| # taz.de -- Roman über postmigrantische Identität: Uneindeutig bleiben | |
| > Cihan Acar schreibt in „Hawaii“ über die Sinnsuche eines jungen | |
| > Deutschtürken in Heilbronn. Es geht auch um Identitätszwang und rechte | |
| > Gewalt. | |
| Bild: Autor Cihan Acar vor einem Kulturverein in der Ellwanger Straße – am R… | |
| HEILBRONN taz | Plötzlich bleibt Cihan Acar stehen: „Sollen wir uns an die | |
| Regeln halten oder nicht?“ Acar trägt ein T-Shirt in Camouflage-Optik, eine | |
| schwarze Armani-Uhr, Pilotensonnenbrille und eine Umhängetasche von | |
| Eastpak. Der Schriftsteller sieht aus wie ein Rapper. Wir stehen an einem | |
| heißen Septembernachmittag vor einer Fußgängerampel am Heilbronner | |
| Hauptbahnhof, es ist Rot. Zu überqueren ist eine schmale Straße, die | |
| gerade nicht befahren ist. Drei Dutzend Meter entfernt steht aber ein | |
| Streifenwagen, die Sonne reflektiert auf den Scheiben. Man kann nicht | |
| sehen, ob Beamte im Wagen sitzen. | |
| Im Frühjahr hat der 33-jährige Acar nach zwei Sachbüchern über Hiphop und | |
| den Fußballclub Galatasaray Istanbul seinen [1][ersten Roman | |
| veröffentlicht]: „Hawaii“. Damit ist nicht die Inselgruppe im Pazifik | |
| gemeint, sondern eine Siedlung zwischen Industriegebiet und Bahnstrecke im | |
| Norden des baden-württembergischen Heilbronns. In Acars Roman sucht ein | |
| deutschtürkischer Mann Anfang 20, der hier aufgewachsen ist, nach dem Sinn | |
| des Lebens. | |
| Das Tragische: Kemal Arslan sucht schon zum zweiten Mal. Denn eigentlich | |
| hatte er schon einen Traum verwirklicht. Einen, den viele migrantische | |
| Jugendliche träumen: Er hatte es zum Fußballprofi im Heimatland seiner | |
| Eltern geschafft, beim südostanatolischen Club Gaziantepspor. Weil er sich | |
| dort aber bei einem Autorennen verletzt, muss er seine Profikarriere | |
| beenden und nach Hawaii zurückkehren. | |
| Das Gebiet zwischen Ellwanger Straße und Christophstraße hat keinen guten | |
| Ruf: In den 1920ern kaufte die Stadt hier Baracken, in denen vorher | |
| Kriegsgefangene untergebracht waren. In der Nachkriegszeit entstanden die | |
| Wohnhäuser, die hier heute noch stehen. Warum die Siedlung den Namen Hawaii | |
| trägt, darüber gibt es nur Theorien: etwa dass der Name ironisch gemeint | |
| sei, weil die Inselgruppe paradiesisch, die Siedlung aber das Gegenteil | |
| sei; oder dass sich amerikanische Soldaten den Namen ausgedacht hätten. | |
| ## Mehr als Selbstmitleid | |
| Ende der 1980er Jahre wurde Hawaii jedenfalls durch eine Stern-Reportage | |
| als „Heilbronner Slum“ bekannt, wo die „Stammkunden des Sozialamts“ woh… | |
| [2][die Heilbronner Stimme nennt die Siedlung „Die Bronx von Heilbronn“]. | |
| Hawaii ist umzingelt von Metallfabriken, Küchenmöbelhäusern und | |
| Autowerkstätten. Wenn man hier durchläuft, dann ist der Spaziergang aber so | |
| unspektakulär wie durch viele andere unterschichtige bis durchschnittliche | |
| deutsche Siedlungen. | |
| Die meisten Häuserfassaden sehen relativ frisch aus, von einem Spielplatz | |
| unter saftiggrünen Baumkronen dringen türkische Wortfetzen auf die Straße. | |
| Aber auch zwei problematische Organisationen sind hier beheimatet: Vor | |
| einer Moschee des islamistischen Verbandes Milli Görüş stehen Männer auf | |
| einer Terrasse und trinken Tee; um die Ecke sitzt ein Verein der | |
| ultranationalistischen „Grauen Wölfe“. | |
