# taz.de -- Norbert Scheuers Roman „Winterbienen“: Summende Rettung | |
> Mit „Winterbienen“ setzt Scheuer seine Eifel-Chronik fort. Ein | |
> Erinnerungsroman über die Schlussphase des Zweiten Weltkriegs in der | |
> deutschen Provinz. | |
Bild: Die Effizienz eines Bienenstaates lässt sich nicht auf die menschliche G… | |
Am Anfang steht eine undatierte Tagebucheintragung, geschrieben von Egidius | |
Arimond, der in einem Eifeler Bergarbeiterstädtchen wohnt und der die | |
Landschaft seiner Heimat durchaus nüchtern beschreibt, nämlich als eine | |
„Gegend mit kleinen Dörfern inmitten von Magerwiesen, Fichten-, Kiefern- | |
und Buchwäldern, die sich bis zur belgischen Grenze erstrecken“, eine | |
„karge Region“ mit einer aber „üppigen Vegetation, die die Bienen offenb… | |
sehr lieben“. Was so harmlos beginnt, wird sich allerdings zu einer | |
berührenden und vielschichtigen Romangeschichte entwickeln, deren | |
Bilderwelt schon in den ersten Sätzen angelegt ist. | |
Norbert Scheuer, der mit „Winterbienen“ seine literarische Chronik rund um | |
die Eifelortschaft Kall fortsetzt, erzählt von einem unter Epilepsie | |
leidenden Lehrer und Bienenzüchter in den letzten Kriegsmonaten, beginnend | |
im kalten Januar 1944. Die Nazis haben Egidius aus dem Schuldienst | |
entlassen, und so lebt er von Honigverkauf und den Pflanzen in seinem | |
Garten. | |
Außerdem engagiert er sich als erfindungsreicher Fluchthelfer. In | |
umgebauten Bienenkästen transportiert er Juden an die belgische Grenze, auf | |
dass sie in dem besetzten Land untertauchen können. Wenn das Fuhrwerk, das | |
durch die einsamen und zerklüfteten Eifellandschaften zieht, doch mal von | |
Feldjägern oder der Polizei kontrolliert wird, hilft eine außergewöhnliche | |
Tarnmethode. So muss ein ohnehin von der Flucht schon eingeschüchtertes | |
Mädchen noch einmal großen Mut aufbringen, um sich nicht zu verraten. Denn | |
Egidius hat Lockenwickler an der Kleidung festgemacht, in denen jeweils | |
eine Bienenkönigin sitzt. | |
Im Notfall werden die in separaten Boxen mitgeführten Untertanen | |
freigelassen, was zu einem unvorstellbaren Effekt führt: „[1][Die Bienen | |
flogen auf der Suche nach ihrer Königin] in den Kasten, in dem die Kleine | |
hockte. Sie hatten sie bald umhüllt und so unsichtbar gemacht.“ Das rettet | |
dem Mädchen und auch dem Wagenlenker das Leben. Denn Fluchthelfer und | |
Flüchtlinge werden von den verbliebenen Schergen des untergehenden | |
Nazireichs sofort exekutiert. | |
Egidius ist nicht einfach nur ein Held. Er geht das Risiko auch ein, weil | |
er Geld braucht, um sich neue Medikamente zu kaufen. Dass er überhaupt noch | |
lebt und nicht als erbkranker Volksschädling deportiert wurde, hat er | |
wahrscheinlich seinem Bruder Alfons zu verdanken, der sich im NS-System | |
einige Freiheiten rausnehmen kann. Er gilt als besonders verwegener | |
Bomberpilot und hat es mit zahlreichen Abschüssen sogar in die Wochenschau | |
geschafft. | |
## Überall lauert der Tod | |
Doch in den letzten Kriegsmonaten wird der Alltag für Egidius immer | |
schwerer zu bewältigen. Der Kontakt zum Bruder wird spärlicher, und der | |
Apotheker rückt keine Tabletten mehr heraus, mit denen der Epileptiker | |
heftigen Anfällen mit ungewissem Ausgang vorbeugen kann. Außerdem greifen | |
die Kampfflugzeuge der alliierten Truppen nun auch die Provinz an, nachdem | |
die großen Städte in Deutschland weitgehend zerstört worden sind. Überall | |
lauert der Tod. | |
Egidius setzt sich aber noch ganz anderen Gefahren aus, weil er mit | |
verheirateten Frauen Beziehungen eingeht, etwa mit der einsamen Maria, | |
deren Mann an der einbrechenden Front wohl auch ums eigene Überleben | |
kämpft. Allein diese Affäre führt zu Getuschel im Städtchen, was den | |
sinnenfrohen Bienenfreund nicht davon abhält, sich in Charlotte zu | |
verlieben, die Gattin des NSDAP-Kreisleiters, in dessen Ehebett er | |
ebenfalls bald landet. | |
Dass der Erzähler hier selbst wie ein Liebesbienchen auftritt, das von | |
einer Blütenschönheit zur nächsten zieht, gehört zur tieferen Ironie des | |
Romans, in dem moralische Fragen weniger durch eine Grundsatzmoral und | |
vielmehr auf sehr praktische Weise beantwortet werden: Wo die Sehnsucht | |
herrscht, soll auch geliebt werden, Ehe hin, Kirche her. | |
Der Tagebuchautor verrät nicht alles, was er auf seinen Fluchtrouten und | |
Liebesfluchten erlebt, aber was er niederschreibt, ist so bedrückend und | |
abenteuerlich, dass er die Blätter gut in einem Bienenstock verstecken | |
muss. Es entwickelt sich vor allem im letzten Drittel des Romans eine | |
Rasanz, die man dem Buch zunächst nicht zugetraut hätte und die nicht mal | |
zulasten der ausgewogenen Gesamtkonstruktion geht. „Winterbienen“ ist auf | |
