# taz.de -- Yoko Tawada über ihren neuen Roman: „Japan schien am Ende der We… | |
> Für ihren Roman „Sendbo-o-te“ hat Yoko Tawada in Fukushima recherchiert. | |
> Die Autorin über fitte Alte, schwache Junge und Geräusche beim Schreiben. | |
Bild: „Ich bin keine Science-Fiction-Autorin“, sagt Yoko Tawada | |
taz: Frau Tawada, in Ihrem Roman „Sendbo-o-te“ kommt der Junge Mumey | |
deformiert auf die Welt. Er kann nicht richtig laufen und auch nicht gut | |
schlucken. Seine Zähne sind brüchig. Sie nennen Fukushima nicht beim | |
Namen, aber Sie hatten die Reaktorkatastrophe beim Schreiben sicherlich | |
vor Augen? | |
Yoko Tawada: Ja, natürlich dachte ich an Fukushima. Aber ich wollte nicht | |
über den Unfall selbst schreiben, sondern über die Folgen eines solchen | |
Unfalls für die Menschen, die in der Umgebung leben. | |
Ihr Roman spielt in einem Japan, das alle Verbindungen zur Außenwelt | |
gekappt hat. Flughäfen und Häfen sind verwaist. Fremdwörter werden | |
vermieden. Selbst der innerjapanische Austausch mit Hokkaido und Okinawa, | |
wo man noch vergleichsweise gut leben kann, ist stark eingeschränkt. Ich | |
hatte den Eindruck, dass der Roman in der näheren Zukunft spielt. So in | |
fünfzig Jahren ungefähr? | |
Nein, eigentlich spielt er schon in der Gegenwart. Aber die habe ich mit | |
etwas Fantasie auf die Spitze getrieben. Ich bin keine | |
Science-Fiction-Autorin. Ich stelle mir nicht vor, wie die Welt in fünfzig | |
oder hundert Jahren aussehen könnte. Das ist etwas für Naturwissenschaftler | |
und für Politiker. Ich schaue mir bloß die japanische Gegenwart an. Dazu | |
gehört Fukushima, aber auch dass die Menschen immer älter werden. Unsere | |
Alten sind fit und wollen nicht aufhören zu arbeiten. Im Vergleich dazu | |
sind die jungen Japaner sehr viel schwächer. Schon die Kinder bleiben | |
meistens im Haus und spielen kaum noch draußen. Wenn man all dies in der | |
literarischen Beschreibung ein bisschen intensiviert, dann ist man auch | |
schon mitten drin in meinem Roman. | |
Sie leben seit 1982 in Deutschland. Zuerst viele Jahre in Hamburg und seit | |
2006 in Berlin. Aber Sie waren zwischendurch auch immer wieder in Japan. | |
Kennen Sie die Gegend um Fukushima? | |
Ja, ich war drei Mal dort, und diese Besuche haben auch den Anlass zu | |
meinem Roman gegeben. Ich hatte das Glück, Leute zu kennen, die wiederum | |
Leute in der Gegend um Fukushima kennen. Deshalb konnte ich die Zone | |
besuchen und mit vielen Menschen dort sprechen. Zum ersten Mal war ich im | |
August 2012 da. | |
Das war ein Jahr nach der Dreifachkatastrophe Erdbeben, Tsunami und | |
Reaktorunfall. Hatten Sie keine Angst vor der Strahlenbelastung? | |
Wenn man bestimmte Dörfer erreichen will, muss man halt an dem ersten | |
Reaktor vorbei. Da hat man keine Wahl. Wenn man in der Nähe des Reaktors | |
ist, dann piept der Geigerzähler wie verrückt. | |
Sie hatten immer einen Geigerzähler dabei? | |
Ich hatte sogar zwei dabei. Es gibt in der Region nach wie vor Gebiete, die | |
niemand betreten darf, und es gibt Gebiete, in die man für ein paar Stunden | |
darf, wenn man dort noch ein Haus besitzt und darin etwas erledigen möchte. | |
Ich kenne Leute, die eine solche Zugangsberechtigung haben, und wir waren | |
dann gemeinsam in ihren Häusern. | |
Sind Sie mit dem Plan nach Fukushima gereist, für einen neuen Roman zu | |
recherchieren? | |
Schon vor meiner ersten Reise hatte ich eine Kurzgeschichte über die | |
Reaktorkatastrophe geschrieben. Aber ich wollte dann doch genauer wissen, | |
wie es dort aussieht. Aber einen konkreten Plan für einen Roman hatte ich | |
anfangs nicht. | |
Diese Erzählung heißt „Fushi no shima“, was man mit „Die Insel der | |
Unsterblichkeit“ übersetzen könnte. Sie ähnelt dem Roman „Sendbo-o-te“ | |
insofern, als sie auch von einem abgeschlossenen Japan erzählt, in dem sich | |
zuvor eine Nuklearkatastrophe ereignet hat. Aber die Erzählerin hält sich | |
