| # taz.de -- Leben in Paris in den 1920ern: Dann wieder Krieg | |
| > Zu Unrecht vergessen und zum Glück wiederentdeckt: Elliot Pauls | |
| > wunderbare Reportagen schaffen ein Panorama der Stadt. | |
| Bild: So sieht es heute in der Rue de la Huchette, Paris, aus | |
| Am 22. August 1927 wurden die Anarchisten Sacco und Vanzetti, „ein | |
| redlicher Maurer und ein armer Fischverkäufer“, im Bundesstaat | |
| Massachusetts wegen eines Raubüberfalls, den sie nicht begangen hatten, | |
| hingerichtet. Der Prozess, der sich sieben Jahre lang hinzog, war einer der | |
| ersten, der eine riesige Solidarisierungswelle für die Angeklagten auf der | |
| ganzen Welt auslöste. | |
| Damals lebte der US-amerikanische Journalist Elliot Paul in der Pariser Rue | |
| de la Huchette, einer kleinen Seitenstraße des Boulevard St. Michel ganz in | |
| der Nähe der Seine. Er fühlte sich zutiefst einsam und schämte sich, denn | |
| die Leute aus dem Viertel hatten sich in einer kleinen Bar getroffen und | |
| warteten auf die Bestätigung des Todesurteils. Ein Austernverkäufer, ein | |
| Milchhändler, der „sanfte kleine Jean“, die Bordellbetreiberin Mariette, | |
| die „ganz in Schwarz gekleidete“ Magistratsangestellte Hortense Berthelot | |
| und eine „versoffene Alte, die glaubte, sie singe wie Yvette Guilbert“. | |
| Alle warten gebannt auf Nachrichten, bis der Barbesitzer von einem | |
| Telefonapparat an der Ecke zurückkommt, um die Hinrichtung der beiden zu | |
| bestätigen, während eine empörte Menschenmenge auf dem Boulevard de | |
| Sébastopol gusseiserne Laternenpfähle herausriss und Schaufenster von | |
| Geschäften zertrümmerte. | |
| Das war zu einer Zeit, als die Dritte Republik sechs neue Kriegsschiffe | |
| bauen ließ, ständig Friedensabsichten bekundete, einen Kriegsächtungspakt | |
| mit den USA abschloss und die spanische Republik den Faschisten überließ. | |
| Aber die Leute in der Rue de la Huchette waren nicht so leicht hinters | |
| Licht zu führen: „Wenn man so viel vom Frieden redet, dann bekommen wir | |
| bestimmt wieder Krieg“, sagte der Barbesitzer, und er hatte recht. | |
| Von diesem Einfluss großer Politik und großer Ereignisse auf das Leben | |
| kleiner Leute berichtet auf großartige Weise das zu Unrecht als Roman | |
| annoncierte Buch Elliot Pauls „Das letzte Mal in Paris“, denn es sind eher | |
| Erzählungen und Reportagen. 1942 erschienen, kam es zwei Jahre später unter | |
| dem etwas pittoresken Titel „Die kleine Gasse“ auch auf Deutsch im | |
| Exilverlag Bermann-Fischer in Stockholm heraus. Der Maro Verlag hat den zu | |
| Unrecht vergessenen Elliot Paul wiederentdeckt und in der leider etwas zu | |
| zurückhaltend überarbeiteten Übersetzung von Ludovica Hainisch-Marchet | |
| wieder aufgelegt. | |
| Elliot Paul war einer der amerikanischen Schriftsteller und Journalisten, | |
| die es wie Hemingway Anfang der 20er Jahre nach Paris zog. Er arbeitete | |
| damals für die internationale Ausgabe der Chicago Tribune, gab das | |
| Literatur-Journal Transition heraus, war mit James Joyce befreundet und | |
| Gertrude Stein eng verbunden. Anfang der 30er Jahre lebte er ein paar Jahre | |
| lang zurückgezogen auf Ibiza, bis ihn der Bürgerkrieg in Spanien zwang, | |
| wieder nach Paris zurückzukehren, wo er ein völlig verändertes, politisch | |
| unerträgliches Klima vorfindet, weil die Rechten sich im Aufwind befinden. | |
| ## Provinziell, sparsam, großzügig und trinkfest | |
| Als sich ein deutscher Panzer in der Rue de la Huchette verirrt, wird es | |
| für Elliot Paul Zeit, sein geliebtes Paris zu verlassen und nach Amerika | |
| zurückzukehren. Er arbeitet für Hollywood, schreibt Drehbücher, unter | |
| anderem für „Rhapsody in Blue“, und tritt manchmal in der Umgebung von Los | |
| Angeles als Pianist auf, um sich über Wasser zu halten. 1958 stirbt er und | |
| hinterlässt ein umfangreiches Werk. | |
| Elliot Pauls Beobachtungen des Pariser Lebens auf den Straßen erinnert an | |
| Franz Hessels Spaziergänge in Berlin, aber Elliot Paul ist näher an den | |
| Leuten, er sieht sich nicht bloß als distanzierter Beobachter, er ist | |
| politisch wach und steht sozialem Unrecht nicht gleichgültig gegenüber. Der | |
| Zufall führt ihn 1923 zum ersten Mal in die Rue de la Huchette, zu einer | |
| Zeit, als „es einem noch vergönnt war, ein wenig in den Tag hineinzuleben“. | |
| Er verliebt sich in die Gasse und die dort lebenden Menschen, die er in den | |
| folgenden Jahren porträtiert. So lässt er in kurzen Kapiteln ein Panorama | |
| entstehen, das von unschätzbaren Wert ist, wenn man wissen will, unter | |
| welchen konkreten Bedingungen die Bewohner des Viertels leben mussten, was | |
| sie arbeiteten, wie sie wohnten, welche politische Einstellung sie hatten | |
| und welche Gewohnheiten sie pflegten. | |
| Elliot Paul gewährt einen Blick hinter die Vorhänge des Privaten. An jenem | |
| Tag „hockten Männer, Frauen und Kinder auf dem Bürgersteig und den | |
| Schwellen ihrer Haustüren und brummten ärgerlich, wenn sie zur Seite gehen | |
| mussten, um ein Taxi vorbeizulassen“. Man erfährt, dass viele Pariser sich | |
| Katzen nur halten, um sie irgendwann zu verspeisen, und dass sie sich mit | |
| dem abgezogenen Katzenfell warm reiben, weil ihre Wohnungen nicht beheizbar | |
| sind. | |
| Man bekommt einen lebendigen Eindruck, wie ärmlich, provinziell, sparsam, | |
| scheu, wie engstirnig, aber auch wie großzügig und manchmal auch trinkfest | |
| die Menschen in dieser schmalen Gasse waren, wo das Bureau de Police kein | |
| Auto besaß, aber immerhin ein Telefon, wo das große Palaver in den Bars nie | |
| verstummte, bevor die Deutschen über die Stadt herfielen. Elliot Paul sind | |
| die Menschen dort ans Herz gewachsen, und das merkt man. Er verliebt sich | |
| in die junge Schauspielerin Hyacinthe, die ihm wunderschöne Briefe nach | |
| Ibiza schreibt, und obwohl erfolgreich, hört sie nicht auf den Rat ihres | |
| Freundes, bleibt in Paris und findet den Tod. | |
| Ein Buch, in dem man sich gern verliert, nicht nur, weil eine bizarre und | |
| schon lange untergegangene Welt wieder lebendig wird, sondern auch, weil | |
| man erfährt, wie sich die politischen Wirren im Alltag der kleinen Welt der | |
| Rue de la Huchette niederschlugen. | |
| 24 Feb 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Klaus Bittermann | |
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