografie aufgeworfen. Da ist Boxlehrer Simon und seine
DDR-Biografie.
## Zu ambitioniert konstruiert
Und da ist neben all dem natürlich auch noch der Ich-Erzähler: Seine neue
Box- und seine alte Literaturleidenschaft (Bolaño taucht da regelmäßig auf
– weil auch in „2666“ Boxen eine Rolle spielt?), seine politische Haltung
(„Mir dagegen wurde vor Augen geführt, wie wenig ich mich im Grunde um
Politik scherte“, sagt Lorenz einmal, als er mit Elena über den
Polizeikessel bei der Demo spricht). Dessen Facetten und Widersprüche
allein hätten eigentlich genug für einen Roman hergegeben.
All dies wird – abgesehen von Simons Ost-Biografie – zwar auch ordentlich
zu Ende erzählt und im Rahmen der Handlung aufgelöst, aber einen
zufriedenstellenden Plot, in dem Sinne, dass man die Figuren, ihre Motive,
ihre Geschichte gänzlich begreift, hat „Gemma Habibi“ nicht. Dazu ist der
Roman zu ambitioniert konstruiert, zu überladen, will zu viel auf einmal.
Das ist in etwa so, als wolle man im Ring eine Gerade, einen Seitwärtshaken
und einen Uppercut zugleich setzen. Und das, ziemlich sicher, konnte nicht
mal der große Ali.
31 Aug 2019
## AUTOREN
Jens Uthoff
## TAGS
Robert Prosser
Literatur
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