# taz.de -- Die Wahrheit: Anstoßen im Café | |
> Tagebuch einer Seelenverwandten: Der gebeutelte Mensch trägt seine | |
> Traurigkeit frühmorgendlich ins Café. | |
Bild: Verzichtete auf ihren eindeutig weiblichen Vornamen Lula und ließ den zw… | |
Vor einem längeren Marsch durchs novemberliche Berlin ist es ein Ritual, | |
sich im Stammcafé des Vertrauens mit einem extragroßen Kaffee zum Mitnehmen | |
auszurüsten. Während man mit der Bedienung über den Lärm des Dampf | |
speienden Automaten hinweg plaudert, Auftritt eines Kiezbewohners, etwa | |
Mitte Sechzig, Typ Spät-Rock-’n’-Roller. | |
„Schönen juten Tach. Is heute nich draußen?“ Bedienung: „Wat is mit | |
draußen?“ – „Na sitzen.“ – „Ach so. Nee. Is ja nu zu kalt. Da ham … | |
eingedeckt, will ja keiner freiwillig draußen. Woll’n Sie etwa?“ – „Ne… | |
„Also, drinnen is Platz.“ | |
Der Mann macht keine Anstalten, sich irgendwo niederzulassen, der Mann will | |
reden: „Früher hat hier ja immer die X jesessen.“ Es fällt der Name einer | |
deutschen Darstellerin, die in den fünfziger Jahren Kinderstar war, danach | |
abwechselnd berühmt und vergessen wurde, inzwischen ist sie verstorben. | |
Die Bedienung sucht Zuflucht bei der Kundin: „Wollen Sie Zucker rein? Weil, | |
dann mach ick noch keen Deckel druff.“ Der Mann lässt nicht locker: | |
„Wussten Sie det?“ – „Wusst ick wat?“ – „Na, det mit der X. Det d… | |
immer jesessen hat.“ – „Nee.“ – „Die hat ja immer schon morgens jes… | |
Übrigens auch die Y.“ | |
Es fällt der Name einer anderen deutschen Darstellerin, ein Fernsehstar der | |
siebziger Jahre. Die Bedienung zählt ostentativ desinteressiert Schrippen | |
in eine Tüte. Der Mann wippt auf den Fußballen und schielt nach Opfern, die | |
Wahl fällt auf die Kundin, die im Begriff ist aufzubrechen. Der Mann reißt | |
galant die Tür auf und folgt nach draußen. | |
„Und? Ham Sie det jewusst?“ – „Hm.“ Eifrig tippelt er nebenher. „Di… | |
hier jewohnt, ne? Direkt um die Ecke, in der Mommsen.“ – „Hmhm.“ – �… | |
dann morgens schon …“ Eine Geste illustriert die Aufnahme von | |
Flüssignahrung. „Die Y auch. Die ham ja zusammen jesoffen. Hat auch hier | |
jewohnt.“ – „Zusammen mit der X?“ – Der Schritt des Begleiters stockt. | |
„Wat? Nee! Also, die ham nur im Café zusammen! War’n ja beide arbeitslos, | |
hatten allet verloren. War ja auch traurich jewesen.“ Ende der Moritat, er | |
zieht von dannen. | |
„Die Ballade vom traurigen Café“ hat die wunderbare amerikanische | |
Schriftstellerin Carson McCullers eines ihrer Bücher genannt, und auch der | |
Roman mit dem schönsten aller Titel, „Das Herz ist ein einsamer Jäger“, | |
stammt von ihr. Hat auch sie des Morgens im Café gesessen und das ein oder | |
andere Alkoholische konsumiert? | |
Mag sein, es würde einen nicht wundern. Verbürgt ist jedenfalls, dass sie | |
zweimal denselben Mann heiratete, und dass das Leben es nicht gut mit ihr | |
meinte. Schon als junge Frau Rheuma, später Schlaganfälle, Lähmungen, | |
Rollstuhl, Tod mit nur 50 Jahren. | |
Der Mensch, besonders der Gebeutelte, trägt, wenn früh die Kneipen noch | |
geschlossen haben, seine Traurigkeit eben ins Café, dorthin, wo Herzen, die | |
viel aushalten mussten und keine Kraft zum einsamen Jagen mehr haben, schon | |
morgens mal einen hinter die Binde kippen. Wenn sie Glück haben, finden sie | |
anstelle mitteilungswütiger Dampfplauderer einen mittrinkenden Soulmate. | |
Darauf stoßen wir an. | |
27 Nov 2014 | |
## AUTOREN | |
Pia Frankenberg | |
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