# taz.de -- Alltag junger Flüchtlinge: Diese erdrosselnde Langeweile | |
> Unser Autor unterrichtet Flüchtlinge. Einst war er selbst einer. Zwei | |
> Jahre nach Merkels „Wir schaffen das“ zieht er Bilanz: alles wie in den | |
> 90ern. | |
Bild: Wie sollen sich Schüler mit Traumata in ein Klima einfügen, das selbst … | |
Ich kam 1994 als Kriegsflüchtling aus Bosnien, doch seit diese neue | |
„Flüchtlingskrise“ das Bewusstsein der Deutschen beherrscht, bekomme ich | |
immer wieder zu hören, ich sei kein richtiger Flüchtling. | |
Gesagt wird mir das von Arbeitskolleginnen und -kollegen, von Bekannten und | |
sogar von Taxifahrern oder Handwerkern. Übrigens geht in keinem der Fälle | |
der Dialog von mir aus, mein Akzent gibt ihm Anlass. | |
Man erklärt mir folgendermaßen, wieso ich kein „richtiger Flüchtling“ se… | |
Ich würde aus dem ehemaligen Jugoslawien stammen, und das ehemalige | |
Jugoslawien gehöre ganz klar zu Europa. Für meine Gesprächspartner gelten | |
als „richtige Flüchtlinge“ all jene, die nicht aus Europa kämen, sondern | |
fremde Kulturen mitbrächten – das sei schließlich etwas ganz anderes. Nach | |
dieser Erklärung werde ich immer angestarrt, als sollte ich mich über ein | |
Kompliment freuen. Man hat mich schließlich zum Europäer geadelt. | |
Ich verzichte in der Regel darauf zu erklären, wie wenig das Gesagte | |
stimmt: Wäre Jugoslawien für Deutsche so selbstverständlich Europa, würden | |
sie es nicht mit ihren Balkan-Partys und ihrer Liebe zu Kusturica-Filmen | |
andauernd exotisieren. Wären meine Eltern, mein Bruder und ich | |
selbstverständlich willkommene Europäer gewesen, hätte uns die Aussicht auf | |
gewisse Amtsbesuche nicht in lähmende Panik versetzt. | |
## Ein Akne-eitriger Alptraum | |
Und was fremde Kulturen angeht: Ich hatte vor meiner Ankunft in Deutschland | |
jahrelang an Indoktrinierungsprozessen eines sozialistischen Regimes, das | |
Deutschland brennend verachtete, derart begeistert teilgenommen, dass mir | |
sein Scheitern tragisch und überraschend erschien. | |
Die kapitalistischen Verlockungen der Bundesrepublik – damit meine ich vor | |
allem die Möglichkeit, nach der Schule Super Nintendo im Kaufhof spielen zu | |
können – bekamen mich natürlich schon am ersten Schultag rum, aber | |
trotzdem: Von der Anlage her war ich der Akne-eitrige Alptraum aller | |
Integrationsskeptiker. | |
Auf all diese Erklärungen verzichte ich, weil jene, mit denen ich spreche, | |
sie gar nicht hören wollen. Sie wollen eigentlich überhaupt nicht mit mir | |
sprechen. Vielmehr versuchen sie, mich abzuzirkeln – ich erscheine ihnen | |
harmlos und soll mit einem Scheinkompliment ruhiggestellt werden, damit ich | |
mich nach Möglichkeit nicht mit jenen solidarisiere, die sie fürchten und | |
die heute das Gleiche durchmachen wie ich in den neunziger Jahren. | |
Manchmal tun mir meine Gesprächspartner leid – ihre Furcht vor Menschen wie | |
mir hat sie regelrecht unterworfen. Und ich versuche sie ihnen zu nehmen. | |
Ich erkläre, dass alle geflüchteten Schüler, denen ich in meinem Alltag als | |
Lehrer begegne, ihre Abende nicht in umstürzlerischem Eifer, sondern in | |
erdrosselnder Langeweile verbringen, auf Entscheidungen von Ämtern wartend. | |
Und das galt auch für mich. Das hauptsächliche Gefühl eines Flüchtlings ist | |
nicht Zorn, sondern schrecklicher Verdruss. | |
## Asymmetrische Machtverhältnisse | |
„Alles, wirklich alles an der heutigen Situation der Flüchtlinge in | |
Deutschland ist so, wie es schon immer war!“, sage ich beherzt. Auf diese | |
Antwort hin setzen meine ohnehin besorgten Gesprächspartner Masken geradezu | |
ekstatischer Besorgnis auf: Wie es mit denen an der Schule klappe? | |
Obwohl besorgte Deutsche sowohl im Alltag wie im Erinnern Schulen und | |
Lehrkräften nur selten ohne Groll und Verachtung begegnen, werden sie im | |
Gespräch über geflüchtete Schüler auf einmal ganz weich vor Mitgefühl und | |
Solidarität mit der alten Institution. | |
Ich habe immer noch nicht herausgefunden, ob das bloß eine Nummer ist oder | |
ob ihre Furcht vor Muslimen wirklich schwerer wiegt als ihr Hass auf einen | |
Berufsstand, der in den Sommerferien nicht arbeitet, und einen Ort, der | |
ihrer Meinung nach gefährliche Lügen (Literatur, Ethik, Grundgesetz, | |
Menschenrechte usw.) lehrt. | |
Und dennoch ist die Frage, wie die Beschulung eines traumatisierten | |