im Ausland auf. | |
Die Abgeschlossenheit meines Heimatlandes war mir schon in dieser Erzählung | |
sehr wichtig, denn ich habe sie damals nur von außen schreiben können. Ich | |
war im März 2011 ja nicht in Japan und konnte die Berichterstattung über | |
Fukushima nur von Deutschland aus verfolgen. Ich hatte panische Angst, dass | |
ich nie mehr nach Hause zurückreisen könnte. Japan schien mir plötzlich am | |
Ende der Welt. Dann aber bin ich hingeflogen und habe mir alles angesehen. | |
Deshalb spielt mein Roman „Sendbo-o-te“ auch in Japan selbst. Ich bin mit | |
meinen Figuren vor Ort, und es ist auch klar, dass das Leben in Japan | |
weitergeht. Trotz der Katastrophe. | |
Missgestaltete Kinder wie Mumey in Ihrem Roman gibt es bislang in Japan | |
aber nicht, oder? Von deformierten Schmetterlingen wurde schon berichtet | |
und auch von einem Kaninchen ohne Ohren. Aber noch nicht von entstellten | |
Menschen. | |
Davon habe ich auch noch nichts gehört. Aber die Auswirkungen sind | |
natürlich noch nicht in Gänze absehbar. Um die Folgen zu erforschen, tragen | |
die Kinder in der Fukushima-Region auf Jahrzehnte einen Chip in der | |
Kleidung. | |
Mumey kann schon zu Anfang des Romans nicht gut laufen. Am Ende sitzt er | |
sogar im Rollstuhl. Ist es eine Dystopie, die Sie geschrieben haben? | |
Nein, eigentlich ist es keine Dystopie. Mumey kennt seinen Körper ja gar | |
nicht anders. Er hat auch keine Sehnsucht nach einem sportlichen Körper. Er | |
nimmt sich den Oktopus zum Vorbild. Das ist ein weiches Tier, das sich | |
kriechend bewegt. Mumey kann nicht anders denken. Das geht uns ja auch so: | |
Wir tun und denken auch viele Dinge im Rahmen unserer Wirklichkeit und | |
können gar nicht anders. Deshalb leidet Mumey auch nicht. | |
Und wie reagieren andere japanische Autorinnen und Autoren auf den | |
Reaktorunfall? Auf Deutsch erschienen kürzlich ein „Lesebuch Fukushima“ | |
sowie der neue Roman „Kein schönerer Ort“ von Manichi Yoshimura, der nach | |
einem ominösen Unfall in einem Chemiewerk spielt. Das ist aber sicherlich | |
nur ein kleiner literarischer Ausschnitt, oder? | |
Unmittelbar nach der Katastrophe trauten sich viele Autoren noch nicht | |
richtig an das Thema heran. Inzwischen gibt es aber viel Literatur dazu und | |
auch schon eine literaturwissenschaftliche Aufarbeitung der Texte. Im | |
Gegensatz zum Journalismus braucht Literatur Zeit. Ich gehe deshalb davon | |
aus, dass in den nächsten Jahren noch sehr viel mehr Fukushima-Literatur | |
publiziert werden wird. | |
Lesen Sie, obwohl Sie in Deutschland leben, viel japanische Literatur? | |
Ich muss! Denn ich bin in einigen Jurys, die Nachwuchsautoren fördern. Ich | |
finde aber, dass die junge Generation in ihren Texten meist viel zu enge | |
Räume entwirft. Da spielt sich alles an so begrenzten Örtlichkeiten ab – | |
das ist mir zu privatistisch. | |
Kommt bei Ihnen die Inspiration fürs Schreiben denn auch viel von außen | |
oder vor allem aus Ihrem eigenen Innern? | |
Ich brauche immer beides. Ich schreibe übrigens auch gern zu Hause, aber | |
nach etwa zwei Stunden wird es mir da zu ruhig. Dann gehe ich ins Café, wo | |
ich ein bisschen gestört werde. Schon als Kind war ich immer umgeben von | |
Geräuschen. Die Wohnungen in Tokio sind klein, und die Wände sind dünn. | |
Ständig läuft irgendwo ein Fernseher, und jemand ist am Telefonieren. In | |
dieser Geräuschkulisse habe ich gelernt, mich am besten zu konzentrieren. | |
Ein begrenztes Leben in einem abgeschlossenen Japan wie in „Sendbo-o-te“ | |
ist bei Ihnen eher eine Ausnahme. Meist schicken Sie Ihre Figuren durch die | |
Welt. | |
Ja, das ist auch in der Roman-Trilogie so, an der ich jetzt gerade arbeite. | |
Darin geht es um eine Japanerin, die in Skandinavien studiert. Und stellen | |
Sie sich vor: Auf einmal ist Japan verschwunden! | |
23 Sep 2019 | |
## AUTOREN | |
Katharina Borchardt | |
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