# taz.de -- Jackie Thomaes Roman „Brüder“: Kommt mal klar, Jungs | |
> Zwei afroamerikaninische Jungs mit DDR-Sozialisation, zwei | |
> unterschiedliche Lebensläufe, viel Verpeiltheit. Davon handelt Jackie | |
> Thomaes „Brüder“. | |
Bild: Hat viel Geduld mit ihren Figuren: Jackie Thomae | |
Mick wird gemocht. Zum Beispiel von alten Männern am Berliner Stadtrand, | |
die er Anfang der neunziger Jahre aufsucht, um ihre alten Schallplatten zu | |
kaufen. Er hat Zeit. Eile beim Geschäft ist seine Sache nicht, er lässt die | |
Händler erzählen und taucht mit ihnen ein in die Jahrzehnte, als sie und | |
ihre Musik jung waren. | |
Sein Charme, seine Attraktivität, seine Lässigkeit, das ist die Karte, die | |
er spielt. Es sind diese Eigenschaften, die Delia, seine Freundin, | |
großzügig darüber hinwegsehen lassen, dass er etwas zu oft in den Betten | |
anderer Frauen liegt. Bis er vergisst, monatelange vergisst, ihr, die gern | |
ein Kind hätte, zu sagen, dass er sich den Samenstrang hat durchtrennen | |
lassen. | |
Psychoaktives Lesen nannte eine Freundin das mal, wenn man die Helden eines | |
Romans gerne schütteln möchte. „Mensch Junge, krieg die Kurve, drück dich | |
nicht länger vor dem Gespräch“, denkt man bei der Lektüre und ahnt dabei | |
schon, das geht vorläufig nicht gut aus. | |
## „Brüder“ auf der Shortlist | |
Mick ist der eine der beiden titelgebenden „Brüder“ in Jackie Thomaes neuem | |
Roman. Sinnkrisen hält er sich lange vom Leib, es gibt ja noch eine Party, | |
einen Club – oder das Joggengehen. Er treibt so dahin, und man treibt gerne | |
mit und das ging wohl auch der [1][Jury für den Deutschen Buchpreis] so, | |
die „Brüder“ auf ihre Shortlist gesetzt hat. So folgt man ihm durch die | |
Jahre 1985 bis 1994 in Westberlin, was sich wie eine Hommage an den | |
Hedonismus der Neunziger liest. | |
Gabriel ist der andere Bruder, sie kennen sich nicht. Ihre Mütter, Monika | |
und Gabriele, waren junge Frauen in der DDR, selbstbewusst und furchtlos, | |
einen Sohn alleine großzuziehen. Ihrer beider Vater, Idris, war ein Student | |
der Medizin, gekommen aus einem der jungen Nationalstaaten Afrikas. | |
Ende der 60er Jahre, zu Anfang seiner Zeit in Leipzig, dachte er selbst | |
nicht, einmal den Erwartungen der DDR zu entsprechen und als gut | |
ausgebildeter Mediziner in sein Land zurückzugehen, vielleicht sogar mit | |
kommunistischer Überzeugung im Gepäck. Bis ihm zu seiner eigenen | |
Überraschung dies wichtiger schien als eine junge Mutter und eine | |
geschwängerte Freundin in Berlin beziehungsweise Leipzig. | |
Von Idris und seinen Verdrängungsleistungen erfährt man im kurzen | |
Mittelteil des Romans, bevor die Handlung von Berlin nach London schwenkt, | |
wo Gabriel ein erfolgreicher Architekt ist. Fast ein Autist, begeistert von | |
Sachthemen, aber schwach in der Kommunikation. Er merkt zum Beispiel nicht, | |
mit welchen Bemerkungen er sein Prestige als sozial engagierter Architekt | |
aufs Spiel setzt. | |
Zum Problem wird das mangelnde Einfühlungsvermögen aber erst, als er | |
zunehmend unfähig wird, sein Gefühlsleben auszubalancieren. In wechselnden | |
Kapiteln blicken Gabriel und seine Frau Fleur auf sein Leben zurück, um zu | |
verstehen, wie er zu dem wurde, was er ist. Ein Ausraster von Gabriel – er | |
attackiert eine junge Frau, die ihren Hund auf sein Fahrrad scheißen ließ – | |
ist der äußere Anlass; der innere aber sein Realitätsverlust, den er nur in | |
der Arbeit kompensieren kann. | |
Vielleicht ist dies das Überraschendste an Jackie Thomaes Roman: Sie hadert | |
nicht mit den Männern, nicht mit der Unzuverlässigkeit von Mick, nicht mit | |
der emotionalen Blindheit von Gabriel, sie liebt sie als Erzählerin mit all | |
ihren Schwächen im männlichen Selbstverständnis, mit ihren Mängeln an | |
Vorstellungskraft sich in die hineinzuversetzen, die sie lieben. Die | |
Autorin sucht auch keine Schuld oder Verantwortung in gesellschaftlichen | |
oder politischen Verhältnissen. Die Charaktere sind schon für sich selbst | |
verantwortlich. | |
## Eine Verdrängungsleistung | |
Das überrascht auch deshalb, weil es eben auch ein Roman über zwei Jungen | |
ist, die, bevor es Begriffe wie Schwarze Deutsche gab, in der DDR als Söhne | |
eines abwesenden, afrikanischen Vaters groß wurden. Fremdenfeindlichkeit in | |
Ostdeutschland ist nicht das Thema des Romans, die Erinnerungen von Mick | |
und Gabriel an ihre Kindheit in der DDR sind mehr von Bindungen an Mütter, | |
Großväter, Tanten geprägt. | |
Zwar erleben Idris – als Student in Leipzig – und Mick – in den | |
Nachwendejahren in Pankow – rassistische Übergriffe, ziehen es aber vor, | |
die nicht zur grundierenden Erfahrung ihres Lebens zu machen. Das ist zwar | |
einerseits eine Leistung von Verdrängung, die ihnen aber andererseits auch | |
ihre Offenheit und Zugewandtheit erhält. Ob diese Konstruktion der | |
Wahrnehmung ihrer Wirklichkeit womöglich auch eine Verklärung ist, um | |
Anpassung zu erleichtern – darüber denken sie nach, aber nur gelegentlich. | |
Die Autorin Thomae ist, wie ihre Protagonisten Mick und Gabriel, Anfang der | |
siebziger Jahre in der DDR geboren und wuchs in Halle auf. Diese | |
Sozialisation spiegelt sich womöglich auch in den selbstbewussten Frauen | |
wieder, die wie Micks Mutter Monika oder seine Freundin Delia im Roman zwar | |
Nebenfiguren sind, aber bei aller Unterschiedlichkeit doch sehr unabhängig | |
von ihrer Umgebung in ihren Urteilen und Wünschen. Nicht zuletzt deshalb | |
folgt man den Geschichten in diesem Roman gerne. | |
8 Oct 2019 | |
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[1] /Shortlist-Deutscher-Buchpreis-2019/!5627200 | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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