Jugendlichen mit Fluchterfahrung klappen soll, gerechtfertigt. Schulen sind | |
Orte asymmetrischer Machtverhältnisse, an denen von jungen Menschen ein | |
Ausmaß an Unterordnung gefordert wird, das ihnen nach der Schule nicht | |
wieder begegnen wird. Wie sollen sich Schüler mit Traumata in ein Klima | |
einfügen, das selbst Schüler ohne Traumata herausfordernd finden? | |
## Verletzungen der Ehre | |
In meinem Endzeugnis der neunten Klasse stand, ich verfüge über eine gering | |
ausgebildete Impulskontrolle und hohe Aggressivität. Beides stimmte. Ich | |
verbrachte die Mittelstufenjahre als Gefangener von Verhaltensweisen, die | |
aus meinem Kriegstrauma sprossen: | |
Ich stritt, tobte und prügelte mich ungehemmt. Was auch immer mich dazu | |
drängte, Beiläufigkeiten als grobe Verletzungen meiner Ehre zu betrachten, | |
besaß die Macht, sich mit Leichtigkeit über meine Versuche der | |
Selbstkontrolle hinwegzusetzen. Ich begann jeden Tag mit dem Vorsatz, Ärger | |
zu vermeiden – und scheiterte. | |
Die Ergebnisse dieses Scheiterns spannten vom Tragikomischen (einmal brach | |
ich in Schreitränen aus, als ich im Basketball ausgewechselt wurde) bis zum | |
Furchtbaren (im Rahmen einer Schulfahrt nach Nürnberg prügelte ich mich mit | |
dem Lehrer eines Gymnasiums aus Frankfurt an der Oder). | |
Keiner der geflüchteten Schüler, welche die Schule besuchen, an der ich | |
arbeite, verhält sich auch nur annähernd so spektakulär wie ich einst. Für | |
sie gilt aber ebenso, dass die Schule der zentrale Ort ihrer Dekompression | |
ist – und der erste Ort der Partizipation in der neuen Umgebung. Auch für | |
sie sind Lehrer (in unterschiedlichem Ausmaß überforderte) Begleiter | |
innerer Stabilisierungsprozesse. | |
Seit den neunziger Jahren hat sich auch an der Eingliederung geflüchteter | |
Kinder ins deutsche Schulwesen wenig verändert: Es gibt mehr Sprachkurse | |
als damals, doch der Übergang in den Regelunterricht ist komplex geblieben. | |
Der Spracherwerb verläuft von Kind zu Kind unterschiedlich schnell, bei | |
manchen ist er linear, bei anderen sprunghaft. Dennoch möchte man Kinder | |
bei Gleichaltrigen unterbringen. | |
Unverändert bleibt auch, dass diese die neuen Mitschüler manchmal mit bösem | |
Argwohn erwarten. Als ich 2015 zum ersten Mal einen jungen Flüchtling in | |
meine Klasse einführen sollte, war ich von der Intensität der Abgrenzung | |
durch einzelne deutsche Schüler wenig überrascht; sie war mir aus meiner | |
Jugend bekannt. | |
## Pogromgeiler Mob | |
Meine Familie hatte das Pech, ausgerechnet nach Mannheim zu kommen, wo im | |
Mai 1992, genau zwischen Hoyerswerda und Rostock, ein Mob von Hunderten | |
Pogromgeilen im Viertel Schönau über Tage die dortige Flüchtlingsunterkunft | |
belagert hatte. Sie waren fälschlicherweise überzeugt gewesen, einer ihrer | |
Bewohner hätte eine Sechzehnjährige vergewaltigt. | |
Es war daher traditionsgemäß, dass es unter meinen Mitschülern auch jene | |
gab, die Flüchtlinge hassten und ein Bedürfnis hatten, dies zu zeigen. Die | |
weite Mehrheit der Deutschen, denen ich begegnete, war jedoch mitfühlend | |
und solidarisch. Dieser weiten Mehrheit verdanke ich nahezu alles. | |
Ähnlich verhielt es sich mit meiner Klasse und dem Flüchtlingsjungen, der | |
zu ihr hinzustieß; die Hartherzigen wurden schnell verdrängt. Sie durften | |
aber zuletzt lachen, denn der junge Mann wurde sechs Wochen nach seinem | |
Eintritt in die Klasse abgeschoben. Einige Schüler, die sich in dieser Zeit | |
mit ihm angefreundet hatten, skypen regelmäßig mit ihm. | |
Als vieles darauf hindeutete, dass meine Familie und ich 1998 abgeschoben | |
werden sollten, tauschte auch ich damals E-Mail-Adressen mit | |
Klassenkameradinnen und -Kameraden. Alles beim Alten. | |
In letzter Zeit liest man immer wieder, Geschichte wiederhole sich nicht, | |
sie reime sich vielmehr. Ich vermute, das soll weise klingen, aber es | |
überzeugt mich nicht. Vielleicht kommt es ja auf die Geschichte an. Falls | |
ich aber falsch liege und sie sich nicht wiederholt, sondern tatsächlich | |
bloß reimt, so finde ich, dass es im besten Fall ein Reim dieser Art ist: | |
Als ich kam, waren nicht alle weltoffen | |
Doch egal, heute steht mir die Welt offen. | |
30 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Tijan Sila | |
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