| In Acars Roman versucht eine Gang von Türstehern und Boxern namens „Kankas“ | |
| (von „kan kardeşler“, auf Deutsch „Blutsbrüder“) Kemal zu rekrutieren… | |
| selbst hat nie in Hawaii gewohnt. Aufgewachsen ist er in der 15 Kilometer | |
| entfernten Gemeinde Oedheim. „Ich war zuerst unsicher, ich wollte mit dem | |
| Buch nicht die Klischees über dieses Viertel bedienen“, sagt Acar. Die | |
| Leute in Hawaii, die er nach dem Erscheinen gesprochen habe, hätten sich | |
| aber über das Buch gefreut. | |
| Kemals zweite Sinnsuche hat ihr Faszinierendes, weil adoleszent-aufregend | |
| und existenzialistisch-verzweifelt. Sie ist aber [3][auch ein | |
| abgedroschenes männliches Motiv, bekannt von Hesse, Bukowksi, Fauser]. | |
| Immer hält sich ein einsamer Wolf, zu dem das Leben ein Arschloch ist, | |
| apathisch an diesem Leben fest, in dem er unter Alkohol- und Drogeneinfluss | |
| oder durch Affären doch mal Hoffnung empfindet, die dann schnell wieder | |
| verschwindet. Es geht darum, auf die Fresse zu fliegen und wieder | |
| aufzustehen, ums Nichtverstandenwerden. Aber Acar bietet mehr als | |
| Selbstmitleid. | |
| ## Suche nach politischer und alltäglicher Zugehörigkeit | |
| Die universelle Suche mischt sich mit einer partikularen: Kemals Suche ist | |
| die eines Menschen nach politischer und alltäglicher Zugehörigkeit, dessen | |
| Eltern in einem anderen Land aufgewachsen, als Arbeiter:innen nach | |
| Deutschland gekommen sind. Und diese Suche ist notwendig politisch, weil | |
| sie den Suchenden durch Ausgrenzung und Ungleichheit führt. Die | |
| Gesellschaft, in der er lebt, sagt ihm: Du bist anders. Irgendwann sagen | |
| die eigenen Eltern: Du bist anders geworden. | |
| Acar beschreibt das bei unserem Spaziergang auf der Neckarmeile so: „Man | |
| ist eigentlich Teil der Mehrheitsgesellschaft, aber man hat noch einen | |
| anderen Teil, der nicht dazu gehört.“ Das Problem, auf das man in seinem | |
| Roman trifft, fängt da an, wo man sich entschließt, an dieser | |
| Uneindeutigkeit festzuhalten; wo man nicht den einfachen Weg geht, sich nur | |
| mit der einen oder anderen Seite zu identifizieren; wo einem türkische | |
| Freunde vorwerfen, zu gut in der Schule und damit assimiliert zu sein, in | |
| jener Schule, in der andere einem ständig die eigene Andersartigkeit unter | |
| die Nase reiben. | |
| Am „Dönereck“, einer Fußgängerkreuzung mit drei Dönerbuden, sagt Acar b… | |
| einem Dönerteller: „Ich wollte mich nicht von irgendeiner Gruppe | |
| vereinnahmen lassen.“ Aber was macht man dann, wenn man damit am Ende des | |
| Tages alleine dasteht? Acar sehe das gelassen, jeder müsse seinen eigenen | |
| Umgang damit finden. Eine wirkliche Antwort hat auch er nicht. | |
| In „Hawaii“ erlebt das Kemal mit seinen Freunden. Hakan sagt, er hätte den | |
| Nazi, der auf der Neckarmeile mit einem Messer einen Mann davongejagt hat, | |
| „kaputtgeschlagen“. Kemal sagt, er hätte „wohl nix gemacht“, weil er n… | |
| kämpfen könne. | |
| Hakan antwortet: | |
| „Du hast zu wenig Stolz, Kemal.“ | |
| Emre, der andere Freund, sagt: | |
| „Aber er hat schon recht, Kemal, irgendwas lieben die Deutschen an dir. Wie | |
| machen sie immer, wenn sie ihn sehen? Ha Kerle, Keeemal, lebsch noch? | |
| Letzscht Woch war Hüttegaudi, warum bisch net komme?“ | |
| Und Hakan äfft Kemal nach: | |
| „Servus Harald, ha du, da hab i schaffe müsse, weisch!“ | |
