# taz.de -- Tonio Schachingers Roman „Nicht wie ihr“: Mit Worten knipsen | |
> Auch Fußballer haben Identitätskrisen. Davon erzählt Tonio Schachinger | |
> mit Wiener Schmäh in „Nicht wie ihr“, nominiert für den Deutschen | |
> Buchpreis. | |
Bild: Hat er noch den Biss, den Torhunger, den es braucht, um in einem Topteam … | |
Ivo ist die Sonne; er ist es gewohnt, dass die Welt sich um ihn dreht. Ivo | |
ist ein Star, einer dieser Fußballer, bei denen Trainer und Kameraden von | |
Anfang an wissen: Er wird einmal ein ganz Großer. Aber nun wird der | |
Profifußballer 27. Vielleicht ist sein Alter die Erklärung für das, was nun | |
in ihm vorgeht. Eine Art Midlife-Crisis. | |
Hat er noch den Biss, den Torhunger, den es braucht, um in einem Topteam | |
wie Everton oder Real Madrid zu spielen? Oder wenigstens in der | |
österreichischen Nationalmannschaft? Und wann fing das eigentlich an, dass | |
die perfekten Brüste seiner Frau Jessy nichts aber auch gar nichts mehr in | |
ihm auslösten? | |
27 ist ja dieses spezielle Alter, in dem Rockstars, die etwas auf sich | |
halten, schon tot sind, und Jungschauspieler, die sich über die Zeit retten | |
wollen, sich neu erfinden müssen. Aber ein Fußballer, der sich mit 27 | |
Jahren noch einmal neu erfindet? Okay, vielleicht schafft das ein Lionel | |
Messi, der sich zum korrekten Zeitpunkt Tattoos stechen und einen Bart | |
wachsen lässt. Aber für Ivo wäre der von Marketingteams ersonnene | |
Imagewechsel gar nichts. Er ist „real“, sozusagen. | |
Ivo ist aber auch der Protagonist in Tonio Schachingers Roman „Nicht wie | |
ihr“. Der Titel ist programmatisch, denn Ivo will alles sein, nur nicht | |
einer dieser typischen Fußballer. Keine Tormaschine, kein perfekt | |
austrainierter Ballzauberer. Nur authentisch, wie der halb österreichische, | |
halb bosnisch-serbische Typ, der er nun mal ist. | |
## Die Familie ist ein Cordon bleu | |
Schachinger lässt die Erzählstimme tief in Ivos Herz und Hirn eintauchen. | |
Beide geraten mächtig durcheinander, als Ivo Mirna wiedersieht. Mirna, mit | |
der er einmal geschmust hat, vor vielen Jahren. Mirna, die unfassbar klug | |
ist, zu klug für ihn, wie er befürchtet. Mirna ist die Versuchung; sie | |
könnte ein furchtbar abgedroschenes Romanklischee sein, ist es aber nicht. | |
Das liegt vor allem an Schachingers Sprache, die eine riesige Portion | |
Wiener Schmäh unter den Text rührt. Da wimmelt es von Wörtern „Oida“ und | |
„ur“ wie sonst nur in den Instagram-Texten von [1][Stefanie Sargnagel.] | |
Vor allem aber quellen ungewöhnlich schief-dichte Metaphern und Gleichnisse | |
aus den Seiten, zum Beispiel dann, wenn Ivo Möwen am Strand beobachtet: | |
„Möwen sind purer Zweck, wie die Passquotenroboter, die das deutsche | |
U21-Team füllen …“ Oder er die Distanz zwischen Mirna und ihm als Styropor | |
beschreibt. Oder seine Familie als Cordon bleu denkt: Er das Fleisch, Jessy | |
der Käse, die Kinder der Schinken, das Haus das Panier. Natürlich sind all | |
das die Bilder, die einem wie Ivo aus dem Schädel purzeln. Deswegen wirkt | |
der Slang nie aufgesetzt, deswegen glaubt man Schachinger, dass einer wie | |
Ivo das Wort „Opfer“ tatsächlich ironiefrei für Studenten in zu engen | |
Shorts benutzen kann. | |
Allein dafür möchte man Schachingers Roman, der auf der [2][Shortlist für | |
den Deutschen Buchpreis steht], den Preis auch tatsächlich in Händen halten | |
sehen. Schachinger, der 1992 in Neu-Delhi geboren wurde und in Nicaragua | |