so subtile und kluge Weise komponiert, dass es sich lohnt, einzelne | |
Tagebucheinträge nach dem ersten Durchgang noch einmal zu lesen. | |
Scheuers Prosa beeindruckt dabei auf sehr unterschiedlichen Sprachebenen: | |
zum einen mit einer gewitzten und bildstarken Verschränkung der Natur- und | |
Gesellschaftserzählung. In diesem Roman summt und brummt es auf jeder | |
Seite, wobei die Töne des Textes mal bedrohlich und dann wieder | |
sinnstiftend sein können. Ähnlich vielschichtig geht Scheuer mit Gerüchen | |
um, mit dem Duft des Honigs und den sexuellen Lockstoffen, die auf Männer | |
und Frauen gleichermaßen wirken. | |
Als wäre das alles nicht genug, spiegelt sich das innere Erleben des | |
Protagonisten in den Berichten seines Vorfahren, eines Mönchs, der die | |
Bienenzucht in die Familie gebracht hat und es sogar wagte, das Kloster für | |
eine geliebte Frau zu verlassen. | |
## Tagebuchform ist ein Glücksgriff | |
Norbert Scheuer bringt sich schließlich selbst in die Geschichte ein, indem | |
er in einer Danksagung von einer merkwürdigen Begegnung in der Cafeteria | |
eines Supermarktes berichtet: Ältere Herrschaften hätten dem Schriftsteller | |
eine Aktentasche mit den Aufzeichnungen von Egidius Arimond übergeben, und | |
zwar mit der Bemerkung, Scheuer solle doch „endlich mal etwas Gutes über | |
Kall schreiben“. Eine solche Episode ist gut vorstellbar, gehört aber wohl | |
zur Fiktion, in der sich Scheuer als eine Art Herausgeber der | |
Tagebuchblätter ausgibt. | |
Die Tagebuchform erweist sich als Glücksgriff für diesen Roman, denn hier | |
kämpft ein Erzähler mithilfe seiner schriftlich fixierten Gedanken gegen | |
das eigene, krankheitsbedingte Vergessen und schafft dabei ein | |
literarisches Mahnmal der Erinnerung, das weit über sich hinausweist, | |
gerade weil die Differenz von eigener Erfahrung und textlicher Verarbeitung | |
mitreflektiert wird: „Das, was ich notiere, ist nur eine Projektion meines | |
Lebens, es ist weniger und doch gleichzeitig mehr, als ich selbst bin, wie | |
auch die gesprochene Sprache immer mehr ist als ihre schriftliche | |
Wiedergabe, die aber auf der anderen Seite doch vielleicht eine tiefere | |
Wirklichkeit aufzeigt, ebenso wie eine Landkarte niemals die tatsächliche | |
Landschaft selbst darzustellen vermag.“ | |
In solchen Überlegungen scheint nicht zuletzt auch Scheuers Poesie der | |
behutsamen, dann aber auch deutlichen Zeitkritik auf, die nicht nur mit | |
sprachlichen, sondern auch visuellen Mittel entfaltet wird. | |
In dem sorgfältig editierten Buch sind Zeichnungen von Flugzeugen samt | |
Typenbezeichnung und Informationen über PS-Stärke, Bewaffnung und | |
Bombenlast abgedruckt. Auf die Entfernung sehen diese todbringenden | |
Maschinen herumfliegenden Bienen ein wenig ähnlich. Es gehört zu den | |
stilsicher herausgearbeiteten Erkenntnissen dieses preiswürdigen Romans, | |
dass Ähnlichkeiten nicht zu falschen Analogien führen sollten. | |
Die erschreckende und gleichsam notwendige Effizienz eines Bienenstaates | |
lässt sich eben nicht auf die menschliche Gesellschaft übertragen. So ist | |
Überleben eines Bienenvolkes nur gesichert, wenn sich jede Generation ihrem | |
Schicksal fügt. Wenn die Winterbienen ihre Aufgabe erfüllt und in den | |
kalten Monaten für die richtige Temperatur im Stock gesorgt haben, werden | |
sie von den Sommerschwestern aus dem Bienenstaat geschmissen, auf dass die | |
ohnehin geschwächten [2][Tiere dann massenhaft sterben] und von Vögeln | |
gefressen werden. | |
Auch die Vermehrung endet im Bienenreich tödlich, die Königin jedenfalls | |
kennt keine Gnade, wenn sie nach dem Dienst der Männchen zu einem Flug in | |
milder Frühlingsluft abhebt: „Nach der Befruchtung befreit sie sich von | |
ihren Gatten, entreißt ihnen dabei Geschlecht und Gedärme; in der milden | |
Frühlingsluft schweben die leeren Hüllen zu Boden. Wenn die Königin zum | |
Stock zurückkehrt, hängen noch die Eingeweide der letzten Freier an ihrem | |
Hinterleib.“ | |
So brutal das Naturgesetz, so perfekt die innere Ordnung im Bienenstaat. | |
Nimmt der Mensch aber das Leben und Sterben im Tierreich zum Maßstab, um | |
Politik zu machen, sind Chaos, Leid, Zerstörung und Selbstzerstörung die | |
Folge. Das ist selbst einem Bienenfreund wie Egidius Arimond bewusst, der | |
die emsigen Insekten für natürliche Verbündete hält, der aber auch froh | |
ist, dass seine Geliebten nicht so gefährlich sind wie eine Bienenkönigin. | |
Norbert Scheuer hat eine gerade in ihrer Ambivalenz so überzeugende | |
Romanfigur geschaffen, die man so schnell nicht wieder vergisst. | |
24 Sep 2019 | |
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## AUTOREN | |
Carsten Otte | |
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J. D. Salinger | |
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