| Dabei merkt Kemal immer wieder, dass er selbst dann kein Deutscher sein | |
| könnte, wenn er das wollte. Einer von den „Kankas“ zeigt ihm ein Video, in | |
| dem ein Mann mit blutigem Messer in der Hand erzählt, er habe gerade einen | |
| „Ausländer“ abgestochen: | |
| „Ich konnte nichts mehr sagen. Aber ich spürte auf einmal diese Wut. | |
| Richtige Wut, die in meiner Magengegend aufstieg wie eine schwarze Wolke, | |
| die sich ausbreitete in mir und meine Hände zu Fäusten werden ließ.“ | |
| ## Ein Buch über deutsche Verhältnisse | |
| Acar redet nicht viel, und für einen Debütanten aus der schwäbischen | |
| Provinz tut er ein bisschen zu geheimnisvoll. Wenn man mit ihm in seinem | |
| schwarzen Polo durch Heilbronn fährt, erzählt er Anekdoten, aber er | |
| vermeidet Details, als wolle er seinem Helden Kemal mit seiner eigenen | |
| Geschichte nicht die Show stehlen. Vielleicht mag er aber auch nicht zu | |
| viel von sich erzählen, weil er nicht der nächste deutschtürkische | |
| Schriftsteller, sondern einfach Schriftsteller sein möchte und seine | |
| Geschichte deshalb keine große Rolle spielen soll. | |
| Vom Steuer aus zeigt er auf Orte des Romans: die Heilbronner | |
| Theresienwiese, wo der NSU die Polizistin [4][Michèle Kiesewetter | |
| erschossen] hat; er erzählt von einer selbsternannten Bürgerwehr, die sich | |
| 2016 in Heilbronn gegründet hat, das Vorbild für die fiktive rechtsextreme | |
| Gruppe „Heilbronn, wach auf“ in seinem Roman; an der Kilianskirche erzählt | |
| er, wie hier ein Mann auf Geflüchtete eingestochen hat. Mit einem | |
| Küchenmesser [5][verletzte ein 70-Jähriger im Februar 2018 drei Personen]. | |
| Im Roman kommt es irgendwann zu Straßenkämpfen. Und je mehr es eskaliert, | |
| desto schwerer lastet der Identitätszwang auf Kemal. | |
| Ist „Hawaii“ ein politischer Roman? „Nicht in erster Linie“, sagt der | |
| Autor. Es sei ihm aber bewusst, dass Politik ein wichtiger Aspekt in der | |
| Geschichte sei, erzählt Acar, der sich bald auf sein erstes juristisches | |
| Staatsexamen vorbereiten möchte. | |
| Sein Beispiel zeigt aber auch, dass ein Roman, der in Deutschland | |
| erscheint, gar nicht unpolitisch sein kann, wenn ihn ein deutschtürkischer | |
| Autor schreibt. [6][Die Brandanschläge der 90er], die Morde des NSU, die | |
| AfD, diese Dinge habe er schon mitbekommen – und verarbeiten wollen. | |
| „Hawaii“ sei deshalb auch ein Buch über deutsche Verhältnisse, nicht nur | |
| über Heilbronn. Wer darf in Deutschland Individuum sein? Wer hat die | |
| ökonomischen Mittel dafür? Und können Menschen anders und trotzdem | |
| gemeinsam sein? Diese Fragen verhandelt „Hawaii“, und von ihnen hängt auch | |
| der soziale Frieden der Bundesrepublik ab – nicht davon, ob jemand bei | |
| Rot über die Straße geht. | |
| Cihan Acar: „Hawaii“. Hanser Berlin, 2020. 256 S., 22 Euro | |
| 12 Oct 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.stimme.de/heilbronn/kultur/artikel/Das-Heilbronner-Hawaii-Viert… | |
| [2] http://stimmeonline.pageflow.io/das-hawaii-von-heilbronn#97002 | |
| [3] /Joerg-Fauser-Gesamtausgabe/!5606963 | |
| [4] /Gedenken-der-NSU-Opfer-in-Zwickau/!5635531 | |
| [5] https://www.spiegel.de/panorama/justiz/heilbronn-senior-sticht-auf-fluechtl… | |
| [6] /Brandanschlag-in-Solingen/!5505947 | |
| ## AUTOREN | |
| Volkan Ağar | |
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