aufwuchs, studierte in Wien Germanistik und Sprachkunst. Ein Sprachkünstler | |
ist er ohne Zweifel, einer – Achtung, abgedroschener Fußballvergleich! –, | |
der mit Wörtern wie mit Bällen dribbelt und den Leser dabei austanzt wie | |
Messi in seinen besten Momenten. Schachinger ist ein Wortknipser. | |
## Fußballliebe und Fußballerliebe | |
Vielleicht muss der Leser ein wenig Fußballliebe mitbringen, um all die | |
Neuer-Ibrahimović-Maierhofer-Referenzen goutieren zu können. Andererseits | |
sind sie letztlich nur die Eckfahnen, die Ivos Spielfeld abstecken, in dem | |
es am Ende eigentlich und total um die Liebe geht. Oder eben die Angst vor | |
Liebesverlust. Zu gerne wäre Ivo vielleicht einer, der nur ans „Pudern“ | |
denkt, ans Pudern von Jessy und dem Kommen auf ihren perfekten Brüsten, | |
oder eben das Pudern von Mirna, der perfekten Mirna. Aber so einer ist er | |
nicht. | |
Ivo will geliebt und gesehen werden, von Mirna und Jessy genauso wie von | |
den Fans am Feldrand. Er will gesehen werden, als der, der er ist. Kein | |
„Holzgeschnitzter“, aber in manchen, den schlechten Momenten, eben ein | |
echter Schweinskicker. Deswegen verunsichert es ihn so enorm, dass Jessy | |
ihn nicht mehr anblickt wie früher. Deswegen auch lässt ihn die Tatsache, | |
dass Mirna so gänzlich unkompliziert in sein Leben und sein Hotelzimmer | |
tritt, wie einen verknallten Jungen wirken. | |
„Nicht wie ihr“ erzählt aber nicht nur von Ivo als Fußballer; mit Ivos | |
Herkunft tritt auch diese speziell österreichische Bevölkerungsmischung | |
aufs Tableau. Und die Tradition als Vielvölkerstaat, in dem einer wie er | |
solange ein „Tschusch“ ist, bis Erfolg ihm ein ausreichendes Standing | |
verleiht. Ein Tschusch, das ist pejorativ für „Slawe“ oder | |
„Südosteuropäer“. Als Fußballer die Art von Spieler, der solange „eine… | |
uns“ ist, wie er ein erfolgreicher Knipser ist. | |
So geht es Schachinger auch um Fragen der Identität. Was wäre denn, wenn | |
weder Mirna noch Jessy noch die Fans einen wie Ivo liebten? Und wie hell | |
scheint eine Sonne, die von niemandem wahrgenommen wird? All das sind | |
reichlich existenzielle Fragen für einen wie Ivo, der doch ein Player ist, | |
und eben kein Opfer. | |
13 Oct 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Veranstaltungsreihe-in-Berlin/!5601971 | |
[2] /Shortlist-Deutscher-Buchpreis-2019/!5627200 | |
## AUTOREN | |
Marlen Hobrack | |
## TAGS | |
Literatur | |
Österreich | |
Deutscher Buchpreis | |
Fußball | |
Heilbronn | |
Weltliteratur | |
Bienen | |
Robert Prosser | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Roman über postmigrantische Identität: Uneindeutig bleiben | |
Cihan Acar schreibt in „Hawaii“ über die Sinnsuche eines jungen | |
Deutschtürken in Heilbronn. Es geht auch um Identitätszwang und rechte | |
Gewalt. | |
Literaturnobelpreis für Peter Handke: Der Wundersame | |
Der Nobelpreis für Literatur 2019 geht an Peter Handke. Politisch mag er | |
fragwürdig sein, literaturgeschichtlich wird sein Werk überdauern. | |
Norbert Scheuers Roman „Winterbienen“: Summende Rettung | |
Mit „Winterbienen“ setzt Scheuer seine Eifel-Chronik fort. Ein | |
Erinnerungsroman über die Schlussphase des Zweiten Weltkriegs in der | |
deutschen Provinz. | |
Boxroman „Gemma Habibi“: Der rechte Haken geht durch | |
In „Gemma Habibi“, dem neuen Roman des Schriftstellers Robert Prosser, wird | |
geboxt und demonstriert. Leider ist das Buch überladen. |